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Titel: Zum Gutachten des Sachverständigenrats: Ein bisschen Selbstkritik, aber sonst nichts Neues

Datum: 11. November 2010 um 9:25 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Das kritische Tagebuch, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Euro und Eurokrise
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Die Gutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung werden zwar immer dicker, doch bei den Empfehlungen wird nur das gedroschene Stroh noch einmal gedroschen. Eine Weiterentwicklung der wirtschaftspolitischen Prämissen und des wirtschaftstheoretischen Denkens auch nach der Krise ist nicht zu erkennen. Obwohl die Empfehlungen in der Vergangenheit nicht zum Erfolg geführt haben und egal wie die wirtschaftliche Realität aussieht, die Ratschläge gleichen sich seit Jahren: Konsequente Fortsetzung der „Strukturreformen“, Sparpolitik auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme, Warnungen vor „überzogenen“ Lohnforderungen.
Es ist die alljährliche Wiederholung des immer Gleichen. Bis auf Peter Bofinger sind die Wirtschaftsweisen nur noch die Lordsiegelbewahrer der herrschenden Lehre. Wolfgang Lieb

Im diesjährigen Gutachten des sog. Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) [PDF – 3 MB] lassen sich durchaus einige Sätze finden, die selbstkritisch sind.

So, wenn etwa eingestanden wird,

  • dass Deutschland im „Vergleich zu anderen EU-Staaten seit dem letzten Jahrzehnt (ein) sehr niedrige(s) Wachstum“ zu verzeichnen hatte (Vorwort III),
  • dass der Umgang mit „systemrelevanten Instituten“ weiterhin ungeklärt ist und dass – trotz einer Fülle von Maßnahmen – das von den Staaten selbst formulierte Ziel, nie wieder in Geiselhaft durch den Finanzsektor genommen zu werden, verfehlt werde, (S. 14, Ziffer 24) und dass die vorgesehene Bankenabgabe zu niedrig sei, um eine Lenkungsfunktion zu entfalten, (S. 15, Ziff.)
  • dass bei den Banken nach wie vor ein beträchtlicher Abschreibungsbedarf bestehe und gerade im deutschen Bankensystem die Bilanzbereinigung und Restrukturierung noch immer sehr zögerlich verlaufe, (S. 14, Ziffer 23)
  • dass von einem „neuen Wirtschaftswunder“ keine Rede sein könne (S. 8. Ziff. 12 oder,
  • dass man nicht vergessen dürfe, dass sich das BIP zur Jahresmitte 2010 noch auf einem Niveau befindet, das zuletzt zum Jahrswechsel 2006/2007 erreicht wurde
  • und immerhin wird darauf hingewiesen, dass Deutschland einen aktiven Beitrag zur Stabilisierung der Wirtschaftsentwicklung des Euro-Raums durch eine langfristige Stärkung seiner Binnennachfrage leisten müsse (S. 12, Ziffer 19).

Die naheliegende Frage, warum Deutschland im letzten Jahrzehnt ein relativ niedriges Wachstum zu verzeichnen hatte, wo doch die Politik weitgehend der Linie der Empfehlungen des SVR gefolgt ist und der Rat selbst die von ihm immer wieder angemahnten „Reformen“ als erfolgreich lobt, stellen sich die „Wirtschaftsweisen“ allerdings nicht. Selbstkritik und Offenheit gegenüber anderen ökonomischen Denkschulen ist ihre Sache gewiss nicht.

Was die Empfehlungen anbetrifft, so konnte man diese alle schon in den letzten Gutachten nahezu deckungsgleich finden. Es wird die ewig gleiche monotone Melodie gesungen:

