Amok in Erfurt / Teil 3 – Schulen: Verlässliche Orte oder Zulieferbetriebe für Markt und Industrie?

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

Am heutigen Tag vor 10 Jahren lief ein Schüler am Erfurter Gutenberg-Gymnasium Amok und tötete 16 Menschen und sich selbst. Götz Eisenberg hat auf die damaligen schrecklichen Ereignisse zurückgeblickt und danach gefragt, was aus diesem Massaker wirklich gelernt wurde. Lesen Sie heute den letzten Teil seiner Beobachtungen und seinen Schlussfolgerungen. Im Anhang finden Sie eine kommentierte Chronik der zurückliegenden Schulamokläufe.

Schulen: Verlässliche Orte oder Zulieferbetriebe für Markt und Industrie?

Von Götz Eisenberg

Im Zentrum des Appels der Erfurter Schüler und Studierenden stand die Forderung, über das Schul- und Bildungssystem und seine Orientierung am Leistungsprinzip nachzudenken. „Wer infolge der Pisa-Studie meint, es komme nur auf eine Steigerung der Leistung und nicht auf eine Verbesserung der Lernbedingungen an, der sollte Erfurt mitdenken“, hieß es in ihrem Aufruf. In den Wochen und Monaten nach dem Massaker gab es einen breiten Konsens darüber, dass ein Zusammenhang zwischen einem einseitig leistungsfixierten Schulklima und der wachsenden Gewaltbereitschaft von Schülern existiert und dass Schulen der sozialen und emotionalen Entwicklung der Schüler mehr Raum und Zeit zur Entfaltung gewähren sollten. Aber die Konsequenzen aus dem sogenannten Pisa-Schock haben schnell die Schlussfolgerungen aus dem Massaker von Erfurt überlagert und beiseite gedrängt.

Kaum waren die Aufrufe, man müsse „aufeinander zugehen“ und sich „mehr umeinander sorgen“, verklungen, gingen dieselben Leute daran, die Schulen und das ganze Bildungssystem nach Maßgabe betriebswirtschaftlicher Prinzipien zu reformieren. Die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie und ihre Stellung auf dem Weltmarkt, heißt es unisono, seien mehr und mehr abhängig von der Produktion verwertbaren und marktfähigen Wissens. Nachdem Bergwerke und Hochöfen stillgelegt worden sind und der Übergang in die sogenannte „postindustrielle Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft“ vollzogen ist, gelten die Gehirne der nachwachsenden Generationen als wichtigste „Ressource“ – und Bildung ist die Art und Weise, sie zu erschließen und als Produktivkraft des Kapitals nutzbar zu machen. Alles und jedes soll sich im Rahmen einer betriebswirtschaftlichen Rationalität rechtfertigen und definieren und wird einem entsprechenden Kosten-Nutzen-Kalkül unterworfen. Der privatwirtschaftlich verfasste Betrieb ist das Bild, nach dem Kindergärten, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Altenheime und Gefängnisse zu gestalten sind. Wer Schulen an Input-Output-Modellen misst, verwechselt die Produktion eines Autos mit der Förderung kindlicher Entwicklung. Ganze Sektoren der Gesellschaft, in denen es um Lernen, Heilen, die Entwicklung lebensgeschichtlicher Identität geht, müssen ihrer inneren Logik nach, die eine des Lebendigen ist, von der betriebswirtschaftlichen Logik, die eine des Maschinellen und Toten ist, ausgespart und verschont bleiben.

Seit die Bildungs-Ratingagentur Pisa das deutsche Schulsystem quasi auf Ramschniveau heruntergestuft hat, wird ständig an der Leistungsschraube gedreht. Oskar Negt hat angesichts der jüngsten Entwicklungen von der “reellen Subsumption” des Bildungssektors unter das Kapital gesprochen, was so viel bedeutet wie die Kapitalisierung des Lehrens und Lernens in seiner inneren Struktur. Managementmethoden dringen in den Bildungssektor ein, Begriffe wie Evaluation, Qualitätssicherung, Prozessorientierung, Ressourcenoptimierung, Monitoring beherrschen nicht nur die Sprache der Bildungsdiskurse, sondern beginnen, den Schulalltag und seine Zeitstruktur zu durchdringen. Die Schulzeit wird verkürzt, regelmäßig werden Lernstandserhebungen durchgeführt und Rankinglisten erstellt, die die Konkurrenz unter den Schulen und den Druck auf Lehrer und Schüler erhöhen. Schüler sind das „Humankapital von morgen“ und sollen fit gemacht werden für den Markt und „Verwertungsketten“.

Wer nicht mithalten kann, dem droht zeitig die soziale Exklusion. Schon Viertklässler werden, wie Gerhard Matzig unlängst in der Süddeutschen Zeitung schrieb, zu „delirierenden Post-Pisa-Schock-Insassen“ von Grundschulen gemacht, die nicht länger Bildungs- und Lehranstalten genannt werden könnten, sondern „Optimierungs- und Besserungs-Anstalten“. Bereits im zarten Alter von 10 Jahren wird ein ungeheurer Notenstress erzeugt, dessen Bewältigung darüber entscheidet, ob ein Schüler aufs Gymnasium oder wenigstens auf die Realschule wechseln darf, oder auf die Hauptschule und damit auf ein Abstellgleis abgeschoben wird. Eine boomende Nachhilfebranche hat inzwischen die Grundschulen erobert, ehrgeizige Eltern treiben ihre Kinder bereits in einem Alter, in dem wir früher noch gänzlich sorglos und zweckfrei spielen durften, zu Höchstleistungen an. Kein Wunder, dass der Psychopharmaka-Konsum von Kindern in den letzten Jahren deutlich gestiegen ist. Sie stehen unter einem enormen familiären und schulischen Druck, den sie oft ohne Hilfsmittel nicht bewältigen können. Schon Kindern werden mehr und mehr Antidepressiva verabreicht. Der Gebrauch des Ritalin-Inhaltsstoffes Methylphenidat, das zu den Amphetaminen zählt und eine hochwirksame psychoaktive Substanz ist, hat sich in der letzten Dekade rund verzehnfacht. Wie der ins Milchglas gefallene Frosch so lange strampelt, bis aus der Milch Butter geworden ist und er das Glas verlassen kann, zappeln viele Kinder in der vagen Hoffnung, dass jemand kommen möge, der sie hält und beruhigt und so die Bedingungen dafür herstellt, dass sich in ihrem Innern eine angstmindernde und identitätsstiftende psychische Struktur herausbilden kann.

Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder „brav“ sind und funktionieren, aber sie sind nicht bereit, durch Bereitstellung geschützter Räume und persönlichen Einsatz von Nerven und Lebenszeit dazu beizutragen. Sie überlassen die anstrengende Erziehungsarbeit Erzieherinnen und Lehrern und vertrauen ansonsten auf den großen „Bravmacher“ Ritalin, der den Kindern in Form einer zeitgenössischen Schulspeisung täglich verabreicht wird – wie uns seinerzeit Lebertran oder Rotbäckchen. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. Februar 2012 stellt uns Paul und seine Mutter vor. Diese arbeitet in der Werbe-Branche. Ihr Sohn Paul ist ein „anstrengendes Kind“. Die Mutter lässt ihm Ritalin verschreiben. Jetzt ist Paul kein anstrengendes Kind mehr, weder für die Mutter noch für die Lehrer. Und die Mutter fügt hinzu: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und ich möchte, dass meine Kinder ganz vorne mitschwimmen.“

Auf die ihnen von oben und außen auferlegte Leistungskonkurrenz pfropfen die Schüler noch eine horizontale Anerkennungskonkurrenz und Konformitätszwänge auf und machen sich untereinander das Leben schwer – und manchmal unerträglich bis zum Suizid. Die unterdrückte Wut der um ihre Kindheit Betrogenen dreht sich im Kreis und richtet unter ihnen selbst Verheerungen an. Sie lernen, dass sie nur dann nicht zu den „Losern“ gehören, wenn sie bestimmte Konsumgüter vorweisen können und aktiv dazu beitragen, andere auszugrenzen und zu Verlierern zu stempeln. Wo harte Leistungskonkurrenz bis in die seelischen Innenräume eindringt, wo Denken und Verhalten der einzelnen bis ins Unbewusste hinein vom Überlebenskampf bestimmt wird, wo Unbehagen und Wut aber keine eindeutigen Adressaten finden, entsteht eine frei flottierende, diffuse Aggressivität, die in alle möglichen Richtungen geht und sich unter anderem in Mobbing- und Dissing-Attacken untereinander entlädt. Deren bevorzugtes Medium sind die sogenannten sozialen Netzwerke, in denen der Sozialdarwinismus sich austobt und die sich mehr und mehr zu einem digitalen Pranger entwickeln.

In dem Maße, wie Schulen sich als effiziente Zulieferbetriebe für Industrie und Markt begreifen, werden sie verschärft zu Orten der Konkurrenz, der Selektion und damit auch der Kränkung und Beschämung. Da gleichzeitig von den Heranwachsenden die Fähigkeit zur angemessenen Kränkungsverarbeitung immer weniger erworben wird, entsteht hier jede Menge schulischer Sprengstoff. Wenn wir solche Entwicklungen zulassen oder gar fördern, werden wir in Zukunft immer damit rechnen müssen, dass eines Tages ein bis dato stiller, unauffälliger Junge einen schwarzen Kampfanzug anzieht, die Waffe seines Vaters aus dem Schrank holt, ins Epizentrum seiner Kränkungen – die Schule – zurückkehrt und sich in aller Öffentlichkeit rächt für seine erlittenen Demütigungen und den Raub seiner Kindheit.

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Gegenwärtig wächst eine Generation heran, die schon in der Wolle mit Sozialdarwinismus eingefärbt ist. Die hinter uns liegenden, von der Praxis des Neoliberalismus geprägten eisigen Jahre haben die Menschen selbst eisig werden lassen und ihre Innenwelt vergletschert. Sie können gar nicht anders, als diese Kälte weiterzugeben und auf ihre Umgebung abzustrahlen. Es macht einen nicht zu unterschätzenden Unterschied, ob man in einer Gesellschaft aufwächst und lebt, in der schwachen und nicht oder weniger leistungsfähigen Mitmenschen solidarisch beigesprungen und unter die Arme gegriffen wird, oder in einer, in der sie der Verelendung preisgegeben und als sogenannte „Loser“ zu Objekten von Hohn und Missachtung werden. Der Siegeszug des Neoliberalismus brachte die umfassende Durchsetzung jener Art von moralischem Darwinismus mit sich, „der mit dem Kult des winner … den Kampf eines jeden gegen jeden und den normativen Zynismus all seiner Praktiken ins Recht setzt“, heißt es in Pierre Bourdieus Schrift Gegenfeuer. Die vom Markt propagierten und für ein erfolgreiches Agieren auf dem ökonomischen Parkett erforderlichen Eigenschaften und Haltungen sind inzwischen in Gestalt von Rücksichtslosigkeit und Rohheit tief in die Poren des Alltagslebens vorgedrungen und haben sich in die Denk-, Affekt- und Wahrnehmungsgewohnheiten und Reaktionsmechanismen der Heranwachsenden eingegraben.

