Ein westfälischer (Schul-)Frieden

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Der gestern zwischen SPD/Grünen und der CDU erzielte „Schulkompromiss“ [PDF – 2 MB] wird gefeiert wie der Westfälische Frieden, mit dem der Dreißig Jährige Krieg beendet wurde. Ein Stück weit trifft der Vergleich sogar zu, denn seit einem Volksbegehren über den ersten Anlauf zu einer „kooperativen Schule“ im Jahre 1978, herrschten heftige Auseinandersetzungen über das Schulsystem in diesem Lande, einem der wenigen verbliebenen Herzstücke der Landespolitik. Zwar wurde die Gesamtschule eingeführt und leider auch ständig bekämpft, aber am dreigliedrigen Schulsystem hat sich letztlich nichts geändert. Die Hauptschule war in Art. 12 der Landesverfassung festgeschrieben und keine Regierungsmehrheit seit über 30 Jahren konnte diese Barriere überwinden. Insofern ist die Möglichkeit der Einführung eines „Sekundarschule“ ein Fortschritt und vielleicht eine Chance. Doch mehr als eine Hoffnung besteht nicht. Von Wolfgang Lieb

Bisher hieß es in der Landesverfassung: „Die Volksschule umfasst die Grundschule als Unterstufe des Schulwesens und die Hauptschule als weiterführende Schule.“ Künftig soll diese Bestimmung lauten: „Das Land gewährleistet in allen Landesteilen ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Bildungs- und Schulwesen, das ein gegliedertes Schulsystem, integrierte Schulformen sowie weitere Schulformen umfasst.“

Der Kompromiss ist in jedem Fall ein deutlicher Rückschritt gegenüber dem bisherigen schon nur als Kompromiss zu verstehenden Modell eines zweigliedrigen Schulsystems mit einer „Gemeinschaftsschule“ (die ja letztlich nichts anderes als eine Gesamtschule ist) und dem Gymnasium. Der jetzt gefundene Kompromiss besteht letztlich darin, dass zum bisherigen dreigliedrigen Schulsystem aus Haupt-, Realschule und Gesamtschule nebst Gymnasium nunmehr noch eine weitere, fünfte Schulform, die „Sekundarschule“ hinzukommt. Das kann man freundlicherweise Schulvielfalt nennen, man kann aber mit dem gleichen Recht von einer Zunahme des Schul-Wirrwarrs sprechen.

Die CDU hat sich durchgesetzt, dass es auch noch in den nächsten 12 Jahren im Lande noch Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien geben kann und Rot-Grün setzt die Hoffnung darauf, dass sich durch demografisch bedingten Schülerrückgang und verändertes Elternwahlverhalten die Hauptschule als „Restschule“ von selbst auflöst. Dafür gibt es einige Anzeichen, denn nicht zuletzt haben auch Bürgermeister in CDU-regierten Gemeinden mangels Masse für eine lokale Hauptschule (nur noch 13% der Schüler besuchen eine Hauptschule) ihre bisher starrköpfigen und konservativen Parteioberen dazu gedrängt, nicht mehr dogmatisch am dreigliedrigen Schulsystem festzuhalten.

Von Landesseite soll jedenfalls keine Schulform abgeschafft werden. Und genau daran könnten viele Hoffnungen von Rot-Grün platzen. Und zwar in mehrerlei Hinsicht.

Eine noch völlig ungeklärte Frage ist, wie es denn zur Gründung von „Sekundarschulen“ kommen kann. Sie soll möglich sein, wenn hierfür ein Bedürfnis besteht (Schülerzahlentwicklung und Befragung der Grundschuleltern).

Bedeutet das aber einen Schutz vor Getto-Hauptschulen für Bildungsbenachteiligte? Werden sich die Schulkonferenzen von bisherigen Realschulen nicht gegen die Zusammenführung mit einer Hauptschule zu einer „Sekundarschule“ stemmen? Zumal an Standorten, wo neben dem Gymnasium die letztverbliebene Schule möglicherweise zu einer „Sekundarschule“ umgewandelt wird. Was wäre diese „Sekundarschule“ in diesem Fall aber anderes als eine Hauptschule unter neuer Firma? Was änderte sich, wenn eine Hauptschule und eine Realschule nur organisatorisch in eine „Sekundarschule“ zusammengefasst werden, die Teilstandorte aber de facto (kooperativ) als Haupt- und Realschule weitergeführt werden?

