Griechenland vor den Wahlen

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Für die zweiten Parlamentswahlen, die Griechenland innerhalb von zwei Monaten erlebt, sagen die Demoskopen einen knappen Ausgang voraus. Nach den letzten Umfragen, die Anfang Juni veröffentlicht wurden (seitdem dürfen keine mehr publiziert werden) liegen die konservative Nea Dimokratia und die linke Syriza Kopf an Kopf und weit vor allen anderen Parteien. Beiden wird für die Wahl am Sonntag ein Stimmanteil von 25 und 30 Prozent prognostiziert; in einer Umfrage liegt die Syriza sogar über 30 Prozent und um vier Prozent vor der ND. Von Niels Kadritzke

Zwar könnten sich die Meinungsforscher dieses Mal genau so täuschen wie mit ihren Prognosen für die ersten Wahlen vom 6. Mai, als keine Umfrage den zweiten Platz der Syriza vorausgesagt hatte (die mit 16, 8 Prozent nur zwei Prozent hinter der ND zurück lag). Aber es wäre keinesfalls eine Überraschung, wenn am Sonntag Abend die Linkspartei vor der ND liegen und damit die 50 Bonussitze für die stärkste Partei verbuchen könnte.

Auch in diesem Fall wäre eine linke Regierung allerdings noch keineswegs beschlossene Sache, weil die Syriza auf keinen Fall die absolute Mehrheit von 151 Sitzen im Parlament erreichen kann. Sie wäre also entweder auf einen Koalitionspartner angewiesen oder auf die Tolerierung durch andere Parteien. Wie wahrscheinlich diese beiden Fälle sind, werde ich weiter unten darstellen. Doch selbst wenn eine linke Regierung zustände käme, würde diese vor denselben Problemen stehen wie ihre Vorgänger. Die entscheidende Frage lautet daher, wie die Syriza mit dem „Realitätsschock“ umgehen würde, dem sie „in der Verantwortung“ ausgesetzt wäre. Zumal sie im Wahlkampf die Aufkündigung der Sparprogramme versprochen und damit Hoffnungen geweckt hat, die sich nur sehr schwer werden einlösen lassen. Auch dazu unten mehr.

Die Sieger vom 6. Mai werden noch besser abschneiden

Fest steht in jedem Fall, dass die ND wie die Syriza ihren Stimmenanteil vom 6. Mai noch ausbauen werden. Und zwar in beiden Fällen auf Kosten der kleinen Parteien, die beim letzten Mal überraschend stark abgeschnitten haben, und der Wahlabstinenzler (zuletzt 35 Prozent). Die ND wird einen Teil der Wähler zurückerobern, die am 6. Mai für die „Unabhängigen Hellenen“ gestimmt haben, denen die Umfragen nur noch 5 bis 6 Prozent (nach zuvor 11 Prozent) voraussagen. Die Partei des Rechtspopulisten Panos Kammenos hat sich inzwischen selbst entzaubert: Obwohl der eifernde Nationalist im Wahlkampf geschworen hatte, niemals mit den „Parteien des Memorandums“ zusammen zu arbeiten („nur über meine Leiche“), bot er sich den anderen Parteien nach dem 6. Mai als Koalitionspartner an, vorausgesetzt man gibt ihm das Amt des Verteidigungsministers. Damit hat er sich in den Augen vieler seiner Wähler eben doch als Holz vom Stamme der alten, klientelistischen Rechten erwiesen.

Profitieren wird die ND auch von den Verlusten der faschistischen Partei „Chrysi Avghi“, die von ihren 7 Prozent 2 bis 3 Prozent einbüßen dürfte. Die Künder einer „goldenen Morgendämmerung“ haben durch ihr provokatives Auftreten viele der neu gewonnenen „Protestwähler“ verschreckt: Der Pressesprecher der Partei ging in einer Magazinsendung im Fernsehen so weit, auf eine KKE-Abgeordnete einzuschlagen, nachdem er zuvor einer Syriza-Vertreterin ein Glas Wasser ins Gesicht geschüttet hatte. Obwohl der Mann danach untergetaucht ist, hat sich die Partei nicht von ihm distanziert.

