Neuwahlen in Griechenland – Bestrafung kontra Vernunft?

Ein Artikel von Niels Kadritzke

In Griechenland wird es Neuwahlen geben, und zwar am 17. Juni. Die Griechen müssen damit zum zweiten Mal innerhalb von fünf Wochen eine ebenso schwierige wie folgenreiche Entscheidung treffen. Die Neuwahlen sind der einzige verfassungsgemäße Ausweg, nachdem gestern Staatspräsident Karolos Papoulias für seine Idee einer „Regierung von Persönlichkeiten“ von begrenzter Dauer (bis 2014) nicht die nötige Unterstützung der im Parlament vertretenen Parteien finden konnte. Bis zu den Neuwahlen wird der Staatspräsident eine rein „geschäftsführende“ Regierung unter dem Vorsitzenden des Obersten Verwaltungsgerichts, Panayotis Pikrammenos bilden (dessen Name rein zufällig „der Verbitterte“ bedeutet). Von Niels Kadritzke.

Nach einer Umfrage (Kapa Research), die nach der Wahl vom 6. Mai gemacht wurde, wird die Idee eines zweiten Urnengangs nur von knapp 23 Prozent der Bevölkerung gutgeheißen; 72 Prozent sprachen sich demgegenüber für eine Regierungskoalition aus, bei deren Bildung alle Parteien Kompromisse machen sollten.

Die Idee von Papoulias (inspiriert und unterstützt von Fotis Kouvelis, dem Parteichef der linkssozialdemokratischen DIMAR) war eine Totgeburt, weil sie voraussetzte, dass die Regierung „integerer“ (nicht von einer Partei abhängiger) Personen von einer breiten parlamentarischen Koalition getragen oder mindestens geduldet wird. Dafür aber waren weder die linkssozialistische Syriza noch die rechtspopulistische Partei der Unabhängigen Griechen zu gewinnen. Beide wollten sich nicht durch eine Zusammenarbeit mit den Parteien kontaminieren, die sie im Wahlkampf als „Memorandums-Parteien“ bekämpft hatten. Mit dieser Strategie waren beide Parteien erfolgreich (siehe den ersten Teil meiner Analyse vom 14. Mai); und beide erhoffen sich in einer zweiten Wahl weitere Zugewinne auf Kosten der Pasok bzw. der ND.

Das gilt insbesondere für die Syriza und ihren Vorsitzenden Alexis Tsipras. Fast alle Kommentare in den griechischen Medien unterstellen, dass Tsipras in den acht-tägigen Verhandlungen über eine Regierungsbildung von Anfang an nur ein „Vorwahlspiel“ betrieben hat. Zumal die ersten Umfragen nach dem 6. Mai der Syriza weiter steigende Wählerzahlen in Aussicht stellen. Das war auch der Tenor der Tsipras-Schelte seitens der anderen Parteien – als würde nicht alle Parteien ihre Entscheidungen im Hinblick auf potentielle Wahlerfolge treffen. Mit derselben Berechtigung kann man speziell der Pasok und der DIMAR einen „Opportunismus der Wahlvermeidung“ vorwerfen, weil beide befürchten, bei der zweiten Wahl weitere Stimmen an die Syriza zu verlieren.

Für ein Urteil über die Strategie der Syriza sind zwei andere Fragen wichtig:

  1. Mit welchem konkreten Programm tritt die Partei ein zweites Mal vor die griechischen Wähler?
  2. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Wahlen vom 10. Juni ein Resultat erbringen, das eine Regierungsbildung nach Vorstellung der Syriza ermöglicht.

Ehe man auf diese Fragen eingehen kann, sollte man sich klarmachen, was für eine Partei die Syriza ist und wie es um ihre Bündnis- und damit ihre politische Handlungsfähigkeit bestellt ist. Die „Koalition der radikalen Linken“ (Synaspismos tis Rizospastikis Aristeras) ist ein Bündnis von Gruppen, die eher einem Konglomerat als einem organisch gewachsenen Zusammenschluss gleicht. Diese Koalition hat sich erstmals zu den Wahlen von 2004 zusammengefunden. Initiator und Kern des Wahlverbundes war die Linkspartei Synaspismos (abgekürzt Syn, eigentlich: „Koalition der Linken, der Bewegungen und der Ökologie“), die 1992 von Aktivisten der sogenannten Inlands-Kommunisten gegründet wurde (diese KKE Esoterikou wiederum versammelte die reformerischen oder euro-kommunistischen Kräfte, die sich schon in den 1970er-Jahren von der orthodoxen KKE getrennt hatten).