  • Die „Reformpolitik“ der „vorherigen Regierungen“ sei erfolgreich (S. 2, Ziff. 3).
  • Die Arbeitsmarktreformen mit ihrem Fordern und Fördern hätten „zu dem beachtlichen Aufschwung der Beschäftigung der Beschäftigung in den Jahren vor der tiefen Rezession beigetragen“ (S.2).
  • Mit der Heraussetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 und mehreren Korrekturfaktoren hinsichtlich künftiger Rentensteigerungen seien die wesentlichen Hausaufgaben erledigt (S. 2, Ziff. 3).
  • Die Senkung der Unternehmenssteuern sei richtig gewesen.
  • Die „Schuldenbremse“ sei eine „wichtige finanzpolitische Errungenschaft“ (S. 2)
  • Vor Rückschritten bei den „Reformen“ wird gewarnt.
  • Exit-Strategien im Bereich der Geld- und Fiskalpolitik seien erforderlich.
  • Die öffentlichen Haushalte müssten „entschlossen konsolidiert“ (S. 7) werden, um das Vertrauen in die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu stärken.
  • Die „Reformen“ in den sozialen Sicherungssystemen seien konsequent umzusetzen und zu ergänzen, so etwa den Einstieg in eine einkommensunabhängige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (die Kopfpauschale nennt der SVR „Bürgerpauschale“) (S. 18).
  • Bei den Rentenreformen müsse „politische Standfestigkeit“ bewiesen werden.
  • Die „Anreize“ für Empfänger des Arbeitslosengeldes II, eine Beschäftigung aufzunehmen müssten gestärkt werden.
  • Auf die Freizügigkeitsregeln der EU dürfe man nicht vorschnell reagieren. (Siehe dazu jedoch das Minderheitsvotum von Peter Bofinger S. 297 ff.)
  • Die Tarifpolitik solle das Erreichte nicht durch überzogene Lohnforderungen gefährden und den Verteilungsspielraum nicht voll ausschöpfen (S. 20 Ziff. 41)

Es ist das altbekannte Instrumentarium aus dem Werkzeugkasten des Neoliberalismus.

Untersuchungen, die etwa den Erfolg der Arbeitsmarktreformen bestreiten oder auf die negativen Auswirkungen der Lohnmoderation für das Wachstum hinweisen, werden schlicht ignoriert, weil sie nicht in die vorgegebene Denkschule passen. Warum es die – eingestandenen – niedrigen Wachstumsraten im europäischen Vergleich gab, wird einfach nicht hinterfragt.

Dass die Senkung der Unternehmenssteuern und damit die Gewinnzunahmen nicht zu Investitionen hierzulande, sondern bestenfalls anderswo oder gar in Finanzspekulationen gemündet sind, bleibt ein Tabu. (Siehe dazu das Minderheitenvotum von Bofinger unten.)

Eine Diskussion darüber, dass die „Schuldenbremse“ das Ziel einer aktiven staatlichen Zukunftsvorsorge für unsere Volkswirtschaft gefährden könnte [PDF – 32 KB], weil öffentliche kreditfinanzierte Investitionen konjunkturpolitisch notwendig sein könnten, wird verweigert. Genauso wenig wird die Erfahrung zur Kenntnis genommen, dass Sparabsichten nicht mit Sparerfolgen gleichzusetzen sind und die effektivste und wirtschaftlich sinnvollste Sparpolitik eine vernünftige Konjunkturpolitik ist. Den „Sachverständigen“ ist stattdessen gerade umgekehrt die „Exit-Strategie“ im Bereich der Fiskalpolitik das oberste Gebot.

Als Konsolidierungsstrategie kommen etwa Steuererhöhungen bei der Vermögens- oder Erbschaftssteuer gar nicht erst ins Blickfeld. Es wird schon als Einsicht in die Realität dargestellt, wenn darauf hingewiesen wird, dass die „Spielräume für weitreichende Steuerentlastungen“ in der laufenden Legislaturperiode „sehr begrenzt“ seien (S. 16 Ziff. 31). Somit bleibt fürs Sparen nur der weitere Abbau der solidarisch finanzierten sozialen Sicherungssysteme, also eben die Kopfpauschale bei der Krankenversicherung und weitere Einschnitte bei der gesetzlichen Rente. Ob es überhaupt eine Realität dafür gibt, dass die Menschen bis 67 arbeiten können, interessiert nicht.

Für den Arbeitsmarkt werden nicht etwa Vorschläge gemacht, wie neue (nicht prekäre) Arbeitsplätze durch eine aktive Beschäftigungspolitik geschaffen werden könnten, sondern es geht ausschließlich darum die „Anreize“ (auf deutsch den Druck) auf die Arbeitslosen zu erhöhen, eine Arbeit zu jedem Preis und zu jeder Bedingung anzunehmen. Um diesen Druck zu erhöhen, wird auch vor einer vorschnellen Reaktion (also etwa die Einführung von Mindestlöhnen) auf die 2011 in Kraft tretenden EU-Freizügigkeitsregeln gewarnt. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Risiken erst einmal auf die Arbeitnehmer abgeladen werden. (Siehe dazu jedoch das Minderheitenvotum von Bofinger.)