Da auch die rechtsradikale Laos (2,9 Prozent) weiter schrumpfen wird, dürfte die ND am rechten Rand des politischen Spektrums etwa 10 Prozent an Stimmen dazugewinnen. Ihr Wählerpotential läge damit bei 28 bis maximal 30 Prozent. Die meisten Beobachter glauben, dass die klassische Rechtspartei darüber hinaus keine neuen Wähler gewinnen kann.

Anders die Syriza. Sie könnte, so hoffen es vor allem ihre Anhänger, von der Dynamik einer „Krisenwahl“ noch weit über ihr letztes Wahlergebnis hinaus getragen werden. Zwei Faktoren sprechen dafür, dass die Syriza die Welle der politischen Dynamik ausreiten kann, die sie am 6. Mai zur zweitstärksten Partei gemacht hat. Zum ersten die absehbaren Verluste der orthodoxen Kommunisten von der KKE, die in den letzten Umfragen bei maximal 5 Prozent lag. Das würde gegenüber den Mai-Wahlen ein Minus von 3,5 Prozent bedeuten und die Partei auf das Niveau einer politischen Sekte zurückwerfen (die sie ideologisch ohnehin seit langem ist). Das ist kein Wunder angesichts der sterilen Politik der Kommunisten, die sich auf revolutionäres Geplauder beschränkt und damit den jugendlichen Schwung des Syriza-Vorsitzenden Alexis Tsipras umso dynamischer erscheinen lässt.

Ein zweites Indiz für die Erfolgsdynamik der Syriza ist ein spürbarer Linksruck im Wählerbewusstein. Der interessante Befund im letzten Politikbarometer des Instituts Public Issue liegt darin, dass sich zwischen Anfang April und Ende Mai 2012 der Anteil der Befragten, der sich der „Linken“ oder der „linken Mitte“ zuordnet, von 39 auf 50 Prozent gestiegen ist. Der Großteil dieser „Neubekehrten“ wird am Sonntag zweifellos Syriza wählen. Profitieren dürfte davon auch die DIMAR, deren Vorsitzender Fotis Kouvellis nach wie vor der beliebteste aller Politiker ist. Die linken Sozialdemokraten dürften ihren Stimmenanteil vom 6. Mai (6,1 Prozent) leicht verbessern. Dagegen wird die Pasok von den meisten linken Wählern nicht mehr dem progressiven Lager zugerechnet, sondern vorwiegend als Teil des alten, korrupten „Systems“ gesehen, das ihr Land in die Krise hinein geritten hat. Die ehemalige linke „Monopolpartei“ wird laut letzten Umfragen ihre 13, 2 Prozent nur mit Mühe halten können.

Könnte die Syriza eine Regierung bilden?

Selbst wenn die Syriza nicht stärkste Partei wird, hat sie sich in jedem Fall als dominierende neue Kraft etabliert. Das zeigt sich schon daran, dass der ND-Vorsitzende Samaras sich vier Tage vor den Wahlen gezwungen sah, die Syriza als Koalitionspartner einer breiten „Regierung der nationalen Rettung“ nicht auszuschließen. Seine Äußerung zeigt, dass die Bildung einer handlungsfähigen Regierung mit den Wahlen vom 17. Juni, die sowohl die ND als auch die Syriza angestrebt haben, keineswegs leichter geworden ist als nach dem 6. Mai. Der große Unterschied ist allerdings, dass sich das Land keinen dritten Wahlgang leisten kann, schon weil sich die ökonomische und fiskalische Lage des Landes in den sechs Wochen zwischen den beiden Wahlen noch dramatischer zugespitzt hat. Alle Parteien sind sich darin einig, dass eine neue Regierung möglichst schnell, und auf jeden Fall innerhalb einer Woche stehen muss. Fragt sich nur, ob unter linkem oder unter rechtem Vorzeichen.