Der Synaspismos, der seit 1996 im Parlament repräsentiert war, erweiterte sich zur Syriza, indem weitere linke Gruppen und Sekten der Wahlkoalition beitragen, darunter Trotzkisten, Ex-Maoisten, linke Ökologen, Dissidenten der KKE und eine linksnationalistische Abspaltung der Pasok namens DIKKI um den ehemaligen Pasok-Minister Tsovolas (Eine Liste der derzeit zwölf „Segmente“ der Koalition kann man unter „Syriza“ bei Wikipedia finden). Das Besondere an der Syriza ist aber nicht nur diese organisatorische Cluster-Struktur. Es kommt hinzu, dass sich dieses Konglomorat nie zu einer normalen Partei verdichtet hat. Es hat also nicht jener Prozess stattgefunden, der zum Beispiel in Deutschland aus einer Ansammlung von Ex-Maoisten, Ökofreaks ausgenüchterten Straßenkämpfern und enttäuschten Sozialdemokraten die Partei der Grünen gemacht hat. Und an dessen Ende die übersichtliche und – mehr oder weniger – fruchtbare Strukturierung in Fundis und Realos stand. Bezeichnend für den organisatorischen Aggregatzustand der Syriza ist die Tatsache, dass alle Einzelgruppen sich immer noch autonom artikulieren und – mehr noch – bei Wahlen als Gruppen um die Listenplätze konkurrieren. Das geht so weit, dass sie ihre Mitglieder dazu aufrufen, auf der Syriza-Wahlliste bevorzugt den „eigenen“ Kandidaten anzukreuzen, was nach griechischem Wahlrecht (noch) möglich ist.

Eine so komplexe Koalition – die deutlich heterogener ist als etwa die von der Linkspartei absorbierten westdeutschen Splittergruppen – ist ein labiles Gebilde. Das hat in der Vergangenheit bewirkt, dass die Syriza programmatisch oft nur den kleinsten gemeinsamen Nenner ihrer Bestandteil ausdrückte, und dass ihre Parlamentsfraktion nicht immer handlungsfähig war. Das lag häufig an persönlichen Rivalitäten, vor allem aber an dem Prinzip, dass die einzelnen Gruppen stets auf angemessene Repräsentation achteten, die sich etwa auch in der Fraktion widerspiegelte. Deshalb war die Syriza auch nie in der Lage, die Frage einer „Machtbeteiligung“ rational zu diskutieren. Wenn die Fraktion jemals die Beteiligung an einer Koalition ins Auge gefasst hätte, wäre sie – wie die Partei – in ihre Bestandteile zerfallen.

Einen folgenreichen Konflikt zwischen „radikaler“ Partei und „moderater“ Fraktion hat die Syriza ohnehin schon hinter sich: Im Juni 2010 trat der Fraktionsvorsitzende Fotis Kouvelis (der ebenfalls aus der Inlands-KP stammte) mit drei anderen Abgeordneten aus der Syriza aus und gründete die Dimar („Demokratische Linke“), eine linkssozialdemokratische Partei, die jetzt bei den Wahlen mit 6,1 Prozent Stimmen 19 Parlamentssitze erobert hat. Zwei Jahre davor war der „Reformer“ Kouvelis bei der Wahl zum Parteivorsitzenden Alexis Tsipras unterlegen, was teilweise die anhaltende persönliche Animosität zwischen den beiden Parteiführern erklärt.

