Neujahrsansprache der Kanzlerin: Selbstsuggestion statt Lösungsangebote

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Eine Ansprache ohne Empathie für die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger. Eine Kanzlerin, die die Politik aus der Verantwortung für die „ tiefgreifenden Veränderungen“ nimmt und die, statt Lösungsangebote aus der Krise anzubieten, nur noch ihre eigenen Parolen wiederholt und die Wirklichkeit mit Beschönigungen verdrängt. Wer, wie unsere Kanzlerin, offenbar daran glaubt, dass es Deutschland gut gehe, von dem darf man nicht mehr erwarten, dass er sich um politische Lösungen bemüht, durch die es Deutschland und Europa jemals wieder besser gehen könnte. Von Wolfgang Lieb

Verkrampft und nahezu regungs- und teilnahmslos las die Bundeskanzlerin den Text ihrer Neujahrsansprache vom Teleprompter ab. Bei kaum einem der verlesenen Sätze hatte der Zuschauer den Eindruck als stünde dahinter eine persönliche Empathie, also eine Reaktion auf die Gefühle, auf die Sorgen und Hoffnungen der mit der Rede anzusprechenden Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Genauso distanziert wie die Körpersprache wirkte auch das Gesprochene selbst: Die Menschen und die Politik im Jahre 2011 waren quasi passiv „tiefgreifenden Veränderungen“ ausgeliefert. Die „Schuldenkrise der Staaten“ lastet sozusagen wie das von Merkel genannte Beispiel der „furchtbaren Flutwelle und in der Folge einer verheerenden Reaktorkatastrophe“ wie ein Schicksalsschlag auf uns. Gerade so als hätte die Kanzlerin oder die Politik überhaupt mit den Ursachen der Krise und mit den Fehlschlägen bei ihrer Bewältigung nichts zu tun. Und natürlich ist es nicht die von der Politik ermöglichte und von ganz realen Bankern verursachte Finanzkrise als Ursache der „Schuldenkrise“, die uns „in Atem“ hält. Nein, die Politik wird schlicht aus ihrer Verantwortung für diese „tiefgreifenden Veränderungen“ herausgenommen.

Nicht etwa die europäische Politik sondern „Europa“ – also eine irgendwo abgehobene Institution – befinde sich „in seiner schwersten Bewährungsprobe seit Jahrzehnten“. Für Merkel ist es nicht die Sorge der Menschen, für die hunderte von Milliarden für die Rettung der Banken und für die Spekulation auf den Finanzmärkten gerade stehen zu müssen, die viele umtreibt, sondern die Kanzlerin meint, dass die Leute sich „um die Sicherheit unserer Währung“ die meisten Gedanken machten. Gerade so als wären die meisten Deutschen Devisenhändler, deren Hauptinteresse ein harter Euro ist, weil sie sonst um den Wert ihres in Euro angelegten Geldes bangen müssten.

„Heute nun können Sie darauf vertrauen, dass ich alles daran setze, den Euro zu stärken“, bringt Merkel zum ersten Mal in ihrer Ansprache sich und ihre Politik ins Spiel. Sie erhofft damit wohl einen kollektiven Grundwert der Deutschen zu treffen, nämlich den Kult von der „harten D-Mark“ und sie versucht diesen Mythos auf einen starken Euro zu übertragen. Eine starke Währung geht ihr offenbar über alles, selbst wenn dabei Europa politisch auseinanderbricht. Stärkung der Währung, heißt allerdings nach dem hierzulande herrschenden finanzpolitischen Dogma nichts anderes als Schuldenabbau und Inflationsbekämpfung auf Teufel komm raus. Das ist also der Kern von Merkels Leitvorstellung, unter der Europa „mehr als bisher … zusammenarbeiten“ soll.

„Europa wächst in der Krise zusammen“, stellt Merkel geradezu als Faktum fest. Sie kann damit eigentlich nur meinen, dass sie zusammen mit Sarkozy ganz Europa (mit Ausnahme Großbritanniens) eine Schuldenbremse und einen Sanktionsautomatismus gegen sog. Schuldensünder aufgezwungen hat oder aufzwingen will. Das ist aber nichts anderes als die Übertragung der deutschen finanz- und wirtschaftspolitischen Krisenstrategie auf ganz Europa: eine Agenda-Politik pur, mit Kürzungen der Sozialleistungen, Lohnsenkungen, Privatisierung staatlicher Leistungen oder kurz: die Umsetzung der neoliberalen Parole: Hungert den Staat, das nimmersatte Biest aus.