Wohin das führen kann und was für eine Mentalität da systematisch erzeugt wird, illustriert folgende Geschichte: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: „Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär.“ Und sein Freund entgegnet ihm: „Du hast Recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.“

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Um den Sozialdarwinismus unter Jugendlichen am Werk zu sehen, braucht es keine Ausflüge in amerikanische Wälder. Die Wildnis beginnt direkt vor unserer Haustür, man muss nur in die Stadt gehen und Augen und Ohren aufsperren.

Eine blinde Frau durchquert den Park vor meiner Haustür. Ihr Blindenhund geht neben ihr und ist nicht angeleint. Ein paar Halbwüchsige, die auf Bänken sitzen, rauchen und Bier trinken, locken den Hund zu sich und halten ihn fest. Die blinde Frau vermisst irgendwann ihren Hund und beginnt nach ihm zu rufen. Sie bleibt stehen und ruft immer lauter nach ihm. Schließlich gerät sie in Panik und schreit den Namen des Hundes. Jetzt erst lassen die Jugendlichen den Hund laufen und zu seiner Besitzerin zurückkehren. Sie weiden sich an der Hilflosigkeit und Angst der Frau und lachen sich halbtot über ihre niederträchtige Aktion.
Im selben Park sitzen ein paar Tage später Teenie-Mädchen auf einer Bank. Eine berichtet, sie habe ihre Oma besucht und 15 Euro von ihr bekommen. „Dafür musste ich mir eine Stunde ihr Geflenne anhören!“, sagte sie empört, so als sei das kein angemessener Stundenlohn für den Besuch einer Enkelin bei ihrer Großmutter.
In der Stadt werde ich Zeuge eines Dialogs zwischen 12/13-jährigen Jungen: „Ey Olly, deine Mutter ist in Preungesheim!“ – in diesem Frankfurter Stadtteil befindet sich das hessische Frauengefängnis. Der Beleidigte brüllt zurück: „Halt die Fresse, du Arschloch, sonst fick ich deine Mutter.“

Jugendliche gehen Bier trinkend durch die Fußgängerzone. Sie sehen einen Bettler am Boden sitzen, der auf einem Schild auf seine Notlage aufmerksam macht und um Spenden bittet. Sie beginnen, ihn zu beschimpfen und zu beleidigen. Schließlich treten sie seinen Hut weg, in dem sich ein paar Münzen angesammelt haben, und ziehen lachend und johlend weiter.

Dass „du Opfer“ und „Hey, du Spast“ zu den gängigen Beleidigungen zählen, mit denen heutige Jugendliche sich untereinander belegen, wirft ein schlagendes Licht auf die Perversion im Menschenbild, die sich in den letzten Jahren im Schatten eines vom Neoliberalismus geförderten Klimas der Glorifizierung des Starken und Siegreichen und der Verachtung alles Schwachen, Hilf- und Erfolglosen vollzogen hat. Mit schlechtem Beispiel gehen Sportler voran, die, kaum haben sie irgendeinen Sieg errungen oder eine Meisterschaft gewonnen, vor laufenden Kameras, Sektflaschen schüttelnd, grölen: „So seh’n Sieger aus – schalalalala“.

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Die Schulen haben sich also unter dem Druck sogenannter Sachzwänge von Markt und Industrie unter Kuratel stellen lassen, statt „Erfurt mitzudenken“ und sich in Richtung einer menschlicheren Schule zu entwickeln. Dabei quittiert die Rede von den „Sachzwängen“ nur den Umstand, dass wir – die Bürger eines dem Anspruch nach demokratischen Gemeinwesens – es nicht mehr wagen, die „Sachen“, die ja in Wahrheit menschliche und von Menschen hervorgebrachte Verhältnisse sind, in eine andere, menschenförmige Richtung zu zwingen. Man will uns die Funktionsweisen der herrschenden Ökonomie und Gesellschaft als Naturgesetze verkaufen und Menschen, die das nicht akzeptieren wollen, in die Position desjenigen rücken, der so töricht ist, einem Erdbeben Vorwürfe zu machen. Mit großem medialem und propagandistischen Aufwand soll verhindert werden, dass jene angeblich ehernen Gesetze, deren perfekte Grausamkeit man uns gegenüber als ein Naturfaktum darstellt, den Menschen plötzlich gestehen würden, dass sie sie ja selbst gemacht haben und also auch verändern können. Wenn wir uns auf unsere Stärke und gestalterischen Möglichkeiten besännen, könnten wir also durchaus darauf bestehen, Schulen und Universitäten dem Zugriff des Kapitals zu entziehen und sie in der Tradition der Aufklärung an der regulativen Idee der Mündigkeit auszurichten. Das aufsteigende Bürgertum hatte Mündigkeit zu seinem Kampfbegriff gemacht und Bildung zu einem Instrument der Emanzipation. Freilich blieb der Anspruch, Bildung mit Mündigkeit zu verbinden, auf die bürgerliche Klasse beschränkt, die ihn, zu Reichtum und Macht gelangt, immer stärker einschränkte und schließlich wieder loszuwerden versuchte. Mündigkeit und ihre Strangulierung wachsen auf dem gleichen Holz, und es käme heute darauf an, den ursprünglichen Gehalt von Bildung wieder freizulegen, sie von ihren klassenspezifischen Beschränkungen zu befreien und als Instrument der Befreiung aller zu konzipieren. Wenn wir soweit wären, würden wir schnell feststellen, dass sich das Kapital seine kostenlosen Bildungszulieferbetriebe nicht kampflos entreißen lassen wird und wir nicht umhin kommen, den betriebswirtschaftlichen Imperialismus insgesamt zu bekämpfen und der Ökonomie vernünftige gesellschaftliche Ziele vorzugeben, denen sie zu dienen und sich unterzuordnen hat.