Eine solche Koalition aus sehr eigenwilligen und zum Teil dogmatischen Fraktionen kann gegenüber den Wählern nur dann überzeugend auftreten, wenn sie die inneren Differenzen und Widersprüche durch eine zentrale Parole überdeckt, die den kleinsten gemeinsamen Nenner ausdrückt. Diese integrierende Parole war im Syriza-Wahlkampf die Botschaft: Kündigen wir das Memorandum, bestrafen wir die Parteien, die zu Handlangern der Troika geworden sind. Eine Parole dieses Typs hat den Nachteil, dass sie zu einfach ist, als dass sie als Arbeitsbasis für realpolitische Entscheidungen – und erst recht für Koalitionen – geeignet wäre. Nun kann man sagen: Mit simplifizierenden oder bewusst täuschenden Parolen operieren nun mal alle Parteien in einem auf Wahlen beruhenden parlamentarischen System. Aber im Fall der Syriza kommt erschwerend hinzu, dass dieses Parteiengebilde unter dem Druck realpolitischer Entscheidungszwänge auseinanderbrechen könnte.

Mit Sicherheit hat diese Gefahr bei der Entscheidung der Syriza-Führung, auf jeden Fall Neuwahlen anzustreben, eine Rolle gespielt – neben der Erwartung eines noch besseren Abschneidens am 17. Juni. Aber damit ist das Problem nur aufgeschoben. Und es wird sich, wenn die Linkssozialisten wie erhofft stärkste Partei, sogar verschärft stellen. Denn dann ist das schicksalhafte Rendezvous mit der Realität nicht mehr zu vermeiden. Damit komme ich auf die eingangs formulierten Fragen zurück:

  1. Mit welchem konkreten Programm tritt die Syriza ein zweites Mal vor die griechischen Wähler?
  2. Wie wahrscheinlich ist es, dass die Wahlen vom 10. Juni ein Resultat erbringen, das eine Regierungsbildung nach Vorstellung der Syriza ermöglicht?

Zunächst ganz nüchtern: Mit ihrer Strategie für die Wahlen vom 6. Mai hat die Syriza – trotz der Verdreifachung ihres Stimmenanteils – 16 Prozent der Wähler und knapp unter 10 Prozent der Wahlbürger überzeugt (wenn man die Wahlabstinenz und die ungültigen Stimmen berücksichtigt). Das Hauptmerkmal dieser Wahl war die Erosion der Systemparteien und die Fragmentierung der parlamentarischen Landschaft. Die Syriza ist also keineswegs schon zu dem neuen Machtpol geworden, um den sich eine „neue Mehrheit“ gruppieren könnte. Zu diesem Machtpol könnte sie sich aber entwickeln, wenn sie am 17. Juni zur stärksten Partei wird (und damit auch die 50 Bonus-Sitze kassiert, die am 6. Mai der ND zugefallen sind). Die letzten Umfragen deuten darauf hin, das sie das schaffen kann. Fragt sich nur, mit welchem Programm.

Hier nun kommt die Frage aller Fragen ins Bild: Euro oder Drachme? Wie inzwischen ganz Europa weiß, wollen vier von fünf Griechen unbedingt in der Eurozone bleiben. Dieser Befund muss in zwei Punkten präzisiert werden: Erstens lautete die Frage genauer: Soll die Regierung, „alles Notwendige tun, um im Euro zu bleiben“? Diese Frage bejahten 78,1 Prozent, mit Nein weniger als 13 Prozent (noch weniger als vor den Wahlen). Zweitens haben von den Syriza-Wählern auch rund 80 Prozent mit Ja geantwortet; bei den Umfragen Anfang des Jahres waren es noch zwischen 55 und 60 Prozent. Das zeigt: Die neu gewonnenen Syriza-Wähler sind ganz überwiegend entschiedene Gegner der Rückkehr zur Drachme.

Es ist dies ein „Wählerauftrag“, den die Syriza nicht missachten kann. Will sie im nächsten Wahlkampf noch mehr Stimmen gewinnen, wird sie um zwei Dinge nicht herumkommen. Sie wird erstens noch eindeutiger für den Euro optieren und diese Option auch innerparteilich durchsetzen müssen. Nach wie vor gibt es in der Syriza laute Stimmen für eine Rückkehr zur Drachme, und eine ihrer größeren Segmente, die linksnationalistische DIKKI, tritt für dieses Ziel ganz offen ein. Im Gegensatz dazu sind fast alle Fachökonomen der Syriza ganz entschiedene Euro-Anhänger, die den Rückmarsch zur Drachme als direkten Weg in die Katastrophe ansehen.