Es wird also wie in den vergangenen Jahren die alte neoliberale Leier gespielt. Die Misstöne, die dabei in der Vergangenheit herausgekommen sind, werden schlicht überhört.

Als Wachstumsstrategie bieten die 5 Sachverständigen nur zwei Instrumente an, nämlich

  • eine Bildungsoffensive und
  • eine Innovationspolitik, die den Wettbewerb um Entdeckungsverfahren anschieben soll und steuerliche Anreize für Forschung und Entwicklung durch Unternehmen.

Nach einer Empfehlung zu mehr Forschungsmitteln für die Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen sucht man vergeblich.
So sehr ich die Forderung nach einer allgemeinen Anhebung des Bildungsniveaus in Deutschland unterstütze und wie die Sachverständigen die Notwendigkeit, Chancengleichheit, insbesondere für Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern unterstreiche, so frage ich mich, ob nun gerade Ökonomen dafür kompetent sind, bildungspolitische Empfehlungen, wie z.B. ein verpflichtendes Vorschuljahr zu geben. Über eine Abschaffung oder auch nur Auflockerung des hoch selektiven dreigliedrigen Hochschulsystems liest man hingegen nichts.

Zur Überwindung der Krise im Euro-Raum folgt der Sachverständigenrat voll und ganz der „harten“ Linie der Bundesregierung:

  • rechtzeitige und wirksame Sanktionen (durch die EU-Kommission und nicht durch den Rat, also den Regierungschefs) gegen Länder mit einer unsoliden Fiskalpolitik,
  • eine integrierte Finanzaufsicht und
  • ein europäischer Krisenmechanismus, der Mitglieder bei gravierenden Störungen der Kapitalmärkte unterstützt, aber Anleger künftig nicht mehr damit rechnen können uneingeschränkt gestützt zu werden.

Ein Verfahren zum Abbau „übermäßiger Ungleichgewichte“ (S. 100) (sprich einen Abbau der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse) wird weiter abgelehnt.

Auch bei der Reform der nationalen und internationalen Finanzarchitektur bieten die Sachverständigen nichts Neues: Die Prozyklität und die Marktstabilität soll durch Eigenkapitalpuffer gestärkt werden (S. 136). Man forderte eine integrierte und handlungsfähige europäische Finanzaufsicht. Beim Umgang mit systemrelevanten Institute fällt den Gutachtern nicht mehr als eine bessere Regulierung außerbörslich gehandelter Finanzprodukte, eine Bankenabgabe oder ein höherer Eigenkapitalanteil ein.
Dies zeigt eher Rat- oder Hilflosigkeit gegenüber den Bankern.

Nach dem Motto, wer bietet mehr, prognostiziert der Sachverständigenrat einen noch höheren Anstieg des Bruttoinlandsprodukts als die Bundesregierung und die Konjunkturforschungsinstitute für das laufende Jahr, nämlich auf 3,7 Prozent und einen Rückgang auf 2,2 Prozent im Jahr 2011.

Auf die Treffsicherheit dieser Prognosen sollte man sich allerdings nicht verlassen, wie Professor Sell in einer Grafik der letzten 10 Jahre darstellt.

Grafik von Stefan Sell: Prognosen des Sachverständigenrats und Realität

Quelle: Stefan Sell

Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt wird zwar eingestanden, dass „zum günstigen Ergebnis“ auch „ein statistischer Effekt“ beigetragen habe (S. 19 Ziff. 39), aber letztlich schließen sich die Sachverständigen den allgemeinen Jubelmeldungen an und konstatieren eine gleichzeitige Zunahme von Arbeitszeit und Erwerbstätigkeit.
Die Qualität der Arbeitsplätze die entstanden sind, wird allerdings nicht weiter problematisiert. Ob es sich dabei um Leih- oder Teilzeitarbeit handelt oder wie es mit der stillen Reserve steht, interessiert offenbar nicht.
Von einem „deutschen Arbeitsmarktwunder“ könne allerdings keine Rede sein, denn der robuste Verlauf der Erwerbstätigkeit beruhe im Wesentlichen auf einer unerwarteten „Hortung von Arbeitskräften“ in Form einer „massiven Reduktion der Arbeitszeit“ (S. 20 Ziff. 40)

Beim Steuerrecht raten die Sachverständigen zu einer vollständigen Abschaffung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes um damit den Regelsatz der Umsatzsteuer von 19 auf 16,5% zu senken. Die Umverteilungseffekte zu Lasten der unteren Einkommensbezieher (verminderte Umsatzsteuer z.B. auf bestimmte Lebensmittel) werden in Kauf genommen. (S. 17, Ziffer 32)
(Siehe dazu allerdings das ablehnende Minderheitenvotum von Peter Bofinger (S. 226 ff.)