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Zum Schluss zurück zu dem, was wir aus Erfurt hätten lernen können und was nach wie vor zu verändern wäre. Je mehr die Elternhäuser in ihren sozialisierenden, prägenden und Kinder und Jugendliche bergenden und haltenden Aufgaben und Funktionen ausfallen, desto mehr müssen Schulen zu Schutzräumen und „verlässlichen Orten“ (Oskar Negt) werden, in denen sie sich unter Bedingungen raum-zeitlicher Kontinuität und Verlässlichkeit zu Menschen entwickeln können. Es ist nicht länger hinzunehmen, dass in unseren Schulen Subjektivität und Innerlichkeit der Schüler (fast) nur als Störung vorkommen. Die Subjektivität der Schüler muss noch in ihren verqueren Ausdrucksformen ernst genommen und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen leibhaftigen Menschen werden, die sich gerade in solchen Auseinandersetzungen als Menschen zu erkennen geben. Es kann nicht sein, dass Schüler, die leistungsschwach sind oder „stören“, bürokratisch entsorgt werden. Kinder und Jugendliche brauchen Zuwendung am meisten, wenn sie sie am wenigsten „verdienen“. Das einzige Antidot gegen die Gewalt sind emotionale Bindungen der Schüler untereinander, an ihre Schule und Lehrer und ein lebendiges, offenes Schulklima, das es möglich macht, über alles zu reden. Nur auf diese Weise kann verhindert werden, dass einzelne Schüler oder ganze Gruppen aus von der Schule gestifteten Bezügen herausfallen und dauerhaft an den Rand gedrängt werden.

„Es hätte nur jemand mit mir reden müssen“, hat ein amerikanischer School Shooter auf die Frage geantwortet, was hätte passieren müssen, um seinen Amoklauf zu verhindern. Schulen benötigen das, was bürokratischen Institutionen eigentlich wesensfremd ist, also widrigen Verhältnissen abgerungen werden muss: Einfühlungsvermögen und Sensibilität für besondere Umstände. Nur so sind Schulgemeinschaften imstande, die Folgen von Verletzungen wahrzunehmen, die die Schule einzelnen Schülern zufügt, und die Warnsignale aufzufangen, die die Verletzten und Gekränkten aussenden, bevor sie zur Gewalt greifen. Routine, Bequemlichkeit und Indifferenz sorgen im Schulalltag dafür, dass solche Vorzeichen übersehen werden: die Äußerung von Suizidabsichten oder tiefer Ausweg- und Hoffnungslosigkeit, dauerhafte Mobbing- und Dissing-Attacken gegenüber bestimmten Schülern, das Abdriften in gewaltgesättigte virtuelle Welten, apokryphe oder offene Andeutungen, dass „demnächst irgendetwas passieren wird“, das Erstellen von „Todeslisten“, die intensive heroisierende Beschäftigung mit anderen Amokläufern und die Übernahme von deren Zeichen- und Symbolsystemen.

Wenn sich Schwächen auf beiden oben beschriebenen Ebenen der Konkurrenz miteinander verfilzen, ist Gefahr im Verzug. Ein Versagen in der vertikalen schulischen Leistungskonkurrenz kann unter Umständen kompensiert werden durch hinreichende Anerkennung auf der horizontalen Ebene der Statuskonkurrenz untereinander. Umgekehrt kann sich ein Schüler für die mangelnde Akzeptanz bei seinesgleichen durch die narzisstischen Gratifikationen schadlos halten, die mit schulischen Erfolgen verbunden sind. Versagen beide Quellen der narzisstischen Zufuhr, mischt sich die Kritik an schwachen schulischen Leistungen mit Demütigungen, Schmähungen und Missachtung durch die anderen Schüler, kann ein Kollaps der inneren Selbstwertregulation die Folge sein. Gegen diesen drohenden narzisstischen Super-Gau ist Kampf mit allen Mitteln geboten. Die in diesem Kampf freigesetzten Aggressionen können in alle Richtungen gehen. Bei jungen Männern wenden sie sich häufig gegen die Außen- und Mitwelt, bei jungen Frauen immer noch eher gegen die eigene Person.

Bei all dem präventiven Eifer, den man seit Erfurt an Schulen betreibt, wird häufig übersehen, dass alle spektakulären Schulschießereien in Deutschland nicht von aktuellen, sondern von ehemaligen Schülern begangen wurden. Die Täter von Freising, Erfurt, Emsdetten und Winnenden kehrten nach mehr oder weniger großem zeitlichem Abstand an ihre ehemaligen Schulen zurück, um dort für vergangene und gegenwärtige Kränkungen Rache zu üben. Ein noch so ausgefuchstes „Bedrohungsmanagement“ an diesen Schulen hätte also gegen diese Taten nichts auszurichten vermocht. Es sei denn, man hätte in Erfurt die bürokratische Entsorgung eines Schülers verhindert oder fürsorglich aufgefangen. Ehemalige Schüler befinden sich häufig auf irgendwelchen Abstellgleisen im Niemandsland zwischen Schule und Beruf, Pubertät und Erwachsensein, und wissen nicht, gegen wen sie ihre ohnmächtige Wut wenden sollen. Diese sucht sich dann ein Ersatzopfer, einen Sündenbock, der die Wut auf sich zieht, weil er verletzlich und greifbar ist und/oder weil er mit vergangenen Kränkungen assoziiert wird, die sich mit den gegenwärtigen trübe verfilzen.