Zum zweiten aber wird sie ernsthaft darüber nachdenken müssen, was es heißt, „alles Notwendige“ zu tun, um in der Eurozone zu bleiben. Um diese Frage hat sich die Syriza im letzten Wahlkampf schlicht gedrückt, indem sie die Drohung mit dem Euro-Ausschluss als reinen „Bluff“ der Brüsseler Kommission und der EU-Großmächte, vorweg Deutschland, darstellte. Die Argumentation lautete: Wenn wir uns den Sparplänen verweigern, werden die in Brüssel und Berlin uns dennoch nicht Bankrott gehen lassen, weil sie sonst das Auseinanderbrechen der gesamten Eurozone riskieren würden. Im Grunde sitzen wir am längeren Hebel. Man muss nur den Mut haben, ihn zu betätigen.

Das scheint mir ein tollkühnes Kalkül zu sein. Wie Jens Berger dargestellt hat, gibt es zwar nach wie vor wichtige – und rein rational sogar durchschlagende – Gründe, einen Ausschluss Griechenlands nicht zu riskieren. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass sich die Einschätzung wichtiger politischer Kräfte seit einiger Zeit deutlich verschoben hat. Und dass die „Firewall“, die seit Herbst letzten Jahres so emsig hochgezogen wurde, vor allem Spanien und Italien vor den Auswirkungen eines griechischen Staatsbankrotts schützen soll. Man kann sehr wohl der Meinung sein, dass diese Firewall letzten Endes zumindest Spanien nicht voll gegen einen Griechenland-fallout abschotten kann. Aber man kann und darf sich auf keinen Fall sicher sein, zumindest nicht als griechischer Bürger.

Bei diesem Dilemma gilt meines Erachtens nach wie vor, was ich im Februar geschrieben habe: „Der Bluff hat es an sich, dass sich erst nach dem Ausspielen der Optionen zeigt, ob er einer war oder nicht. Aber bei diesem Spiel gibt es ein klares Ungleichgewicht: Die Griechen können es sich nicht leisten, auf einen Bluff zu spekulieren, weil für sie zu viel auf dem Spiel steht – im Extremfall die Rückkehr zur Drachme mit allen katastrophalen Folgen.“ Deshalb sollte keine verantwortliche Kraft in Griechenland darauf wetten, dass man gegenüber denen, die man als „Erpresser-Fraktion“ der Eurozone bezeichnen könnte, am längeren Hebel sitzt. Der Kommentator Nick Malkoutzis (Kathimerini vom 9. Mai) hat es so ausgedrückt: „Die Syriza behauptet, dass die Zurückweisung der Bedingungen (des Memorandums) und der einseitige Zahlungsstopp nicht zum Austritt Griechenlands aus der Eurozone führt, weil das für die anderen Mitgliedsstaaten zu teuer kommen würde. Das ist so, als würde man mit einem Schrottauto in eine Einbahnstraße einbiegen, ohne sich darum zu scheren, dass man mit einem entgegenkommenden Humwee zusammenknallen könnte, weil es für dessen Besitzer kostspieliger wäre, sein Fahrzeug zu reparieren.“

In der prekären Situation, in der sich Griechenland befindet, ist es mehr als berechtigt, auf eine Veränderung der Bailout-Konditionen dringen, die dem Land inzwischen fünf Jahre ökonomischer Rezession beschert haben. Das gilt zumal angesichts der allerneusten Zahlen: Im ersten Quartal 2012 ist die griechische Wirtschaft um 6,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr geschrumpft, was die Befürchtung verstärkt, dass das BIP des Jahres 2012 noch stärker im Minus sein wird als die prognostizierten 5 Prozent. Aber man wird eine Neuverhandlung über diese Frage nicht mit einem erpresserischen Kalkül erzwingen können, wie es der Strategie von Tsipras zugrunde liegt. Auffällig ist allerdings, das die Syriza ihre „Drohungen“ gegenüber den griechischen Wählern weitaus auftrumpfender formuliert hat als in ihren Erklärungen gegenüber den internationalen Medien. Und Athener Beobachter weisen darauf hin, dass der Begriff „Aufkündigung“ in dem Brief, den Tsipras nach den Wahlen an Baroso und andere EU-Instanzen geschrieben hat, nicht mehr auftaucht.

