Wolfgang Niedecken: „Geld beruhigt, aber ich verprasse es nie“

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Ein „offener Brief“ zu Niedeckens Interview mit dem Handelsblatt am 14.Juli 2012
Wer hätte das gedacht, dass der in die Jahre gekommene Rock’n’Roller Wolfgang Niedecken inzwischen in der Denkwelt der „schwäbischen Hausfrau“ lebt? Anstatt – wie es Rockern nachgesagt wird – exzessive Partys zu feiern und es richtig krachen zu lassen, sinniert er nun in einer konservativen Wirtschaftszeitung über seinen sparsamen Umgang mit Geld, über faule Hippie-Modelle und über seine politischen Buddys.
Bei dem, was Herr Niedecken in dem Handelsblatt-Interview so von sich gibt, dürften sich die meisten seiner Fans verwundert die Augen reiben. Denn die meisten der BAP-Fans dürften wohl kaum zur finanziell gut gestellten, wertkonservativen bürgerlichen Mittel- und Oberschicht gehören. Von Jürgen Beck[*]

Hallo Wolfgang Niedecken,

wenn man Ihr Interview liest, kann man fast den Eindruck gewinnen, dass wir in Deutschland auf einer Insel der Glückseligen leben.

  1. Weil wir „Hurra“ schreien können, dass „unser Existenzminimum“ höher liegt als in Afrika.
  2. Weil Gerhard Schröder die AGENDA 2010 „gemacht“ hat und
  3. Weil es Ihrer Meinung nach Korruption nur im „ausgebeuteten“ Afrika gibt und diese Ausbeutung den Chinesen „vollkommen egal“ ist.

Das alles mag für Ihre „Lebenswirklichkeit“, wo auf dem Konto „auf einmal von Millionen die Rede“ ist, zutreffen, hat aber mit der Realität von Millionen von Menschen, die unter dem Diktat der Agenda 2010 leben müssen, nichts mehr gemein. Diese Agenda, für die Schröder bei Ihnen einen „Bonuspunkt“ hat, hat diese Republik weitaus mehr verändert, als Sie sich das offenbar noch vorstellen können. Aber Sie gehören ja inzwischen zu denen, die „verantwortlich investieren“ und die „Geld beruhigt“. Für die, die unter den Verhältnissen der Agenda leben müssen, sieht die Welt aber ganz anders aus. Und das haben Sie wohl vergessen oder aus Ihrer „Lebenswirklichkeit“ verdrängt.

Richtig ist natürlich, dass unsere Kinder nicht mehr in „Bergwerken“ schuften müssen. Um diese Ausbeutung zu bezwingen, mussten allerdings Arbeiter über ein Jahrhundert mit Blut, Schweiß und Tränen kämpfen. Die Gewerkschaften haben dafür gekämpft, dass Arbeiter Rechte erhalten und diese auch durchsetzen können, wenn profitgierige Unternehmer die Standards der Menschenrechte wieder abbauen wollten. Und die Partei der Arbeiter, der „kleinen“ Leute waren die Sozialdemokraten. Die SPD war so etwas wie das soziale Gewissen der sozialen Marktwirtschaft. In dieser Tradition war Deutschland gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien lange Zeit ein verlässlicher Partner in Europa und der Welt mit einem ordentlichen Wohlstand und einem Sozialsystem, das sich sehen lassen konnte. Es gab eine Zeit in der viele eine Chance hatten, aufzusteigen und in der man von seiner eigenen Hände Arbeit ohne staatliche Zuschüsse leben konnte. Ich hätte mir niemals vorstellen können, das selbst noch die Jahre unter der Regentschaft von Helmuth Kohl zu den Besseren gehörten im Vergleich zu dem, was durch eine rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder an Sozialabbau betrieben wurde. Wie froh war ich als diese scheinheiligen bürgerlichen Unionsparteien und die FDP mit ihren Schwarzgeldkonten und ihren unappetitlich, geschmacklosen Lügen von dem Hoffnungsträger Gerhard Schröder abgelöst wurde. Ja, ich habe ihn auch gewählt. Aber was für eine Enttäuschung musste ich erleben. Heute steht für mich fest, Kanzler Schröder hat nicht nur der SPD geschadet wie noch kein Vorsitzender vorher, er hat vor allem auch das Land – dem Zeitgeist entsprechend – die neoliberalen Reformen aufgedrückt, die unter anderem mit der von Ihnen so hochgelobten AGENDA 2010 das Land in Arm und Reich spalteten.