Die wirksamste Form der Prävention gegen eskalierende Gewalt ist und bleibt eine soziale:
ein von Empathie und Vertrauen getragenes Klima der Aufmerksamkeit und wechselseitigen Sorge. Jedes hysterische Agieren, das auffällige Schüler vorschnell verdächtigt, droht das informelle Frühwarnsystem, das eine halbwegs intakte Schulgemeinschaft hervorbringt, zu zerstören. Nicht jede Verhaltensauffälligkeit darf behördliche Nachstellungen und sozialarbeiterische oder psychotherapeutische Zwangszuwendung auslösen. Die Ausbreitung einer Fahndungsmentalität würde Gewaltphantasien in den Untergrund abdrängen, wo sie sich der kommunikativen Bearbeitung und Entschärfung entziehen.

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„Ihr habt mich in eine Ecke getrieben …“
Eine kommentierte Chronik ausgewählter Schulamokläufe

  • Am 11.6.1964 dringt der Frührentner Walter Seifert mit einer zu einem Flammenwerfer umgebauten Unkrautspritze und einer Lanze auf das Gelände der Volksschule Köln-Volkhoven vor. Den 42-jährigen Mann, der als verschlossener Einzelgänger geschildert wird, treibt jahrelang aufgestaute Wut: Wut auf Beamte, die seine Tuberkulose-Erkrankung nicht als Kriegsfolge anerkennen und seine Rente nicht erhöhen, Wut auf Ärzte, die nicht verhindert haben, dass seine Frau und ihr gemeinsames Baby im Kindbett starben. Die Wut reißt sich schließlich von ihrem Anlass los und generalisiert sich zum Hass auf die ganze Welt, den er an seiner alten Schule austobt. Das erste Opfer ist die Lehrerin Anna Langohr, die auch ihm einst Lesen und Schreiben beibrachte. Sie turnt gerade mit einer Mädchengruppe auf dem Schulhof. Dann zielt er mit dem Flammenwerfer auf die Kinder. Die Bilanz des bis dato in Deutschland einmaligen Schulmassakers: Acht tote Kinder, zwei tote Lehrerinnen, zwanzig Schwerverletzte, die dauerhaft Schmerzen, Narben und schwere Traumatisierungen davontragen. Der Amokläufer tötet sich unmittelbar nach der Tat selbst, indem er das Insektengift E 605 schluckt.
  • Am 3.6.1983 stürmt der 34-jährige Exil-Tschechoslowake Karel Charva in eine Klasse der Freiherr-vom-Stein-Schule im hessischen Eppstein und beginnt um sich zu schießen. Er tötet drei Schüler, einen Lehrer und einen Polizisten. Anschließend erschießt er sich selbst. Die Motive bleiben im Dunkeln.
  • Am 13.3.1996 erschießt der 43-jährige arbeitslose Jugendbetreuer Thomas Hamilton in der Turnhalle einer Grundschule im schottischen Dunblane 16 Schulkinder und eine Lehrerin. Sechs Tage vor der Tat bat der Mann, der sich wegen seiner Homosexualität ins Abseits gedrängt fühlte, in einem Brief die Königin um Hilfe, „damit ich mein Selbstwertgefühl in dieser Gesellschaft wiedererlangen kann.“ Nach der Tat setzt er seinem Leben ein Ende. In der Hoffnung, den Schrecken durch einen magischen Akt der „Wüstung“ zu bannen, lässt die Gemeinde die Turnhalle abreißen.
  • Am 24.3.1998 eröffnen in Jonesboro/Arkansas zwei 11- und 13-Jährige das Feuer auf Mitschüler und Lehrer, als diese nach einem von den beiden Jungen ausgelösten Feueralarm die Schule verlassen. Vier Schülerinnen und eine Lehrerin kommen ums Leben. Mitchell Johnson, der ältere der beiden, wollte es vor allem seiner Ex-Freundin heimzahlen, die gerade mit ihm Schluss gemacht hatte.
  • Am 20.4.1999, keineswegs zufällig an Hitlers Geburtstag, nehmen in Littleton/Colorado die von der Schulgemeinschaft an den Rand gedrängten und der sogenannten Trenchcoat-Mafia angehörenden Schüler Eric Harris und Dylan Klebold grausige Rache. „Mein Zorn ist wie der eines Gottes“, trägt Dylan Klebold zuvor in sein Schuljahrbuch ein. Sie werden Sprengsätze und erschießen einen Lehrer und zwölf farbige und/oder als Sportler hervorgetretene und deswegen von ihnen gehasste Mitschüler: „Alle Sportler aufstehen, alle Sportler sind tot“, rufen sie, bevor sie das Feuer eröffnen. Am Ende ihres mörderischen Wütens erschießen sie sich selbst. Mit dem Massaker an der Columbine-Highschool beginnt auch für den Amoklauf das Zeitalter der Globalisierung: Die Bilder gehen um die Welt und das Internet sorgt dafür, dass jederzeit und überall eine Art Blaupause für Schul-Schießereien abrufbar ist. Wer in die Hall of Fame der Übeltäter und Negativ-Helden aufgenommen werden will, muss sich in puncto Opferzahl mit Klebold und Harris messen und die perverse Überbietungsspirale ein Stück weiter drehen.
  • Am 1. November 1999 schießt der 16-jährige Lehrling Martin P. in Bad Reichenhall aus dem Fenster der elterlichen Wohnung auf alles, was sich bewegt. Er tötet vier Menschen und anschließend sich selbst. Der Schauspieler Günter Lamprecht und seine Lebensgefährtin Claudia Amm geraten durch einen Zufall ins Schussfeld des Täters und überleben schwer verletzt und dauerhaft traumatisiert.