Beim Ersatz der Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil der Gemeinden an der Umsatzsteuer drücken sich die „Wirtschaftsweisen“ um einen eindeutigen Rat herum (S. 17, Ziff. 32)

Aufgrund einer abgeschwächten globalen Konjunktur sowie auslaufenden fiskalischen Stützungsmaßnahmen werde sich das wirtschaftliche Expansionstempo Deutschlands nicht halten lassen (S. 23). Wie schon die Konjunkturforschungsinstitute setzen die Sachverständigen im kommenden Jahr auf die Privaten Konsumausgaben und auf Ausrüstungsinvestitionen.
„Der robuste Arbeitsmarkt, ein niedriges Zinsniveau und günstige Finanzierungsbedingungen könnten die Weichen für ein Anziehen des privaten Konsums und der Bauinvestitionen stellen. Nachholbedarf wird ebenfalls bei den Ausrüstungsinvestitionen gesehen.“ (S. 46, Ziff. 90) (Man beachte die vorsichtige Formulierung.)

Grafik: Wirtschaftliche Eckdaten für Deutschland

Wie allerdings die privaten Konsumausgaben um 1,5% steigen sollen, wenn der SVR selbst weiterhin moderate Lohnabschlüsse fordert und das Lohnumping durch die Zunahme von Leih- und Teilzeitarbeit, durch den Lohndruck über Hartz IV und durch einen sich weiter ausdehnenden Niedriglohnsektor steigen wird, das bleibt das Mysterium der Wirtschaftsweisen. Zumal sie zusätzlich noch davon ausgehen, dass die Sozialabgaben für die Arbeitnehmer steigen werden.

Hier ein Blick auf die Entwicklung der Lohnstückkosten im Vergleich zu den europäischen Problemländern:

Grafik: Entwicklung der Lohnstückkosten

Die „Wirtschaftsweisen“ setzen (wie die Konjunkturforschungsinstitute) bei der Binnennachfrage vor allem auf Ausrüstungsinvestitionen (+ 6.0%) und sonstige Anlagen (+ 6.5%). Warum sollten aber solche Investitionen in den „Kapitalstock“ weiter so deutlich wachsen, wenn sowohl die Exporte von 15,5 % auf 6,7% zurückgehen und der private Konsum mit einem großen Fragezeichen zu versehen ist.

Siehe die Entwicklung der privaten Konsumausgaben:

Grafik: Entwicklung der privaten Konsumausgaben

Das Mysterium liegt in dem Glauben der Wirtschaftsweisen, dass es auf die Kaufnachfrage der privaten Konsumenten eigentlich gar nicht ankomme, weil die Unternehmen alles selbst machen: Sie konsumieren, investieren und exportieren. Sie sind „die Wirtschaft“ und die Arbeitnehmer sind nur ein lästiger Kostenfaktor, den es möglichst niedrig zu halten gilt. Die Wirtschaft findet nur in der Wirtschaft statt, sie ist sich im Wesentlichen selbst genug und sie braucht zum Wachstum allenfalls noch Nachfrager nach ihren Produkten und Leistungen von außerhalb der eigenen Volkswirtschaft. China, die Schwellenländer werden es schon richten, wenn es schon unsere europäischen Nachbarn und die USA nicht mehr können. (Siehe Heiner Flassbeck „Zum Wahnsinn der Insitute“)

Hinweis auf eines der Minderheitenvoten von Peter Bofinger:
Die Mehrheit des SVR ist der Auffassung, dass von der Lohnmoderation in Deutschland kein destabilisierender Einfluss auf die anderen Mitgliedsländer des Euro-Raumes ausgegangen sei und das weder über stärkere Lohnerhöhungen noch über eine expansivere Fiskalpolitik ein Beitrag zum Abbau der Ungleichgewichte in der Europäischen Währung geleistet werden könne. Die einzig sinnvolle Politikoption bestehe in einer konsequenten Fortführung von Strukturreformen, um die Wachstumsperspektiven zu stärken und damit über die Binnennachfrage positiv auf die externe Nachfrage in den Defizitländern zu wirken.