Und Sie glauben wirklich Gerhard Schröder wurde für seine AGENDA 2010 „abgestraft“? Da wünschte ich den vielen Menschen, die Gerhard Schröder und seine rot-grüne Mannschaft in Armut und Existenzangst gedrängt haben, gleichfalls eine so gut dotierte „Bestrafung“, wie sie sich der Ex-Bundeskanzler nach seinem Ausscheiden etwa mit seiner Rolle bei Gazprom eingehandelt hat.

Nein nicht Schröder wurde „abgestraft“. Abgestraft wurden Millionen von Menschen, die im Niedriglohnbereich arbeiten oder im modernen Sklavenhandel als Zeitarbeiter für viel weniger Lohn die gleiche Arbeit verrichten müssen. Ganz zu schweigen von den Aufstockern, die noch nicht mal von einem Full-Time Job leben können und die erniedrigenden Hartz IV-Schikanen über sich ergehen lassen müssen, um in unserem Land überleben zu können.

Reden Sie doch mal wieder mit Menschen ab 50 oder jemand in Ihrem Alter, die in der Arbeitslosigkeit gelandet sind und die auf die Hilfe von Schröders Hartz-Konzept angewiesen sind. Sprechen Sie doch bitte mal mit Behinderten, Alten und Kranken, was es bedeutet in dem Sozialverwaltungsmoloch, der nur das Schlechte im Menschen sieht, notwendige Hilfen zu beantragen. Sprechen Sie mit Freiberuflern, die sich mit Sachbearbeitern, rumplagen müssen, weil ihre Tätigkeit das Existenzminimum nicht einbringt.

Sie „verprassen“ Ihr Geld angeblich nicht. Aber was heißt das schon, wenn man mit ach und Krach „die Stellen (auf seinem Konto) bemerkt“ die vor dem Komma stehen und wenn auf einmal „von Millionen die Rede“ ist und deshalb „nur noch Angst“ aufkommt. Besinnen Sie sich doch wieder einmal auf die Zeit vor 30 Jahren zurück, und versuchen Sie sich zu erinnern, wie es ist, wenn man nicht weiß, wie man seine Miete bezahlen soll oder ob man noch Sprit im Auto hat. Gehen Sie mal wieder aus Ihrer „gated“ Villa in Köln Marienburg heraus, und besuchen Sie die Ghettos, in denen Agenda-Oper leben.

Stellen Sie doch nur einen Augenblick vor, Sie müssten einen Antrag stellen, um neue Unterhosen kaufen zu können? Vielleicht ist der Sachbearbeiter ja so gnädig und gewährt Ihnen einen Kredit? Der wird Ihnen aber vom Hartz IV-Satz monatlich in Raten abgezogen. Ist ja kein Problem, wenn man dann ab dem 20. Des Monats keinen Cent mehr hat. Man kann ja zur „Tafel“ gehen und mit seinen Kindern umsonst essen. Ja, sie haben Recht, auch darüber wäre man in Afrika froh, Herr Niedecken, aber ist das ein Grund, die Lebenswirklichkeit bei uns hier zu vergessen?

Wissen Sie eigentlich wie viele Kinder hier in Armut leben? Zahllose Kinder müssen zur Tafel gehen, weil sie das Mittagessen in der Schule nicht zahlen können. Alleinerziehende Müttern wurde das Kindergeld, gestrichen. Elterngeld gibt es für Hartz Empfänger überhaupt nicht.
Wissen Sie dass es fast 8 Millionen gibt, die von Hartz abhängig sind? All diese Menschen, jeder zehnte in Deutschland, wird in den Medien in vernichtender, unmenschlicher und erniedrigender Art und Weise als faul, alkoholkrank und dumm diffamiert. Die Agenda 2010 hat zu einer sozialen und gesellschaftlichen Ausgrenzung geführt, die unsere Gesellschaft gespalten hat. Die Schichten werden gegeneinander aufgehetzt und die Gesellschaft hat sich entsolidarisiert. Die, die nichts haben hauen und stechen auf Die, die gar nichts haben.