  • Zu den unmittelbaren Nachahmungstaten, die jedes größere Massaker nach sich zieht, gehört die Tötung einer Lehrerin im sächsischen Meißen durch einen 15-jährigen Gymnasiasten am 9. November 1999. Er war bis dato in der Schule nie aufgefallen und galt als recht beliebter und guter Schüler. Er hatte seine Tat angekündigt und wiederholt von seinem „Hass“ auf jene Lehrerin gesprochen.
  • Zu den Nachbeben von Bad Reichenhall gehört auch das von drei 14-jährigen Schülern für Ende November 1999 bis in alle Einzelheiten geplante Blutbad an einer Schule im bayerischen Metten, das die Polizei gerade noch rechtzeitig verhindern kann.
  • Am 16. März 2000 schießt der 16-jährige Michael F. im bayerischen Brannenburg auf den Leiter eines Internats, der ihn am Tag zuvor wegen wiederholter Regelverstöße der Schule verwiesen hatte. Der Lehrer stirbt Tage später, der Schüler, der sich nach der Tat in den Kopf geschossen hatte, liegt seitdem im Koma.
  • Am 8.6.2001 stürmt in einem Vorort von Osaka/Japan ein 37-jähriger Mann in einen Schulraum und ersticht acht Schulkinder mit einem Messer, 20 weitere werden zum Teil schwer verletzt.
  • Am 19. Februar 2002 stürmt der 22-jährige, aus Polen stammende Adam L. mit einem Kampfanzug bekleidet in die Räume einer Echinger Dekorationsfirma, die ihn kurz zuvor entlassen hatte. Er erschießt seinen ehemaligen Chef und dessen Vertreter. Dann lässt er sich per Taxi nach Freising zu seiner ehemaligen Schule fahren, an der er Jahre zuvor von einem Lehrer gedemütigt und gekränkt worden war. Er zündet Rohrbomben und erschießt den Schulleiter. Mit der letzten Kugel tötet er sich selbst.
  • Diese Tat und vor allem ihr großes mediales Echo erlebt Robert S. in Erfurt, während er über seinen Racheplänen brütet. Am 26.4.2002 führt er sie aus und tötet am Gutenberg-Gymnasium 12 Lehrer/innen, zwei Schüler, eine Sekretärin und einen Polizisten, bevor er sich selbst umbringt.
  • Nach dem Massaker gibt es allein in Thüringen ca. 80 Drohungen von so genannten Trittbrettfahrern: „Hier gibt es bald Erfurter Verhältnisse.“
  • Im Oktober 2002 nimmt der 16-jährige Marcel K. im baden-württembergischen Waiblingen – ausgerüstet mit einer schusssicheren Weste, einer Luftpistole und Bombenattrappen – zehn Schüler und eine Lehrerin als Geiseln. Nach intensiven Verhandlungen lässt er die Geiseln nach und nach frei und ergibt sich. Dass es in Waiblingen glimpflich ausgeht, führt ein Polizeipsychologe „auf Reste an Einfühlungsvermögen” beim Täter zurück.
  • In der Nähe von Barcelona nimmt im November 2002 ein bewaffneter Mann 25 Schulkinder als Geiseln und verlangt 1,5 Millionen Euro Lösegeld. Er kann noch am selben Abend überwältigt und festgenommen werden.
  • Am 2.7.2003 schießt im bayerischen Coburg ein 16-jähriger Schüler eine Lehrerin an und tötet sich anschließend selbst durch einen Schuss in den Mund. Die Waffe stammt aus dem Waffentresor des Vaters. Im Vorfeld der Tat scheint sich im Leben des Realschülers etwas verändert zu haben. Äußerlich kommt das darin zum Ausdruck, dass er schwarze Kleidung trägt, sich für Satanismus interessiert und Gothik-Musik hört.
  • Im Frühjahr 2006 schlagen Lehrer der Rütli-Schule und anderer Berliner Hauptschulen Alarm und klagen über eine Eskalation alltäglicher Gewalt, die einen geregelten Unterricht kaum noch zulässt.
  • Am 26.5.2006 sticht der stark alkoholisierte 16-jährige Mike P. während der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs blindlings auf Passanten in der Menge ein. Er verletzt 37 Menschen, acht davon schwer. Er ist einer der seltenen Amokläufer, die ihre Tat überleben, und wird im März 2007 zu sieben Jahren Jugendstrafe verurteilt. Die Motive konnten auch vom Gericht nicht geklärt werden.
  • Am 20.11.2006 betritt der 18-jährige Sebastian B., der sich im Internet ResistantX nennt, gegen 9:30 maskiert und schwer bewaffnet das Gelände seiner ehemaligen Schule in Emsdetten, schießt wahllos auf Menschen, zündet Rauchbomben. Fünf Personen werden durch Schüsse verletzt, weitere 32 müssen wegen erlittener Schocks oder Rauchvergiftung behandelt werden. Dann tötet er sich selbst. Im Internet hinterlässt er einen düsteren Abschiedsbrief, in dem er seinen Ekel vor den Menschen und seinen Hass gegen alle Welt verkündet: „Bevor ich gehe, werde ich euch einen Denkzettel verpassen, damit mich kein Mensch mehr vergisst. Ich hasse euch und eure Art! Ihr müsst alle sterben.“ Sebastian B. galt als Außenseiter und Eigenbrötler, der mit sich und der Umwelt nicht zurechtkam. Am Tag nach der Tat sollte wegen unerlaubten Waffenbesitzes vor Gericht gegen ihn verhandelt werden. Dass Sebastian B. seine weit reichenden Vernichtungspläne nicht realisiert und sein mitgeführtes großes Waffenarsenal nicht ausschöpft, deutet auf Ambivalenzen und erhalten gebliebene Tötungshemmungen hin.
