Buchbesprechung: Cornelia Heintze, Wohlfahrtsstaat als Standortvorteil. Es gibt in Gestalt der skandinavischen Länder eine erfolgreiche Entwicklungsalternative zum neoliberal-angelsächsischen Weg.

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Ein Ranking, das die tatsächlichen Erfolge wohlfahrtsstaatlicher und neoliberaler Strategien in den letzten Jahrzehnten bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit miteinander vergleicht und dabei zu dem Ergebnis kommt, dass die skandinavischen Länder einen Entwicklungspfad repräsentieren, bei dem Erfolge auf einem Gebiet nicht mit der Vernachlässigung von anderen wichtigen gesellschaftlichen Problemstellungen erkauft werden müssen.

Wir lesen sie ja regelmäßig, die Rankings der Bertelsmann Stiftung, von der OECD, der Weltbank oder von den sonstigen Think-Tanks neoliberaler Reformen. Überall landet Deutschland am Tabellenende. Entscheidend sind dabei meist nicht nur die objektiven Wirtschaftsdaten, sondern wie weitgehend Arbeitskosten gesenkt wurden, wie gering die Steuer- und Abgabenquote ist, wie gering die Staatsaugabenquote (inklusive Sozialversicherungen) ist oder wie hoch der Grad an Arbeitsmarktflexibilität ist. Es werden also vor allem die Kriterien miteinander verglichen, die nach dem neoklassischen Marktparadigma als Erfolgsrezepte gelten. Kein Wunder also, dass Länder, die eher den neoliberal-angelsächsischen Weg gehen, dabei im vorderen Feld der angeblich Erfolgreichen landen.

Cornelia Heintze vergleicht in ihrer studierenswerten, praxisorientierten Studie nicht den Erfüllungsgrad des eingesetzten angebotsorientierten ökonomischen Instrumentariums, sondern die tatsächlichen Erfolge, die neoliberal-angelsächsische im Vergleich zu wohlfahrtsstaatlichen Strategien bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in den letzten Jahrzehnten erzielt haben. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin geht darüber hinaus den Fragen nach, ob weniger Arbeitslosigkeit die Hinnahme von mehr sozialer Ungleichheit bedingt oder auch sonst Unvereinbarkeiten, etwa zwischen ökologischen und ökonomischen Zielen bestehen.

Vergleicht man einmal die Behauptung der Anhänger der neoklassischen Lehre, dass eine beschäftigungspolitische Kausalität zwischen niedrigen Lohnkosten sowie längeren Arbeitszeiten und Erfolgen auf dem Arbeitsmarkt bestünde, so liefern die von Heintze akribisch zusammengetragenen empirischen Daten hierfür keine Bestätigung. Im Gegenteil: In 60% der beschäftigungspolitisch erfolgreichen Länder wie etwa Norwegen, Schweden, Neuseeland oder darüber hinaus in den Niederlanden oder Portugal war es den Gewerkschaften überwiegend möglich, den durch das Produktivitätswachstum vorgegebenen Verteilungsspielraum für Reallohnsteigerungen in ungefähr gleicher Höhe oder sogar darüber hinaus zu nutzen. Lediglich in Irland blieben die Arbeitseinkommen hinter der Produktivität zurück. Bei zwei Drittel der beschäftigungspolitisch weniger erfolgreichen Ländern, wie vor allem Deutschland, ergibt sich ein umgekehrtes Bild – dort wurde der durch die Produktivität erzielte Verteilungsspielraum überwiegend nicht oder nur bescheiden genutzt.