Das sind die bitteren „Wahrheiten“, die Ihr Buddy Gerhard Schröder mit seinen grünen Freunden unter dem vergifteten Applaus aus Union und den Marktliberalen dem einfachen lohnabhängigen Volk gebracht hat und die uns Merkel weiter verordnet. Dabei hat Gerhard Schröders Politik Sie und die reichen Eliten entlastet. Noch nie waren die Steuersätze so niedrig für selbständige Einkommen. Noch nie wurde Kapital so verschont. Die Kosten zur Finanzierung des Gemeinwohls wurden auf die Schultern der Lohnabhängigen gelegt, während die selbständigen Einkommen und Vermögen entlastet wurden. Die Umverteilung von unten nach oben ist mit den Händen zu greifen. Sie haben davon auch profitiert!

Gerhard Schröder hat sich massiv dafür eingesetzt das Banken und Finanzmärkte dereguliert werden. Hedgefonds und alle giftigen Papiere, die die Banken entwickelt haben, wurden unter Rot/Grün in Deutschland zugelassen. Das führte dazu dass uns die Finanzmärkte bis heute von einer Krise in die nächste Krise treiben. Die Kosten für diese Zockerei wurden sozialisiert und die Gewinne in obszöner Höhe werden nach wie vor von den Managern und Shareholdern mitgenommen.

Die Staaten wurden in Haftung genommen und die Bürger dürfen bluten. Vor allen Dingen die sozial Schwachen. Das ist das Ergebnis der neoliberalen Politik, deren Politiker sie „gerne“ haben, Herr Niedecken! Und dafür bekommt Gerhard Schröder von Ihnen „einen großen Bonuspunkt“.

Wenn Sie unter der Knute der Agenda leben müssten, könnten nicht mal eben einen Café in der Südstadt trinken, geschweige denn das Konzert vom „Boss“ (Bruce Springsteen) im Müngersdorfer Stadion besuchen oder eins von der „kölschen Band BAP.“ Übrigens ist „der Boss“ ganz anders drauf als Sie. Er solidarisiert sich mit den Arbeitern und den Ärmsten in Amerika auf seiner neuesten CD „Wrecking Ball“. So radikal wie er über die Finanzjongleure in seinem Song „Easy Money“ herzieht, das ist von so einer Wucht das man schon Angst bekommen könnte. Er siniert darüber nach („Jack of all Trades“), wie es wohl wäre eine Waffe zu besitzen und sie einzusetzen gegen die, die pausenlos über Leichen gehen, um ihren Wohlstand zu mehren. Springsteen hat nicht vergessen, wo er herkommt.

Sie sind ohne Zweifel ein großartiger und vielseitiger Künstler, der am Beginn seiner Karriere linke, ökologische und antirassistische Protestaktionen unterstützte und für sein politisches und gesellschaftliches Engagement mehrfach mit höchsten politischen Auszeichnungen geehrt wurde.

Es geht hier aber nicht um Lob oder Kritik Ihrer Leistungen als Musiker und bildender Künstler, sondern um ein Interview, das Sie nun gerade dem Handelsblatt gegeben haben. Was Sie dort sagen, zeugt von einer durch Geld ermöglichten „Beruhigtheit“ gegenüber der Wirklichkeit des Jahres 2012 in Deutschland und von einer nur noch naiv zu nennenden Kritiklosigkeit.