Wenn die ND gewinnt – und damit über 120 bis 130 Parlamentssitze verfügt – würde sie als Koalitionspartner die Pasok, die DIMAR und vielleicht sogar die Unabhängigen Hellenen ansprechen. Rein rechnerisch könnte damit eine ND-geführte Mehrheit zustande kommen, bei der sich alle Koalitionspartner über zwei Ziele einig sind: den unbedingten Verbleib Griechenlands in der Eurozone und neue Verhandlungen mit der „Troika“, also vor allem den EU-Partnern über wesentliche Änderungen des „Rettungsprogramms“ (Memorandum genannt). Über die Parameter eines neue ausgehandelten Memorandums sind sich die genannten Parteien allerdings völlig uneins; die ND fordert z.B. niedrigere Steuern für Unternehmen wie für die Reichen, die für Pasok und DIMAR völlig unakzeptabel sind (von der Troika ganz zu schweigen).

Noch schwieriger wird eine Regierungsbildung für die Syriza. Auch wenn sie als stärkste Partei die 50 Bonussitze beanspruchen könnte (die sie früher immer als hochgradig undemokratisch gegeißelt hat), wäre sie noch immer auf einen Koalitionspartner angewiesen. Dass als solcher die KKE nicht zur Verfügung steht, haben die Kommunisten in den letzten Wochen noch eindeutiger erklärt als vor dem 6. Mai (siehe dazu meine Analyse vom 2. Mai auf den NachdenkSeiten). Die nötigen Sitze zu einer linken Regierungsmehrheit (von 151 Sitzen) könnte theoretisch die DIMAR beisteuern, wenn sie auf sieben Prozent Stimmenanteil kommen würde. Aber eine solche Zweier-Koalition ist höchst unwahrscheinlich, weil Kouvellis in den Koalitionsverhandlungen nach dem 6. Mai stets betont hat, die DIMAR strebe eine Regierung auf breiterer Grundlage an, die auch eine gesellschaftliche Mehrheit repräsentieren müsse (beide Parteien würden zusammen höchstens 40 Prozent der Wähler vertreten).

Zudem betonte Kouvellis in den letzten Wochen entschiedener als je zuvor, dass das Hauptziel einer neuen Regierung sein müsse, den Ausschluss aus der Eurozone und die Rückkehr zur Drachme zu verhindern. Genau dieses Ziel sieht er aber durch den Wahlslogan der Syriza gefährdet, eine linke Regierung werde das Memorandum einseitig „aufkündigen“ und danach neue Verhandlungen mit den Gläubigern Griechenlands fordern. In seiner letzten Wahlrede ging Kouvellis mit dieser Position scharf ins Gericht: Es sei eine Illusion zu glauben, man könne die Abmachungen einfach aufkündigen, weil die Gläubiger dennoch weiter zahlen würden. Diese Position müsse die Syriza aufgeben: „Wenn ihr die Regierungsverantwortung tatsächlich anstrebt, dann zeigt endlich das entsprechende Verantwortungsbewusstsein.“ Seine Partei werde nur in einer Regierung mitmachen, „die den Platz Griechenlands in der EU und in der Eurozone nicht gefährdet“.

Das ist eine klare Aussage. Die allerdings die Möglichkeit offen lässt, dass die Syriza sich nach den Wahlen von ihrer „Kündigungsparole“ distanziert und dies ihren Anhängern als Zugeständnis an die DIMAR verkauft, um eine linke Regierung zu ermöglichen. Während die Linkssozialdemokraten sich mit der Errungenschaft schmücken könnten, Tsipras und die Syriza „zur Vernunft gebracht“ zu haben. Dieses Szenario ist dennoch unwahrscheinlich, weil das Misstrauen zwischen den ehemaligen Genossen (der Kern der DIMAR ist eine „rechte“ Abspaltung von der alten Syriza) in den letzten Wochen noch weiter zugenommen hat.