Heintze ist in ihren Schlussfolgerungen vorsichtiger als wir es von denjenigen Rankings kennen, wo Deutschland immer am Schluss landet. Sie sagt nur, dass es Beispiele für die eine, wie für die andere Entwicklung gebe, dass die Zusammenhänge „pfad-abhängig“ seien und von vielen anderen „Basisinstitutionen“ in den jeweiligen Ländern abhängig seien. Eines könne man aber ziemlich eindeutig feststellen, dass das neoklassische Modell der Senkung bzw. der Zurückhaltung bei den Arbeitskosten an der Wirklichkeit vorbei gehe. Deutschland könne jedenfalls den internationalen Wettbewerbsdruck nicht dadurch mindern, dass es durch eine Politik der relativen Lohnsenkungen den Platz in der Spitzengruppe der globalen Lohnhierarchie räume.

Auch ein Zusammenhang zwischen der Höhe der Steuer- und Abgabenquote und Erfolgen bei der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik sei nicht erkennbar. In der Gruppe der erfolgreichen Länder fänden sich sowohl Länder, deren Abgabenquote deutlich über dem EU-Durchschnitt (etwa die skandinavischen Staaten) als auch Länder die darunter lägen (z.B. die angelsächsischen Länder oder Portugal). Wenn gegenläufige Merkmalskombinationen in ungefähr gleich viel Länder anzutreffen seien, so spräche dies jedenfalls gleichfalls gegen die immer wieder behauptete neoliberale Kausalitätsannahme, dass eine niedrige Steuer- und Abgabenquote zu mehr Beschäftigung und Wachstum führe.

Der Parole „Steuern runter, Arbeitsplätze hoch“ – wie noch jüngst auf den Wahlplakaten der Konservativen – sei man in Deutschland seit zwanzig Jahre gefolgt, obwohl sie sich bis heute auf keinerlei empirische Daten stützen könne. Handfeste Beweise gebe es hingegen für einen Verfall öffentlicher Investitionen, für eine Vernachlässigung wichtiger Staatsaufgaben (von der Bildung bis zur Kinderbetreuung) und für eine schleichende Erosion der Finanzierungsbasis der öffentlichen Haushalte.

Auch beim Anteil der „Staatsbeschäftigung“ seien die Verhältnisse zwischen den Ländern, die eher dem angelsächsischen Modell folgten oder den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten völlig uneinheitlich. In den nordischen Ländern habe jeder dritte bis vierte Beschäftigte seinen Arbeitsplatz im öffentlichen Sektor, aber selbst in Großbritannien habe die Zunahme der Beschäftigung in den öffentlichen Diensten unter der Labour Regierung einen beachtlichen Anteil an der positiven Beschäftigungsbilanz.

Genauso ließe sich mit der Flexibilität des Arbeitsmarktes „Beliebiges beweisen“.

Cornelia Heintze lässt es nun nicht damit bewenden, dass man Genaues eben nicht wisse oder gar dass beide Entwicklungspfade mit Blick auf die wirtschaftliche Dynamik und Beschäftigung mehr oder weniger zielführend wären. Ihr Fazit ist: Je mehr Zielbereiche einbezogen würden, desto deutlicher trete die Überlegenheit des skandinavischen Modells zutage.

Das neoliberale Modell sei gekennzeichnet durch eine polarisierte Entwicklung, während das wohlfahrtsstaatliche Modell auf einem ganzheitlich-gleichzeitigen Erreichen verschiedener Ziele beruhe.

Bei der Zunahme von Armut und vor allem Kinderarmut gebe es zwar in den angelsächsischen Länder Differenzierungen (etwa im Vergleich zwischen USA und Kanada), die skandinavischen Länder seien jedoch durchgängig egalitärer und am stärksten „in sich geschlossen“. In einer ganzheitlichen Betrachtung – angefangen bei der Arbeits-, Beschäftigungs- und Bildungspolitik über die Entwicklungshilfe-, Gesundheits- und nachhaltigen Haushaltspolitik bis hin zur Umweltpolitik oder der Vermeidung großer sozialer Ungleichheit und einer erfolgreichen Bekämpfung von Korruption – erweise sich das skandinavische Entwicklungsmodell gegenüber dem angelsächsischen Weg als deutlich überlegen. Die Autorin belegt dies wiederum sehr differenziert und abgewogen an Hand einer Vielzahl von Daten und Grafiken.