Das Mitglied Peter Bofinger vertritt dazu eine abweichende Meinung. Ich zitiere in Auszügen, es lohnt sich aber für unsere Leserinnen und Leser die S. 123 ff. zu lesen:

Für die Analyse des Entstehens der Ungleichgewichte innerhalb des Euro-Raums kommt dem Einfluss der Lohnentwicklung eine zentrale Bedeutung zu…

Betrachtet man für Deutschland die tatsächliche Entwicklung der entsprechenden Nachfragekomponenten und der Beschäftigung im zurückliegenden Jahrzehnt, könnte die Divergenz zwischen Modell und Realität kaum größer sein. In den Jahren der Lohnmoderation ging die Beschäftigung gemessen an den geleisteten Arbeitsstunden der Erwerbstätigen zurück…

Ganz im Gegensatz zu den Ergebnissen von NiGEM (des zugrunde gelegten Rechenmodells. WL) war der Export die einzige und zudem eine besonders starke Triebkraft der deutschen Wirtschaftsentwicklung. In der Spitze lagen die Exporte um rund 70 vH über dem Ausgangswert des Jahres 2000 und sie dürften dabei auch als Hauptursache für die Belebung der Investitionstätigkeit in den Jahren 2007 und 2008 anzusehen sein…

Im zurückliegenden Jahrzehnt, also in den Jahren 2001 bis 2010, hat sich dieses Bild ganz erheblich verändert. Während die Komponenten der Binnennachfrage in der Vergleichsgruppe weiterhin nach oben gerichtet waren, wenn auch mit einer gewissen Abschwächung gegenüber den 1990er-Jahren, kam es in Deutschland nahezu zu einer Stagnation nicht nur der Privaten Konsumausgaben, sondern der inländischen Verwendung insgesamt. Trotz der starken Exportdynamik konnte das nicht verhindern, dass die durchschnittliche Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts merklich hinter dem Anstieg der Vergleichsgruppe zurückblieb. Auch bei der Beschäftigungsentwicklung nahm der Rückstand gegenüber der Vergleichsgruppe zu…

Neben den Auswirkungen der deutschen Vereinigung, die das Ergebnis in den 1990er-Jahren zugunsten Deutschlands und danach zu dessen Lasten beeinflusst haben, dürfte dieser Regimewechsel wesentlich auf die in der letzten Dekade speziell in Deutschland praktizierte Strategie der Lohnmoderation zurückzuführen sein. Sie wurde wirtschaftspolitisch insbesondere „durch die einschneidenden Reformen am Arbeitsmarkt gefördert“ (Deutsche Bundesbank, 2010). Zur Strategie der Senkung der Lohnkosten, die in der Regel als Politik zur Verminderung der Lohnnebenkosten propagiert wurde, zählten zudem im Jahr 2005 die Verschiebung der Parität bei den Krankenversicherungsbeiträgen zulasten der Arbeitnehmer sowie im Jahr 2007 die deutliche Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, die mit einer Erhöhung der Umsatzsteuer verbunden war. Als weitere zentrale Elemente einer konsequenten wirtschaftspolitischen Strategie der Lohnmoderation ist der Verzicht auf einen allgemeinen, flächendeckenden Mindestlohn, der in den meisten anderen Ländern üblich ist, ebenso zu nennen wie die Flexibilisierung der Leiharbeit im Jahr 2004…

Die Lohnzurückhaltung in Deutschland während der Phase 2001 bis 2010 ist daran abzulesen, dass die Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer im Euro-Raum (ohne Deutschland) um durchschnittlich 2,8 vH jährlich stiegen und damit nur etwas geringer als in den 1990er-Jahren, während sie sich in Deutschland nur noch um 1,0 vH erhöhten. Da damit nicht einmal ein vollständiger Ausgleich für die Preissteigerungen gewährt wurde, ist es nicht überraschend, dass bei rückläufigen realen Brutto- wie Nettolöhnen je Arbeitnehmer der private Konsum über ein ganzes Jahrzehnt nahezu stagnierte. Dass sich das insgesamt gesehen selbst für Deutschland nicht ausgezahlt hat, erkennt man an der unterdurchschnittlichen Zuwachsrate der Beschäftigung und des Bruttoinlandsprodukts in dieser Dekade…