Trotz der objektiven Notwendigkeit einer schnellen Regierungsbildung weiß also derzeit niemand, welche Art Regierung ein Wahlsieg der Syriza realistischerweise ermöglichen würde. Angesichts dessen werden in Athen auch gänzlich unwahrscheinliche Szenarien gehandelt. In Syriza-Kreisen rechnet man sich sogar die Möglichkeit zurecht, dass Tsipras eine Minderheitsregierung bilden könnte. Und das soll folgendermaßen gehen: Laut Art 84. Abs.6 der Verfassung sei bei einem Vertrauensvotum für die Regierung lediglich die absolute Mehrheit der anwesenden Abgeordneten nötig, die allerdings zugleich zwei Fünftel der 300 Parlamentarier entsprechen müsse. Demnach könnten 120 Syriza-Abgeordnete eine Regierung Tsipras wählen, wenn weniger als 240 Abgeordnete an der Abstimmung teilnehmen würden.

Dieses Denkmodell ist aus zwei Gründen ein abstruses Kalkül: Erstens bezieht sich die zitierte Verfassungsbestimmung erkennbar auf das Vertrauensvotum für eine etablierte Regierung (bei einer Krise innerhalb der Legislaturperiode) und nicht auf die Vertrauensabstimmung, die zu aller erst eine neue Regierung konstituieren soll. Und zweitens setzt es voraus, dass mindestens 60 Abgeordnete freiwillig auf ihre Mitsprache über eine Regierungsbildung verzichten. Wie ein solches machttechnisch fragwürdiges Verfahren die Legitimität einer neuen „demokratischen“ Regierung der Linken begründen soll, bleibt das Geheimnis der Syriza-Strategen, die solche Ideen in die Welt setzen.

Einseitige Aufkündigung oder Neuverhandlung?

Die Unwägbarkeit der Nachwahl-Szenarien spiegelt freilich nur die verwirrende Befindlichkeit der griechischen Wähler selbst, die ich am 14. Mai in meinem Beitrag nach den Wahlen vom 6. Mai beschrieben habe: Wenn es überhaupt einen „griechischen Gesamtwählerwillen“ gibt, so wünscht der sich eine Regierung, „die unbedingt am Euro festhält, zugleich aber das Memorandum abschafft. Eine solche Regierung wird es nicht geben. Sie ist weder nach dem Wahlresultat möglich, noch entspricht sie der aktuellen Realität jenseits von Griechenland (was natürlich noch gravierender ist).“

Dieser Satz bleibt auch nach dem 17. Juni richtig. Wie die neuesten Umfragen zeigen, hat die „Angst vor der Drachme“ noch weiter zugenommen; heute wollen 85 der Griechen unbedingt in der Eurozone bleiben, weil sie wissen, was damit auf sie zukommen würde. Zugenommen hat aber auch die „Unerträglichkeit des Seins“ unter dem Diktat der Sparprogramme. Das macht die Versprechungen der Syriza umso attraktiver, die den Wähler die Erlösung von den schlimmsten Sparkonsequenzen in Aussicht stellt, ohne den Austritt oder Ausschluss aus der Eurozone zu riskieren.

Wie die Syriza das bewerkstelligen will, habe ich ausführlich dargestellt (siehe NachdenkSeiten vom 16. Mai). In seinen Reden vor dem 6. Mai wurde Parteichef Tsipras nicht müde, die „Aufkündigung“ des Memorandums zu versprechen und zugleich die aus EU-Kreisen zu vernehmende Drohung mit der Rückkehr zur Drachme als „Bluff“ abzutun, auf den die Griechen nicht hereinfallen dürfen. Inzwischen fallen die Aussagen der Partei in diesem Punkt deutlich zurückhaltender aus. Bezeichnend ist die Auskunft, die der Wirtschaftsexperte der Partei, Prof. Giorgos Dragasakis der Frankfurter Rundschau (14. Juni) gegeben hat: „Wir sprechen nicht von einem einseitigen Zahlungsstopp, sondern von einer Einigung mit unseren Gläubigern.“ Hier äußert sich in der Tat ein Realist, der sehr wohl weiß, dass man Verhandlungen nicht mit einem fait accompli beginnen kann. Allerdings dokumentiert die Aussage auch ein „double speak“ der Syriza, das sie mit den übrigen griechischen Parteien gemein macht: Im Ausland erzählt man, was einen guten Eindruck macht, den Wählern erzählt man, was Stimmen bringt. Und da inzwischen alle anderen Parteien (einschließlich der Pasok) entschieden eine „umfassende Neuverhandlung“ der Sparprogramme fordern, muss die Syriza im Wahlkampf ihr „Alleinstellungsmerkmal“ betonen, indem sie auf der „Aufkündigung“ des Memorandums besteht.