Obwohl die empirischen Befunde jedermann zugänglich seien, würden die Vorteile des skandinavischen Wohlfahrtsmodells bei uns entweder schlicht negiert oder selektiv so umgedeutet, dass sie das herrschende neoliberale Weltbild bloß nicht tangierten. Eine dritte Reaktion zeige sich vordergründig für einzelne Politikbereiche aufgeschlossen (etwa bei den Bildungsreformen), eine Übertragung von solchen Modellen ins eigene Land würde aber etwa mit dem Hinweis auf die Kleinheit der skandinavischen Länder oder im Hinblick auf die angeblich viel homogenere Bevölkerung dort verweigert.

Die Unterschiede lägen aber weder an der Größe, noch etwa an der unterschiedlichen Ausstattung mit Rohstoffen (Norwegen mit Ölreichtum, aber Schweden mit relativ wenigen Rohstoffen). Der Grund, warum in den skandinavischen Länder auch unter Globalisierungsbedingungen eine wirtschaftlich leistungsfähige, sozial gerechte und ökologisch verträgliche Entwicklung möglich sei, liege in einer „spezifischen Kulturprägung“. Es gebe dort eine hohe Wertschätzung staatlicher Tätigkeit und kollektiver Regelungssysteme. Das Prinzip der sozialen Inklusion wirke wie eine Art Kompass für (viel) staatliches und gleichzeitig (viel) zivilgesellschaftliches Handeln. Familienpolitik etwa stehe im Dienste der „Geschlechterdemokratie“, höhere und auch hochqualifizierte Frauenbeschäftigung ginge einher mit einer hohen Qualität der Kinderbetreuung. Die hohe Integrationsfunktion des skandinavischen Bildungssystems, wo selbst die Königskinder auf eine allgemeine Grundschule gehen, und das hohe Leistungsniveau gilt ja inzwischen als allgemein anerkannt.

Im Gegensatz zum angelsächsischen Kulturkreis wo Freiheit und Solidarität als Gegensätze betrachtet würden, fuße die (durchaus hohe) Entfaltung individueller Freiheit in den skandinavischen Ländern aus einer wechselseitigen Verschränkung von Gerechtigkeit, Gleichheit und Solidarität. Es herrsche eben kein Denkstil der Entgegensetzung bzw. des „Entweder – oder“. Es herrsche eine „Komplimentartiätsbeziehung“ zwischen sozialem Sicherungsniveau und Offenheit für Innovationen. Nur wenn die sozialen Bedürfnisse des Menschen ebenso zur Entfaltung kämen wie die Entwicklung von technischen Potentiale, würde die Entwicklung als nachhaltig betrachtet.

Vergleiche man das Prinzip des „Fordern und Fördern“ etwa zwischen Dänemark und Deutschland, so würden eklatante Unterschiede deutlich: In Dänemark gebe es eine Balance von Fordern und Fördern bei hoher finanzieller Absicherung. Die Arbeitsmarktreformen seien dort nicht in einer Phase der Stagnation sondern in einem Konjunkturaufschwung durchgeführt worden, es habe ein Flankierung durch eine nachfragestimulierende Politik gegeben und darüber hinaus habe auch der Staat neue Arbeitsplätze geschaffen. Dieses „Denken in Prozessen“ fehle bei den Arbeitsmarktreformen in Deutschland komplett.

Könnte man vom skandinavischen Modell des Wohlfahrtsstaates in Deutschland lernen? „Ja und Nein“ meint die Autorin. Eines sei ganz sicher: Die skandinavischen Ländern lieferten die praktische Widerlegung der Behauptung, dass eine soziale Marktwirtschaft in Zeiten der Globalisierung rein nationalstaatlich nicht mehr möglich wäre und man zwangsweise dem reinen Wettbewerbs- und Marktmodell ausgeliefert sei. Lernen könne man auch, dass der in Deutschland seit den 80er Jahren eingeschlagene Reformweg durch falsche Themen und falsche Strategien irregeleitet worden sei.