Insgesamt zeigt der längerfristige Vergleich, dass sich die deutsche Wirtschaft am Ende der 1990er-Jahre durchaus nicht in einer Verfassung befand, bei der es – insbesondere unter Berücksichtigung des großen Schocks der deutschen Vereinigung – angemessen gewesen wäre, vom „kranken Mann Europas“ zu sprechen. Dies ist nicht zuletzt daran abzulesen, dass die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Jahr 2000 höher lag als in allen Folgejahren, einschließlich des noch ganz im Zeichen des weltweiten Booms stehenden Jahres 2008. Von einer „katastrophalen Lage am Arbeitsmarkt“ (Ziffer 184) kann somit keine Rede sein, zumal das Jahr 2000 auch bei der Arbeitslosigkeit nicht grundsätzlich schlecht abschneidet. In Westdeutschland waren damals 2,4 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, das war kaum mehr als im Jahr 2008 mit 2,3 Millionen (einschließlich der Personen, die allein wegen § 16 Abs. 3 SGB III und § 53a Abs. 2 SGB II nicht arbeitslos sind, im Jahr 2000 jedoch noch zu den registriert Arbeitslosen gezählt wurden); im Jahr 2010 waren mit 2,4 Millionen mehr Menschen arbeitslos als im Jahr 2000 (bei identischer Abgrenzung)…

Für die Europäische Währungsunion sind von der deutschen Lohnmoderation eindeutig negative Effekte ausgegangen. Es muss einen Wirtschaftsraum destabilisieren, wenn die Binnennachfrage im größten Mitgliedsland über ein ganzes Jahrzehnt hinweg nahezu stagniert. Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man einmal unterstellt, dass die anderen Mitgliedsländer dieselbe Politik verfolgt hätten. Bei einer insgesamt stagnierenden Binnennachfrage des Euro-Raums wäre die Zuwachsrate der deutschen Exporte, die zu über 40 vH in Länder der Währungsunion gehen, deutlich geringer ausgefallen. Die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft waren daher in diesem Umfang nur möglich, weil sich die anderen Länder gerade nicht so verhalten haben, wie das von der Mehrheit der deutschen Ökonomen für richtig angesehen wird…

Die gravierende Investitionsschwäche sollte vor allem jene Ökonomen nachdenklich stimmen, die sich von einer Politik der Lohnzurückhaltung verbunden mit Steuersenkungen und Strukturreformen eine größere Investitionsbereitschaft der Unternehmen versprochen hatten. Betrachtet man die gesamtwirtschaftliche Vermögensentwicklung, ist gut zu erkennen, dass diese Strategie – selbst im Krisenjahr 2009 – zu sehr hohen Gewinnen und damit ungewöhnlich starken Vermögenszuwächsen bei Unternehmen und Banken geführt hat (Schaubild 34). Es kam somit zu einer „Flut von Ersparnissen“ („savings glut“), die jedoch nicht auf höhere Ersparnisse von privaten Haushalten aufgrund der Demografie zurückzuführen ist; in der Phase von 1991 bis 2000 war die Sparquote der privaten Haushalte mit durchschnittlich 11,0 vH höher als mit 10,6 vH in den Jahren 2001 bis 2009…

Im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Reformen zu mehr Investitionsbereitschaft führen, ist der größte Teil der gesamtwirtschaftlichen Ersparnis jedoch in der Form von Netto Geldvermögen gehalten worden. Zusammen mit einer abnehmenden Investitionsbereitschaft der privaten Haushalte erklärt dies den großen Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz. Da die hohen Gewinne zu einem erheblichen Teil im Bankensystem investiert wurden, verfügten die Banken bis zum Ausbruch der Krise über so hohe Mittelzuflüsse, dass sie sich sehr großzügig bei der Kreditvergabe im Ausland verhielten. Die Auslandsforderungen der deutschen Banken gegenüber den Mitgliedsländern der Währungsunion haben sich von 326 Mrd. Euro im Januar 1999 in der Spitze auf bis 1.201 Mrd. Euro (November 2008) erhöht. Auf diese Weise hat die deutsche Lohnmoderation ebenfalls zur Instabilität in der Währungsunion mit beigetragen…