Nun kann man einer Partei schlecht vorwerfen, dass sie Wahlkampf macht. Und zweifellos hat die Syriza sich seit dem 6. Mai bemüht, den Wählern eine konkrete Alternative zur gescheiterten Politik des Memorandums vor Augen zu führen. Die Frage ist nur, wie sie ein Programm umsetzen will, das auf die „Solidarität der Europäer“ angewiesen ist, also hinreichend realistisch sein muss, um die Sympathie nicht nur wohlwollender EU-Politiker, sondern auch einer breiteren europäischen Öffentlichkeit zu gewinnen. Wenn das nicht gelingt, droht Tsipras das Schicksal – auch und gerade nach einem Wahlsieg – statt zum potentiellen Retter zum verfluchten falschen Propheten zu werden.

Das Wirtschaftsprogramm der Syriza und seine Lücken

In einem Artikel für die Financial Times (publiziert am 13. Juni) verzichtet der Syriza-Vorsitzende auf die „Kündigungsdrohung“ und verweist auf den „nationalen Plan für Wiederaufbau und Wachstum“, den die Syriza dem „gescheiterten Memorandum“ entgegensetzt. Tsipras bezieht sich damit auf ein Dokument, das die Partei vor zwei Wochen verabschiedet hat. Jeder vernünftige Mensch, der diesen „nationalen Plan“ liest, wird vorwiegend plausible, überzeugende und realistisch klingende Aussagen finden (englische Version). Aber man muss schon etwas genauer hinsehen.

Gegenüber der FT betont Tsipras vor allem die scharfe und höchst berechtigte Kritik am Versagen des griechischen Steuersystems, das dazu geführt hat, dass die griechischen Staatseinnahmen weit unter dem Durchschnitt der Euro-Zone liegen. Und er betont, sein „Programm einer pragmatischen und sozial gerechten Stabilisierung der öffentlichen Finanzen“ ziele an, die Staatseinnahmen aus direkten Steuern um mindestens 4 Prozent (bezogen auf das BIP) anzuheben und die Staatsausgaben auf dem Niveau von 44 Prozent (des BIP) zu „stabilisieren“.

Das ist ein in der Tat „moderates“ und „pragmatisches“ Konzept der Haushaltskonsolidierung. Aber wenn man sich das Programm näher ansieht – und erst recht wenn man Syriza-Wahlverlautbarungen hört – wird man konkrete Vorschläge vermissen, wie eine linke Regierung die höheren Staatseinnahmen und die „Stabilisierung“ der Staatsausgaben erreichen will. Ein signifikantes Beispiel: Bei der Besteuerung ist immer nur von „den Reichen“ die Rede, oder konkret von griechischen Reedern, die ihre Vermögen im Ausland oder gar nicht versteuern. Der „Mittelstand“ hingegen wird pauschal als Opfer der ungerechten Steuerpolitik dargestellt. Dabei gehören gerade die Freiberufler (die in Griechenland einen Großteil des Mittelstandes ausmachen) zu den notorischen Steuerbetrügern. Von diesen Architekten, Rechtsanwälten und anderen Freiberuflern, die mehr Verantwortung für den Staatsbankrott tragen als jede andere soziale Gruppe, ist bei der Syriza kaum die Rede, weil sie als Wähler umworben werden. Im Gegenteil: Das „nationale Programm“ verharmlos die notorische Steuervermeidung als ein gesellschaftliches Phänomen, das lediglich „eine perverse Reaktion auf das Problem der Konkurrenz durch große Unternehmen und monopolistische Strukturen“ darstelle, zu der sich kleine Geschäftsleute und Freiberufler gezwungen sehen. Die Hinterziehung von Steuern und Sozialabgaben (für Angestellte) wird zu einer „Überlebensstrategie“ stilisiert, die lediglich „in gewissen Fällen zur unerwünschten Akkumulation von Reichtum“ führe.