Insofern ist es auch nur konsequent, dass Merkel ihren früher nur auf Deutschland bezogenen Lieblinssatz aus den letzten drei Neujahrsansprachen (siehe 2008/2009, 2009/2010 und 2010/2011) nämlich, dass Deutschland stärker aus der Krise herauskommen wird, als es in sie hineingegangen sei, schlicht auf ganz Europa überträgt:

„…doch am Ende dieses Weges wird Europa stärker aus der Krise hervorgehen, als es in sie hineingegangen ist.“

Da sind wir nun seit drei Jahren von einer Krise in die andere hineingetaumelt und die Krisengipfel erhöhten ihre Frequenz auf Wochenfrist und unsere Kanzlerin hat nichts anderes zu bieten als diesen hohlen Spruch gebetsmühlenhaft zu wiederholen.

„Stärker aus der Krise herauskommen, als man hineingegangen ist“, diese Parole dürfte von den Redenschreibern Merkels mit ziemlicher Sicherheit als positiv besetzt getestet worden sein, sonst würde man einen solchen Satz nicht geradezu papageienhaft immer wieder nachplappern. Sollte diese Vermutung richtig sein, dann müsste man aber entweder unterstellen, dass die Deutschen an kollektivem Gedächtnisverlust leiden, denn nichts hat sich gebessert seit Beginn der Krise, oder aber umgekehrt: die Kanzlerin baut darauf, dass durch die ständige Wiederholung des Immergleichen die Unwahrheit allmählich zur Wahrheit wird.

Sollte die Kanzlerin tatsächlich an ihren Lieblingsspruch glauben, so ist sie nachweislich aber wiederum nur Opfer einer Selbstsuggestion. Denn wenige Sätze später widerspricht sie sich selbst: Das nächste Jahr werde „ohne Zweifel schwieriger“ werden als das zurückliegende, so bereitet sie uns auf weitere krisenhafte Entwicklungen im neuen Jahr vor. Nichts ist es also damit, dass wir „stärker aus der Krise herauskommen“, im Gegenteil, die Zeiten werden – wie Merkel selbst eingesteht – ohne Zweifel schwieriger, die Wirtschaft wird schwächer, die Finanzprobleme werden noch größer.

Zwischen Unwahrheit und der Wiederholung von Beschönigungen pendelt auch das für Merkel in ihren Neujahrsansprachen übliche Selbstlob:

„Fast alle jungen Menschen haben in diesem Jahr einen Ausbildungsplatz gefunden“, behauptet Merkel und beschönigt damit die Tatsache, dass 76.700 als ausbildungsreif eingestufte Bewerber/innen nicht an Betriebe vermittelt werden konnten und dass selbst nach dem regierungsoffiziellen Berufsbildungsbericht 2011 sich über 10 Prozent aller Auszubildenden oder weit über 150.000 Auszubildende in einer öffentlich geförderten außerbetrieblichen Ausbildungsform befanden.

„Die Zahl der Arbeitslosen ist die Niedrigste seit fast 20 Jahren“, das sagte Merkel schon in ihrer Neujahrsansprache zur Jahreswende 2010/2011. „Es sind so wenig Menschen arbeitslos wie seit 20 Jahren nicht“, wiederholte sie diesmal wieder. Über den „Preis“ den Millionen Arbeitnehmer für diese geschönte Statistik durch Niedriglöhne, Leiharbeit, Mini- und Midijobs oder durch Ein-Euro-Jobs bezahlen müssen, redet Merkel seit Jahren nicht. (Leider brauchen auch wir uns dazu nur zu wiederholen, siehe hier, siehe auch die jüngste Statistik: Deutschland verkommt zum Billiglohnland)

Aus diesen beiden äußerst dürftigen Beispielen folgert die Kanzlerin: „Deutschland geht es gut.“

Hätte sie wenigstens relativierend gesagt, „Deutschland geht es noch verhältnismäßig gut“, dann hätte man Hoffnung schöpfen können, dass noch ein Schimmer von finanz- und wirtschaftspolitischem Realitätssinn bei unserer Regierung vorhanden sein könnte. Doch wer, wie unsere Kanzlerin, offenbar daran glaubt, dass es Deutschland gut gehe, von dem darf man nicht mehr erwarten, dass er sich um politische Lösungen bemüht, durch die es Deutschland und Europa jemals wieder besser gehen könnte.

Und das aus dem Munde einer Politikerin, die allenthalben als die mächtigste in Europa, wenn nicht gar als die „Person des Jahres“ hochstilisiert wird.

Merkel schließt ihre Ansprache mit einem angeblichen Zitat des an seinem Heimatland Deutschland geradezu verzweifelnden Heinrich Heine: “Deutschland – das sind wir selber.” Nachdem ich den Habitus unserer Kanzlerin und den politischen Inhalt ihrer Neujahrsansprache auf mich einwirken ließ, ging mir ein viel bekannteres Heine-Zitat aus den Nachtgedanken durch den Kopf: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, Dann bin ich um den Schlaf gebracht. Ich kann nicht mehr die Augen schließen, Und meine Tränen fließen.“

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