Wenn die Syriza noch mehr Wähler gewinnen will, wird sie die vollmundige Ankündigung revidieren müssen, wonach eine von ihr dominierte Regierung das Memorandum und das Schuldenschnitt-Programm einfach zerreißen und einseitig beschließen werde, die griechischen Schulden für mindestens drei Jahre nicht zu bedienen. Eine substantielle Veränderung oder auch nur Milderung des erstickenden Sparprogramms ist nur in Verhandlungen zu erreichen. Die Voraussetzungen dafür kann man nur optimieren, wenn man an die Solidarität der europäischen Partner appelliert und in diesem Sinne auch die europäische Öffentlichkeit zu beeinflussen versucht.

Aber Solidarität lässt sich nicht erpressen, und große Sprüche im Stil des letzten Wahlkampfs helfen ganz bestimmt nicht weiter. Das haben die ökonomischen Experten der Syriza längst verstanden, die schon vor dem 6. Mai in allen Interviews Begriffe wie „Aufkündigung“ und „einseitiges Schuldenmoratorium“ zurückgewiesen und stattdessen „Neuverhandlungen“ mit der Troika und der EU verlangt haben. Nach dem 6. Mai haben sie diese „Korrektur“ der Tsipras-Slogans noch deutlicher ausgedrückt (insb. die Wirtschaftsprofessoren Giorgos Stathakis und Iannis Dragasakis).

Die Ökonomen der Partei wissen im übrigen auch, dass die Wähler sich fragen werden, wo das Geld für die laufenden Staatsausgaben (und die Rentenkassen) herkommen soll, wenn die nächsten Tranchen aus den Kassen des ESFS und des IWF ausbleiben. Auf diese Frage bekamen die Wähler seit dem 6. Mai aus den Reihen der Syriza eine Anzahl verstörender Antworten zu hören. Ein Syriza-Abgeordneter verwies darauf, dass ja die griechischen Banken noch über 165 Milliarden Euro an privaten Einlagen verfügen. Was erstens falsch ist, weil diese Gelder nur virtuell existieren, aber von den – gegenüber EZB und anderen Gläubigern – verschuldeten Banken nicht ausgezahlt werden könnten. Und was zweitens dazu beigetragen hat, dass immer mehr Griechen ihre Euros von der Bank holen und unter der Matratze verstauen. Und der alte Held der Linken, Manolis Glezos (der auf der Syriza-Liste ins Parlament gelangte) regte zur Auffüllung der Staatskasse einen „freiwilligen“ Monatsbeitrag von 100 Euro an, den alle Bezieher von Jahreseinkommen über 20 000 Euro abführen sollten.

Das sind dilettantische Konzepte, die auf die eine oder andere Weise nur den Fehler nachäffen, den die Pasok im Wahlkampf von 2009 gemacht hat, als sie verkündete: „Das Geld ist da“. Der griechische Staat ist nämlich längst bankrott, und jeder Politiker hat dies als Realität zur Kenntnis zu nehmen. Und wenn er Regierungsverantwortung übernehmen will, muss er sagen, mit welcher Strategie er diese Realität kurzfristig bewältigen und langfristig verändern will.

Eine Anpassung der Wahlparolen an die Realität würde die Glaubwürdigkeit der Syriza auch im Hinblick auf die zweite Frage erhöhen: wie die angestrebte linke Regierung – unter Ausschluss der Memorandum-Parteien – zustande kommen könnte. Denn auch wenn die Syriza stärkste Partei würde – sagen wir mit 25 Prozent der Stimmen – könnte sie mit den 50-Bonus-Sitzen nicht allein regieren. Da die KKE als Koalitionspartner nicht in Frage kommt (die von mir vor den Wahlen dargestellten Gründe gelten noch uneingeschränkt), bleibt als linker Partner nur die DIMAR. Die aber dringt auf Neu-Verhandlungen über das Moratorium und lehnt einseitige „Kündigungen“ ab.