Sie wissen nicht mehr, was heute „Links“ bedeutet, sagen Sie. Sie sind inzwischen ein Fan vom ehemaligen „Genosse der Bosse“ Gerhard Schröder, weil er nach Ihrer Meinung auch „mit bitteren Wahrheiten“ daherkam. Das imponiert Ihnen? Das scheint offenbar auch viele bürgerliche Zeitgenossen zu beeindrucken, in deren Umgebung Sie sich offenbar bewegen. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ sagt man in diesen Kreisen und leistet der Rassenhetze à la Sarrazin Vorschub.

Letzteres trifft natürlich nicht auf Sie zu. Sie haben sich immer vorbildlich gegen die braune Pest und die neuen Nazis eingesetzt. Ihr Engagement für Afrika verdient hohen Respekt.
Aber offensichtlich ist Ihnen leider der Blick für die Zustände in Ihrer Heimat verloren gegangen. Ihr Interview belegt, wie weit Ihre „Lebenswirklichkeit“ von derjenigen der „kleinen Leute“ entfernt ist, an die man – wie Sie immerhin einräumen – hätte „mehr denken sollen“.

Sie selbst sind ja heute auch „Chef“ und lassen von Freunden aus der Wirtschaft, die Ihnen „Freundschaftsdienste“ leisten, helfen, um Ihr „Unternehmen“ zu leiten. Auch Gerhard Schröder hat solche Männerfreundschaften genutzt. Er ist direkt bei Putin eingestiegen. Imponiert Ihnen das etwa auch?

Seitdem die Schröder-Netzwerker und der Seeheimer Kreis das Ruder übernommen haben ist die Sozialdemokratie zu einer profillosen Hülle rechts der Mitte verkommen. Gerhard Schröder ist der Taufpate der Linken. Politiker wie Gerhard Schröder haben dafür gesorgt dass die Politikverdrossenheit im Land stetig wächst. Diese Politikverdrossenheit, die durch korrupte Politiker, Scheckbuchdemokratie, Lobbyismus und Gefälligkeitsstudien immer weiter fortschreitet, ist einer der Hauptgründe für den Erfolg der Piratenpartei, die Sie „ganz furchtbar“ finden. Für viele Menschen ist der Berufspolitiker jemand der sich in einem Selbstbedienungsladen seine Vorteile raus pikt, der Wasser predigt und selbst Wein trinkt. Darum gibt es Bewegungen wie die Piraten Partei und das sollte Ihnen zu denken geben. Sie aber fokussieren sich nur auf das geistige Eigentum, das Piraten angeblich für umsonst ausschlachten wollen. Und sie fürchten um die Verkaufszahlen Ihrer Tonträger. Aber auch da würde Ihr Vorurteil einer genaueren Betrachtung nicht Stand halten.

Sicherlich haben Sie im Moment andere, sehr persönliche Probleme und ich wünsche Ihnen eine gute Gesundheit. Aber vielleicht erinnern Sie sich gelegentlich doch noch einmal daran, wo Sie her kommen: die Südstadt, das Stollwerk, Arsch Huh… Es gab da noch Solidarität und Empathie zwischen den Künstlern und vor allem auch mit den Menschen, die benachteiligt sind und an den Rand geschoben wurden. Es gab eine Aufbruchsstimmung, auch gegen Immobilien-Haie und gegen den kölschen Klüngel.

Wo sind die kritischen und mitfühlenden Stimmen der etablierten Künstler heute? Wo die kritischen Texte? Auch von Ihnen?

Gerade Sie könnten etwas bewegen. Ich frage Sie als Vater vierer Kinder, in welcher Gesellschaft sollen Ihre Kinder in Zukunft leben?

Ich wünschte Ihnen mehr Bruce Springsteen und weniger Gerhard Schröder.

In diesem Sinne

gute Besserung und alles Gute für Sie und Ihre Familie

Jürgen Beck


[«*] Jürgen Beck, alias „Kaiserbubu“ ist „Rollstuhlgitarrist“ („Hartwort-Wortart“) und früherer Impresario zahlreicher musikalischer Events und Musikproduzent. Er komponiert und spielte in vielen Bands u.a. bei Purple Schulz. Er ist seit 2006 – nach einem Sportunfall – behindert und auf einen Rollstuhl angewiesen und muss heute von der Künstlersozialkasse leben.

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