Anderseits hätten die Typen von Wohlfahrtsstaaten, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausgeprägt hätten, ganz unterschiedliche Wurzeln und Ausbaustufen. Da es sich beim skandinavischen Modell eben um eine spezifische kulturelle Prägung handle, sei es nicht ohne weiteres auf den konservativen Sozialstaat deutscher Prägung übertragbar. Auf dem deutschen Entwicklungspfad spielte der Gedanke der Fürsorge für sozial Schwache und das Subsidiaritätsprinzip staatlichen Handels eine zentrale Rolle. Der Entwicklungsschritt hin zu sozialen Bürgerrechten mit der Expansion öffentlicher Dienstleistungen, sie bei uns nicht gegangen worden

Im Gegenteil es habe in den letzten Dekaden eine deutliche Trendwende zu mehr „Eigenverantwortung“, sprich zur Verlagerung der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme vom öffentlichen auf den privaten Sektor gegeben. Die Einschätzung der Autorin geht dahin, dass ein „Pfadwechsel“ eher in Richtung des angelsächsischen Modells stattfinde. Ein handfester Hinweis ist für sie das Scheitern von Rot-Grün und noch mehr, dass in diesen Parteien nicht der Schluss gezogen werde, dass ihr Scheitern eine zwingende Folge ihrer fehlgeleiteten Politik ist.

Cornelia Heintze hält die ökonomisch Auseinandersetzung mit den neoliberalen Konzepten, wie sie etwa von Albrecht Müller und Peter Bofinger geführt wird, für unerlässlich, sie ist jedoch der Meinung, dass die „nur-ökonomische“ Kritik zu kurz greife, weil sie etwa das ökologisch-ökonomische Spannungsfeld nicht ausreichend einbezöge. Die Kernfrage sei die nach dem zukünftigen „wohlfahrtsstaatlichen Regime“.

Abgesehen davon, dass sie jedenfalls Müller nicht gerecht wird, wenn Cornelia Heintze seine „Reformlüge“ auf das „Nur-ökonomische“ reduziert, wesentlicher Gehalt ist in diesem Buch doch gerade das Politische und die politishen Strategien wie der „Pfadwechsel“ in Richtung angelsächsischem Modell von oben erzwungen wird.

Wie der von ihr gewünschte Kulturwandel hin zu einem „wohlfahrtsstaatlichen Regime“ eingeleitet werden könnte, da bleibt Cornelia Heintze nicht viel mehr als resignative Hoffnung.

Dennoch, dieses Buch ist interessant, faktenreich und hilfreich. Die Studie bietet eine Fülle von Daten und bereitet sie in gut nutzbaren Grafiken auf, die reale Alternativen zur derzeit herrschenden Ideologie und den politischen Rezepten belegen und aufzeigen.

Natürlich bleibt der Vorbehalt, der gegenüber allen „Rankings“ gilt. Vergleiche von Zahlen, Daten und Fakten liefern noch keine Erklärungen und ersetzen schon gar keine theoretische und wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Aber das Ranking von Cornelia Heintze beweist jedenfalls, wie eindimensional die etablierten Rankings sind, die Deutschland wegen seiner angeblichen „Überdehnung“ des Sozialstaates ständig als Schlusslicht einstufen, und das Buch belegt, wie wenig wir uns davon politisch einschüchtern lassen dürfen. Schon allein das ist die Lektüre dieses Buches wert.

Cornelia Heintze, Wohlfahrtsstaat als Standortvorteil, Deutschlands Reformirrweg im Lichte des skandinavischen Erfolgsmodells; Texte zur politischen Bildung Heft 33, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. 2005, ISBN 3-89819-217-2

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