  • Nach der Tat von Emsdetten tauchen in ganz Deutschland „Amok-Listen“ von Trittbrettfahrern auf. Schüler kündigen via Internet Amokläufe an Schulen an und versetzen ganze Bundesländer in Aufregung und Tausende von Polizisten in Alarmbereitschaft. Wer „keinen Bock auf Schule hat“, äußert im Internet eine Drohung und schon fällt am nächsten Tag die Schule aus.
  • Am 16.4.2007 erschießt der aus Südkorea stammende Cho Sueng-Hui an der technischen Universität von Virginia 32 Studenten und Dozenten, bevor er sich selbst tötet. Einige Tage nach der Tat tauchte beim Fernsehsender NBC ein Päckchen mit einer umfangreichen multimedialen Dokumentation auf. Der Absender: Cho Sueng-Hui. In Texten, auf Fotos und in Videos doziert und posiert er mit an den Kopf gehaltenen Waffen. Er redet in abgehackten, oft wirren Sätzen und mit einer pathetischen Sprache und bezichtigt die ganze Welt, ihm Unrecht getan zu haben. In einer seiner letzten Botschaften formuliert er in beinahe wörtlicher Anlehnung an Harris und Klebold: „Ihr hattet hundert Milliarden Chancen, das hier zu vermeiden. Aber ihr habt entschieden, mein Blut zu vergießen. Ihr habt mich in eine Ecke getrieben und mir nur eine Option gelassen. Als die Zeit kam, habe ich es getan. Ich musste es tun.“
  • Am 7.11.2007 erschießt der 18-jährige Abiturient Pekka Eric Auvinen an einem Schulzentrum im finnischen Jokela sechs Mitschüler, eine Schulkrankenschwester und die Schulleiterin. Dann tötet er sich selbst mit einem Kopfschuss.
  • Knapp ein Jahr später, am 23.9.2008, ereignet sich erneut ein Schulamoklauf in Finnland. An einer Berufsschule in Kauhajoki tötet der 22-jährige Matti Saari neun Menschen und sich selbst. Genau wie Auvinen posierte auch er in den Wochen vor der Tat im Internet-Portal Youtube mit Waffen und kündigte dort das Massaker an. Auf seiner Webseite beschrieb er sich als Hard-Rock-Fan und Konsument von Horrorvideos. Seine Hobbys: Sex, Computer, Waffen und Bier. Der mediale Narzissmus spielt in jüngster Zeit bei der Planung und Durchführung von Amokläufen eine immer größere Rolle und es wird über das Medium Internet eine grandiose Selbstinszenierung betrieben.
  • Am 26.11.2008 muss nach einer per E-Mail eingegangenen Drohung der Unterricht an einer Gesamtschule in Erfurt ausfallen.
  • Am 11.3.2009 kehrt der 17-jährige Tim Kretschmer in schwarzer Kampfmontur an seine ehemalige Schule in Winnenden, die Albertville-Realschule, zurück und schießt mit einer Pistole aus dem Besitz seines Vaters in mehreren Klassenräumen um sich. Er tötet acht Schülerinnen, einen Schüler, drei Lehrerinnen. Nach dem Eintreffen der Einsatzkräfte verlässt er die Schule und tötet auf seiner Flucht drei weitere Menschen. Schließlich wird er auf einem Parkplatz vor einem Autohaus umstellt und angeschossen. Schließlich erschießt er sich selbst. In den folgenden Tagen und Wochen kommt es zu unzähligen Amokdrohungen von Trittbrettfahrern und Wichtigtuern. Die Gießener Kriminologin Bannenberg sprach in einem Vortrag von circa 2000 solcher „Bedrohungsfällen“ in den Wochen nach dem Amoklauf. Spektakuläre Verbrechen aktualisieren bei anderen eine zuvor bereits latent vorhandene Tatbereitschaft und ziehen häufig gravierende Resonanzstraftaten nach sich. Ein Mann löscht wenige Tage nach dem Massaker von Winnenden seine Familie aus und tötet sich selbst, der lange schwelende Groll über einen Erbschaftsstreit entlädt sich in einer Schießerei im Amtsgericht von Landshut/Bayern, der zwei Menschen zum Opfer fallen. Wenige Kilometer von Winnenden entfernt bringen zwei Jugendliche eine vierköpfige Familie um. (s.u.)
  • Am 11. Mai 2009, also exakt zwei Monate nach dem Amoklauf von Winnenden, kann die 16-jährige Gymnasiastin Tanja O. aus dem nordrhein-westfälischen Sankt Augustin gerade noch daran gehindert werden, Brandsätze in Klassenzimmer zu werfen und mit einem Samurai-Schwert zu wüten. Eine 17-jährige Mitschülerin hatte sie auf der Schultoilette während der Vorbereitungen entdeckt. Sie verliert im Handgemenge mit der Täterin einen Daumen. Tanja O. wird im November 2009 vom Landgericht Bonn zu einer Jugendstrafe von fünf Jahren verurteilt. Ihre Unterbringung in der Psychiatrie wird vom Gericht nicht für notwendig erachtet.