Mit solchen verharmlosenden Analysen übersieht man etwa gezielt die Hunderttausende von Ferienhäusern, die aus unterlassenen Steuerzahlungen finanziert wurden. Auf ähnlich wolkige und opportunistische Art äußert sich die Syriza über die staatlichen Ausgaben. Die sollen zwar effektiver werden und dem Bürger zugute kommen, aber die skandalöse staatliche Personalwirtschaft – vor allem im Bereich der öffentlichen und halböffentlichen Betriebe – wird nicht thematisiert. Vergeblich wird man in dem „nationalen Plan“ einen Hinweis auf die überbesetzten Behörden und staatlichen Agenturen finden, wo es von „Vorgesetzten“ und Abteilungsleitern wimmelt, die fette Gehälter, aber kaum „Untergebene“ haben. Der Klientelismus wird zwar zurecht als Ergebnis einer langjährigen Vetternwirtschaft der jeweiligen Regierungsparteien dargestellt, aber dessen Resultat, nämlich ein aufgeblähter öffentlicher Sektor wird nicht in Frage gestellt, weil man sich dann mit den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes und der öffentlichen Betriebe anlegen würde.

Ich verweise auf diese Lücken in diesem sehr ausführlichen und durchdachten Wirtschaftsprogramm aus einem ganz bestimmten Grund: Bei den von der Syriza – und fast allen Griechen – erhofften Neuverhandlungen über das Memorandum mit der Troika wird es nicht nur um die Erleichterungen, Entlastungen und längeren Fristen für die finanzielle Konsolidierung des Landes gehen. Die sind, um das Sparprogramm zu einem wirklichen „Rettungsprogramm“ zu machen, ebenso unabdingbar wie die Wachstumsimpulse über ein europäisches Förderprogramm, die Griechenland und die Syriza mit Recht einfordern. Aber auch die europäischen Partner, die Griechenland wirklich „retten“ wollen (und sei es nur um der Rettung der Eurozone willen), werden von einer neuen Athener Regierung eine Gegenleistung fordern. Und zwar nicht neue Einsparungen und Einkommenseinbußen, die das Unheil nur vergrößern und verlängern, sondern langfristig wirksame und unabdingbare Leistungen, die nur die Griechen selbst erbringen können. Das ist vor allem eine Reform des öffentlichen Dienstes an Haupt und Gliedern, einschließlich eines radikal verschärften Mechanismus für das Erheben und effektive Einziehen von Steuern und Abgaben. Man wird bei keinem deutschen oder französischen Facharbeiter Verständnis oder gar Solidarität für „die Griechen“ wecken können, solange der griechische Staat nicht in der Lage ist, seinen Mittelstand zur Finanzierung der Staatsausgaben heranzuziehen, und zugleich seine unterdurchschnittlichen Einnahmen an einen Klientelstaat verschwendet, von dem in der Vergangenheit auch viele derjenigen profitiert haben, die sich heute dem linken Lager zurechnen und zum ersten Mal Syriza wählen.