Das ganze Modell der „Sekundarschule“ hätte nur Erfolg, wenn die Schulträger (in der Regel die Kommunen) entscheiden würden, alle Hauptschulen abzuschaffen. Ob und wie oft das gelingt ist eine offene Frage.

Von Rot-Grün wird es als Erfolg für längeres gemeinschaftliches Lernen und damit für eine Verbesserung der Chancengleichheit von sozial benachteiligten Kindern betrachtet, dass in den Jahrgängen 5 und 6 der „Sekundarschule“ „gemeinschaftlich und differenzierend zusammen gelernt“ werde. Wenn ich den Kompromiss richtig gelesen und verstanden habe, gilt das gemeinschaftliche Lernen aber nicht für die Kinder die sich aufs Gymnasium absetzen. Sie werden offenbar nach wie vor ab dem vierten Jahrgang getrennt und können ihr Bildungsziel Abitur anstreben.

Gerade diese Durchlässigkeit bis zum Abitur wird aber (im Unterschied zur Gemeinschaftsschule) der neuen „Sekundarschule“ verbaut. Sie ist nur über einen Schulwechsel auf ein Gymnasium, einer Gesamtschule oder auf ein Berufskolleg möglich. Eine sehr hohe Hürde. Wie soll eine dafür unerlässliche Kooperation einer Vielzahl unterschiedlicher Schulen zustande kommen und funktionieren? Müssten da nicht Lehrpläne aufeinander abgestimmt oder sogar ein Lehreraustausch zwischen den unterschiedlichen Schulen stattfinden?

Die gesamte künftige Entwicklung des Schulwesens in Nordrhein-Westfalen ist also nicht vom politischen Willen des Gesetzgebers gesteuert, sondern dem guten Willen vor Ort überlassen.

Hinter dem Streit um die verschiedenen Schulformen steht ja nicht – wie es immer wieder gesagt wird – eine dogmatische Strukturdebatte, sondern es geht um eine möglichst optimale Förderung der leistungsstarken und der leistungsschwächeren Schüler und vor allem auch um die Überwindung eines Schulsystems, das – im Vergleich mit anderen entwickelten Ländern – die größten sozialen Benachteiligungen fortschreibt. Wenn man die (bei aller Problematik in der Sache, in punkto sozialer Selektion aber zutreffende) PISA-Kritik am deutschen Schulsystem ernst nimmt, kann man angesichts dieses Kompromisses nur ratlos mit dem Kopf schütteln.

Das Risiko einer Gettobildung sozial und bildungsmäßig benachteiligter Schüler ist durch einen zusätzlichen Schultyp nicht gebannt, im Gegenteil es wird sogar größer. Aber selbst wenn es an vielen Orten zur neuen „Sekundarschule“ kommen sollte, führt das nicht ohne weiteres zu einer individuellen Stärkung der Stärken und zu einer Förderung von Schwächen der einzelnen Schüler, wenn in getrennten Bildungsgängen (innerhalb einer Schule) nur kooperativ (d.h. also in einem Realschulgang und in einem Hauptschulstrang) unterrichtet wird.

Fazit: Es ist mit dem nordrhein-westfälischen Schulkompromiss eine zusätzliche kleine Tür zu einem etwas stärker integrierten Schulsystem aufgemacht worden. Wie viele Schüler und ihre Eltern sich durch diese Tür zu mehr Chancengleichzeit hindurchzwängen können, wird sich vielleicht erst im Jahre 2023 zeigen, solange eben dieser „Schulfrieden“ zwischen Rot-Grün und CDU vereinbart ist. Ruhe an der Schulfront ist für viele Lehrer und Eltern allein schon ein Erfolg. Aber mehr als hoffen, dass es eine Verbesserung für die Schüler gibt, kann man nach diesem Schulkompromiss nicht.

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