  • Am 17.9.2009 wirft im fränkischen Ansbach der 18-jährige Schüler Georg R. am Gymnasium Carolinum einen sogenannten Molotow-Cocktail und geht mit einer Axt gegen seine Mitschüler vor. Er verletzt 9 Schüler und einen Lehrer. Ende April 2010 spricht die Große Jugendkammer des Landgerichts Ansbach nach vier Verhandlungstagen ihr Urteil. Georg R. wird zu einer Jugendstrafe von neun Jahren verurteilt. Da ihm von einem Gutachter eine „schizoide Persönlichkeitsstörung“ attestiert wird, ordnet das Gericht seine zunächst unbefristete Unterbringung in der Psychiatrie an. Die Verhandlung ergab das Bild eines nach außen unauffälligen, in sich gekehrten und isolierten Jungen, der unter dieser Isolation litt und sich in seinem Tagebuch eine Tagtraum- und Parallelwelt geschaffen hatte.
  • Am 18.2.2010 dringt der 23-jährige Florian K. in seine frühere Berufsschule in Ludwigshafen ein und sticht mit einem Kampfmesser auf einen Lehrer ein, der ihn seiner Meinung nach vor Jahren zu schlecht benotet und damit mit um seine beruflichen Chancen gebracht hat. Der Lehrer erliegt wenig später seinen Verletzungen. Der junge Mann hatte seine Tat lang geplant und sich intensiv mit anderen Amokläufern wie Robert S. und Auvinen befasst. Was ihn dazu getrieben hat, sechs Jahre nach dem Verlassen dieser Schule zurückzukehren und sich blutig zu rächen, konnten die Ermittler zunächst nicht feststellen. Dem jungen Mann war es aber offenbar nicht gelungen, im Leben Fuß zu fassen und sich beruflich zu verorten.
  • Mitte Juni 2010 kann an einem Gymnasium in Germering/Bayern ein Amoklauf verhindert werden. Ein 17-Jähriger war dabei erwischt worden, wie er mit einem Bunsenbrenner eine Flüssigkeit erhitzen wollte, mittels derer er vorgehabt habe, die Schule in die Luft zu sprengen. Auch er war immer wieder gemobbt und gehänselt worden und galt als Außenseiter.
  • Im Januar 2011: Nach einer anonymen Bombendrohung muss das Erfurter Gutenberg-Gymnasium evakuiert werden. Fahnder mit Spürhunden suchen das Gebäude ab, finden aber nichts.
  • Am 22. Juli 2011 zündet der 32-jährige Anders Behring Breivik zunächst im Regierungsviertel von Oslo eine Autobombe, wobei acht Menschen ums Leben kommen. Dann fährt er in Polizeiuniform zur Insel Utoya und eröffnet das Feuer auf Jugendliche, die dort ihre Ferien in einem Sommerlager der Norwegischen Arbeiterpartei verbringen. Im Laufe einer Stunde erschießt er 69 von ihnen. Breivik mutet an wie eine Kreuzung aus einem Freikorpsmann der 1920er Jahre und einem zeitgenössischen School Shooter: Mit jenem teilt er die rassistische und frauenfeindliche Programmatik, mit diesem die Choreographie des Vorgehens und den medialen Narzissmus. Breivik ergibt sich schließlich der anrückenden Polizei und wartet seither auf den letzten Akt seiner Tat: den Prozess, den er zu seiner Arena machen möchte. „Wenn man zum Töten fähig sein will“, sagt er am Ende der ersten Prozesswoche, „muss man trainieren, seine Gefühle auszumerzen. Man muss eine Strategie der Entmenschlichung verfolgen. Wenn man den Gegner nicht entmenschlicht, kann man ihn nicht töten, wenn man ihm gegenübersteht.“ Bestandteil seines mentalen Vorbereitungs- und Desensibilisierungsprogramms war es, ein ganzes Jahr lang in die virtuelle Welt von World of Warcraft einzutauchen.
  • Am 9. November 2011 will in der Kleinstadt Ballenstedt im Harz ein 13-jähriges Mädchen an seiner Schule Amok laufen. Sie zündet Brandsätze und will dann mit Messern und einer Axt auf ihre Mitschüler losgehen. Die herbeigerufene Polizei kann sie schnell überwältigen. Sie wird in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Aus Kreisen der Ermittler heißt es, das Mädchen habe im Elternhaus und in der Schule Probleme gehabt. In diesem Fall wird man davon ausgehen können, dass es sich wohl eher um einen Hilferuf, als um den Versuch der Durchführung eines geplanten Amoklaufs gehandelt hat.
  • Am 2. April 2012 stürmt ein 43-jähriger aus Korea stammender ehemaliger Student mit einer Waffe auf den Campus eines christlichen Privatcolleges in Oakland/Kalifornien und erschießt sieben Studierende. Der Schütze hatte laut Polizei offenbar gezielt nach einer bestimmten Angestellten aus der Verwaltung gesucht. Als er diese nicht finden konnte, tötete er den Angaben zufolge wahllos sechs Frauen und einen Mann. Der Täter stellt sich wenig später der Polizei. Er sei vor kurzem wegen Verhaltensproblemen der Hochschule verwiesen worden und habe sich dafür rächen wollen, teilt der Polizeipräsident von Oakland mit. Zudem sollen ihm Hänseleien seiner Mitschüler wegen seiner schlechten Englischkenntnisse zugesetzt haben.
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Teile dieses Textes, insbesondere die aktualisierte Chronik sind meinem 2010 im Münchner Pattloch-Verlag erschienen Buch “… damit mich kein Mensch mehr vergisst! Warum Amok und Gewalt kein Zufall sind” entnommen.

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