Der einzige Vorschlag der Mehrheit, der zum Abbau des Überschusses der Leistungsbilanzgleichgewichts beiträgt, ist ein Ausbau der wachstumswirksamen öffentlichen Infrastruktur durch Investitionen in Bildung und Forschung sowie Verkehrsinfrastruktur. Würden solche Maßnahmen über einen längeren Zeitraum durch eine zusätzliche staatliche Kreditaufnahme finanziert, könnte der Staat einen wichtigen Beitrag zur Verminderung der Investitionsschwäche leisten. Er würde damit zugleich dafür sorgen, dass die Geldersparnisse, die zur Sicherung des Lebensstandards der älteren Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten gebildet werden, rentierlicher investiert werden, als dies im letzten Jahrzehnt geschehen ist. Leider lässt es die Mehrheit völlig offen, wie diese zusätzlichen Investitionen finanziert werden sollen, da sie keinen Grund sieht, Abstriche bei der „maßvollen Konsolidierung in Deutschland“ zu machen.

Im Einklang mit vielen ausländischen Institutionen und Ökonomen hält es die Mehrheit für zielführend, die Binnennachfrage über weitere „Strukturreformen“ in Deutschland zu beleben. Dieser Therapievorschlag erscheint wenig überzeugend, da Deutschland im letzten Jahrzehnt eine Vielzahl solcher Maßnahmen umgesetzt hat und es dadurch – wie erwähnt – bei einer bis zuletzt undynamischen Binnennachfrage zu immer größeren Finanzierungsüberschüssen des privaten Sektors gekommen ist. Es ist deshalb nur schwer nachzuvollziehen, wieso von den jetzt noch ausstehenden und von der Mehrheit nicht näher spezifizierten Reformen so starke Effekte ausgehen, dass sie eine jährliche Netto-Geldvermögensbildung des privaten Sektors von 200 Mrd. Euro (im Krisenjahr 2009) nennenswert reduzieren könnten…

Für die Mehrheit stellt eine „expansive Lohnpolitik“ keinen geeigneten Beitrag zur Stimulierung der Binnennachfrage und damit zum Abbau der Ungleichgewichte dar. Dabei muss jedoch klar definiert werden, was man unter einer expansiven Lohnpolitik versteht. Zur Stärkung der Binnennachfrage in Deutschland ist es erforderlich, dass es nach einem Jahrzehnt der Lohnmoderation wieder zu Lohnsteigerungen kommt, bei denen die Reallöhne im Gleichschritt mit der Produktivitätsentwicklung angehoben werden. Eine in diesem Sinne verstandene expansive Lohnpolitik liegt derzeit allen Prognosen für das Jahr 2011 zugrunde, die deshalb durchweg für das Jahr 2011 die stärkste Zuwachsrate für die Privaten Konsumausgaben seit dem Jahr 2001 prognostizieren…

Für den Euro-Raum besteht die größte Gefahr darin, dass in allen Mitgliedsländern gleichzeitig eine Politik der Haushaltskonsolidierung und der Lohnmoderation betrieben wird. Dies könnte in eine deflationäre Entwicklung münden, wie sie in Japan seit Mitte der 1990er-Jahre zu beobachten ist, und damit die Stabilität des Systems insgesamt gefährden. Als größtes Mitgliedsland, das zugleich aufgrund seiner Exportorientierung ein besonderes Interesse am Fortbestand der Währungsunion haben sollte, muss sich Deutschland fragen, auf welche Weise es dazu beitragen kann, diese schwierige Phase für den Euro-Raum zu bewältigen…

Alle Prognosen für das Jahr 2011 zeigen, dass es mit einer Abkehr von der Politik der Lohnmoderation erstmals zu einer echten Belebung des privaten Verbrauchs kommen wird, die eine wesentliche Stütze für das Wachstum in Deutschland darstellen wird. Mit zusätzlichen staatlichen Investitionen würde die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft verbessert und es gingen davon spürbare Nachfrageimpulse auf Deutschland und die anderen Mitgliedsländer aus…Bei den historisch niedrigen Zinsen für deutsche Staatsanleihen dürfte es nicht schwer sein, rentierliche öffentliche Investitionsprojekte zu identifizieren. Mit der Abschaffung der Abgeltungsteuer auf Zinseinnahmen und der Rückkehr zu einer regulären Besteuerung dieser Einkünfte würde der Staat nicht nur die Investitionstätigkeit im Vergleich zur Geldersparnis fördern, er könnte auf diese Weise auch noch zusätzliche Steuereinnahmen erzielen.

Nachtrag: Für alle, die an Statistiken und Grafiken interessiert sind, ist das Gutachten eine gute Quelle.


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