Allerdings ist kaum damit zu rechnen, dass Syriza und DIMAR zusammen eine Mehrheit der Parlamentssitze erobern können, zumal die Umfragen zeigen, dass die Syriza in der kommenden Wahl vor allem auf Kosten der DIMAR (und der Pasok) zulegen könnte. Als dritter Koalitionspartner würde theoretisch die rechtspopulistische Partei der „Unabhängigen Griechen“ (AE) zur Verfügung stehen, der Tsipras schon vor dem 6. Mai – zum Entsetzen vieler Syriza-Mitglieder – deutliche Avancen gemacht hat. Aber eine solche Koalition kann man getrost ausschließen. Sie wird von der DIMAR entschieden abgelehnt und könnte nicht einmal den eigenen Anhänger als „linke Koalition“ verkauft werden, weil die AE ein extrem neoliberales Wirtschaftsprogramm vertritt und in der Außenpolitik wie in der Migranten-Frage nachgerade rechtsextreme Positionen vertritt.

Bei alledem ist noch längst nicht ausgemacht, dass die Syriza in vier Wochen stärkste Partei wird. Voraussetzung dafür ist erst einmal, dass sie die Wechselwähler halten kann, die ihr am 6. Mai von der Pasok und von der ND zugeströmt sind (Wahlforscher beziffern deren Anteil auf 50 Prozent der neuen Syriza-Wähler). Die aber sind mit Sicherheit entschiedene Euro-Befürworter und werden vor der nächsten Wahl wissen wollen, mit welcher Strategie Tsipras und seine Genossen dieses Ziel erreichen wollen. Die Antwort darauf ist der junge Parteichef bei den letzten Wahlen schuldig geblieben. Das ist sogar verständlich, weil man in einer Wahl, in der die Konkurrenten sich auf gut populistische Manier um bittere Wahrheiten gedrückt haben, nicht als einziger auf das Gefängnis der Realität verweisen kann, aus dem auch die anderen keinen bequemen Ausweg wissen. Aber in der nächsten Wahl wird das nicht ausreichen.

Viele griechische Kommentatoren setzen jetzt auf die Erwartung: Nachdem die Bürger am 6. Mai ihre Wut in einer „Bestrafungswahl“ abgelassen haben, werden sie am 17. Juni eine „Vernunftwahl“ treffen und sich „konstruktive“ Gedanken um die Zukunft machen. Auch wenn an diesem schlichten Argument einiges (aber keineswegs alles) richtig ist, beantwortet es noch nicht die Frage, welche Partei der zukunftsbesorgte griechische Bürger wählen soll. Aber für die Syriza gilt auf jeden Fall: eine maßgebliche Rolle wird sie nach dem 17. Juni nur spielen – ob als erster oder als zweiter Wahlsieger – wenn sie sich als die politische Kraft darstellt, die in neuen Verhandlungen über das unhaltbare griechische Sparprogramm, die veränderten Kräfteverhältnisse auf europäischer Ebene am geschicktesten und überzeugendsten auszunutzen weiß. Aber das wird sie nur können, wenn sie Vertrauen der Griechen wie der Europäer zu erwerben weiß. Beides aber kann sie nicht mit dem falschen Selbstbewusstein, das sie in den ersten Wahlen demonstriert hat, als weder Tsipras noch sonst jemand glaubte, dass ihre Partei jemals die stärkste Kraft in Griechenland werden könnte. Sondern nur mit glaubwürdigen Forderungen, die an die Solidarität der Europäer appelliert, ohne von der Realität zu abstrahieren.

Die Mainstream-Medien haben Tsipras vorgeworfen, dass er sich nach den ersten Wahlen nicht in „die Verantwortung“ einbinden ließ, die er selbst als „Komplizenschaft“ empfand. Damit hat man ihm die ungewöhnliche Haltung vorgeworfen, dass er sich an die Zusagen gehalten hat, die er vor den Wahlen gegeben hatte. Diese Haltung ist so sympathisch wie demokratisch. Aber die zweiten Wahlen geben ihm und seiner Partei die Chance, den griechischen Wählern endlich ein konkretes, realitätsbezogenes Konzept vorzutragen. Und ihnen zugleich klarzumachen, dass sich dieses Programm womöglich nur in Form von Kompromissen – mit anderen politischen Kräften in Griechenland wie im Bereich der EU -, also unvollständig durchsetzen lässt.

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Griechenland Wahlen

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