Eine Neuverhandlung des Memorandums ist unerlässlich

Die eigentliche Tragödie, oder wenn man will: die Farce der anstehenden Wahlen besteht nun freilich darin, dass die Partei, die sich den europäischen Partnern als „verlässliche“ Alternative zur „leichtsinnigen“ Syriza anbietet, ausgerechnet die Nea Dimokratia, also die Inkarnation aller alten Übel ist. In dieser Situation kann man sich nur wünschen, dass die griechische Linke nach den Wahlen den Crashtest mit der Realität so überstehen kann, dass das Land in der Eurozone überlebt. Das aber kann die Syriza nur, wenn sie ein Wahlversprechens bricht, das sie allzu leichtfertig gegeben hat: die einseitige Aufkündigung des Memorandums. Denn eine Kündigung würde nahezu unmöglich machen, was die griechische Gesellschaft am dringlichsten braucht. Und das ist eine faire, realistische und solidarische Neuverhandlung der Programme, die nicht nur Griechenland sondern alle südlichen Euroländer und damit die Eurozone insgesamt retten kann. Die Chancen für solche Verhandlungen stehen günstiger als noch vor drei Monaten (nicht zuletzt deshalb, weil die Berliner Regierung auch innerhalb der Eurozone zunehmend isoliert ist). So sieht es auch die neuste Griechenland-Analyse von Reuters, die im Hinblick auf die griechischen Wahlen prophezeit: „… whoever wins, the Greek programme will need to be renegotiated after the election“.

Stefanos Manos, ein Kritiker des griechischen Klientelstaats aus dem liberalen Lager, hat vor einigen Tagen eine gelassene Prognose gemacht: Die Syriza werde sich einen Teufel tun, mit der Aufkündigung des Memorandums die nächsten bailot-Raten der EU und des IWF zu gefährden. Denn nur mit diesem Geld könnte sie ihrem Wählerstamm, den Manos im öffentlichen Dienst vermutet, die Fortzahlung der Gehälter garantieren.

Mit dieser Polemik identifiziert der alte Zyniker einen neuralgischen Punkt jeder künftigen Regierung. Der griechische Staat ist nach den Wahlen noch mehr pleite, als es meisten Wählern vor ihrer Stimmabgabe bewusst war: In den ersten vier Monaten dieses Jahres sind die Steuereinnahmen dramatisch hinter der Vorausschätzung zurückgeblieben, nämlich um 1,7 Milliarden Euro. Das erklärt sich nicht nur mit der weiter einbrechenden Konjunktur (die neuesten Schätzungen gehen für 2012 von einem Minuswachstum von mindestens 6 Prozent aus) und mit der völligen Lethargie der Finanzbeamten, wie sie für Vorwahlzeiten charakteristisch ist. Der wichtigste Faktor ist zweifellos die Drohung mit der Rückkehr zur Drachme, die seit Wochen von vielen Wirtschaftsexperten und Spekulanten beinahe schon als Realität gehandelt wird. Denn jenseits aller anderen Motive ist es für den griechischen Steuerzahler eine rationale Option, die dem Staat geschuldete Summe nicht zu zahlen, wenn er sie in einem Jahr (samt Strafgebühren) in Drachmen begleichen kann.

Dies ist nicht das einzige Beispiel, an dem sich demonstreiren lässt, dass die gezielt oder ungezielt verbreiteten Drachmen-Szenarien für Griechenland fast ebenso schädlich sind, wie es das tatsächliche Ausscheiden aus dem Euro wäre. Die Angst vor der Rückkehr der Drachme ist auch für Geldabflüsse von den griechischen Banken verantwortlich (die seit Anfang Mai angeblich eine zweistellige Milliardensumme erreicht haben), und natürlich für das mangelnde Interesse von Investoren, die bekloppt wären, wenn sie ihre Euros in Griechenland jetzt anlegen würden, statt auf die billige Drachme zu warten.

Um so größer ist die Verantwortung jeder neuen Athener Regierung, alles zu vermeiden, was diesen Gerüchten neue Nahrung gibt. Aber das heißt umgekehrt für die europäischen Partner: Wer Griechenland wirklich retten will, muss gegen diese Gerüchte nicht nur anreden, sondern ihnen wirksam entgegentreten. Und das tut man nicht mit irgendwelchen Plänen B, C oder D.