Das Gerede über Demographie und Kapitaldeckung ist ein klassischer Fall von Brainwashing – Auszug aus einem alten und aktuellen Text

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Bei der Vorbereitung für einen NDS-Text zur laufenden Debatte um die Altersarmut und die Strategie der dahinter steckenden Interessen habe ich mich eines eigenen früheren Textes erinnert. Es handelt sich um ein Kapitel eines 1997 im Aufbau-Verlag erschienenen Taschenbuchs. Die Aussagen zum Generationenvertrag, zur Illusion über den Vorteil der Kapitaldeckung, zur damals anlaufenden Propaganda und den dahinter steckenden Interessen, zu den einfachen Lösungsmöglichkeiten usw. sind immer noch aktuell. Der Blick auf heute aus damaliger Sicht scheint mir auch für NDS-Leser/innen interessant, vielleicht auch amüsant. Deshalb die Wiedergabe dieses früheren Textes. Albrecht Müller.

Amüsant sein könnte, dass ich wie andere auch meine Hoffnung auf die Wende zu Rot-Grün setzte. Eine eitle Hoffnung, wie wir heute wissen und damals ahnten. Ich hatte skeptisch gefragt, ob SPD und Bündnis/Grüne bei diesem Thema noch kampagnenfähig sind. Der folgende Text ist Antwort 4 von 8 Antworten auf die Frage nach den Themen und Projekten zu einer Alternative zu Helmut Kohl und Schwarz-Gelb. Das Buch war im Vorfeld der Bundestagswahl von 1998 erschienen.

Ich kann nicht verschweigen, dass die Rückerinnerung an diesen Text deprimiert: Die wichtigsten Schritte zur Zerstörung einer unserer wichtigen Säulen der sozialen Sicherung sind vorhergesagt und es wird auch klar, was zu tun wäre und wie einfach das wäre. Und dennoch mussten wir machtlos zusehen, wie uns die damals schon zu erkennende PR- und Lobby-Maschine überrollte. Und wir sehen heute, wie auf den Trümmern – der Altersarmut – die nächste Zerstörungsstrategie aufgebaut wird.
Beides wird Gegenstand meines nächsten Beitrags zum Thema sein.

Auszug aus Albrecht Müller: Mut zur Wende!
Erschienen 1997 im Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin

4. Der Generationenvertrag zur Altersvorsorge hält

Das Vertrauen in die soziale Sicherung der Renten wird vorsätzlich zerstört. Diesen Vorgang offenzulegen und zu erklären, wie der Generationenvertrag der gesetzlichen Rentenversicherung auch für die junge Generation gesichert werden kann, das ist eines der ganz großen Wahlkampfthemen für 1998 und ein Schlüsselprojekt zur Verteidigung der Sozialstaatlichkeit.

Die Bonner Koalition suggeriert zwar mit ihrem Rentenreformentwurf, die gesetzliche Rentenversicherung, wie sie bisher auf dem Generationenvertrag beruht, erhalten zu wollen, doch Teile der CDU/CSU und vor allem der FDP geben das bisherige System der Sozialversicherung preis. Hier spielt sich eine Entwicklung ab, die den Charakter eines Krimis und die Dimension eines Milliardendeals hat.

Statt notwendige politische Entscheidungen zu treffen, die eine Entlastung der Sozialkassen bewirken könnten, wird Stimmung gemacht. Die Veränderung der Alterspyramide hin zu mehr Rentenempfängern bei gleichzeitiger Abnahme der Beitragszahler werde den Generationenvertrag zerbrechen lassen, heißt es aus Kreisen der Union, der FDP und der mit ihnen verbundenen Interessengruppen. Das System sei nicht mehr haltbar, man müsse umsteigen auf das sogenannte Kapitaldeckungsverfahren. Modelle, wie das nach dem sächsischen Ministerpräsidenten benannte Biedenkopf-Modell, plädieren für eine Grundsicherung, finanziert durch Steuern: jeder Mann und jede Frau soll künftig einen Sockel an Altersrente vom Staat beziehen, den man dann zusätzlich aufstocken kann – über Betriebsrenten und Zusatzrenten, mit privat angespartem Vermögen und über private Lebensversicherungen. Auf den ersten Blick eine vernünftige, einfache Lösung.

Tatsächlich jedoch haben wir es bei dem Gerede um das angebliche Ende des Generationenvertrags und die notwendige Umstellung vom Umlageverfahren zum Kapitaldeckungsverfahren mit einem klassischen Fall von Brainwashing zu tun.

Zum einen ist die demographische Verschiebung bei weitem nicht so dramatisch, wie es dargestellt wird. Es wird einen Anstieg der Belastungen für die arbeitende Bevölkerung bis etwa zum Jahre 2030 geben. Die Lage entspannt sich dann wieder geringfügig, und sie kann sich ohnehin ändern, wenn sich die Geburtenrate oder die Zuwanderung verändert. Niemand kann das genau vorhersagen.

Viel wichtiger für die Klärung der Frage, wie die Arbeitenden durch die Rentner und durch die nicht arbeitende Kindergeneration belastet werden, sind folgende Aspekte: Wie entwickelt sich die Produktivität der Volkswirtschaft, wie hoch ist die Arbeitslosigkeit, und welche Art von Arbeitsverhältnissen – sozial gesicherte oder ungesicherte – werden die Regel? Wenn es gelingt, endlich die Arbeitslosigkeit abzubauen und die Produktivitätsentwicklung unserer Volkswirtschaft wenigstens annähernd so zu halten wie in den vergangenen Jahren, dann werden ohne Änderung des Systems, also selbst ohne Senkung des Rentenniveaus, die verfügbaren Realeinkommen der arbeitenden Menschen und Familien auch in Zukunft steigen. Das Vertrauen in diese Möglichkeit aufzugeben käme einer politischen Bankrotterklärung gleich.
Zudem und auch darüber wird falsch informiert, ändert sich durch die Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren nichts an der Tatsache, daß auch künftig eine bestimmte Anzahl von Menschen für die nicht arbeitende alte Bevölkerung und die Kindergeneration zu sorgen haben wird. Die Umstellung des Finanzierungssystems ändert nichts an dieser Relation, es sei denn, man unterstellt, daß Menschen fruchtbarer werden, wenn sie von der gesetzlichen Renten- zur privaten Lebensversicherung wechseln. Die geläufige Behauptung, die erhöhte Kapitalbildung, die mit einer Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren verbunden sei, führe zu einem höheren Wachstum, muß, zumal in einer offenen Volkswirtschaft, nicht zutreffen,

  • weil sich möglicherweise überhaupt keine Zunahme der volkswirtschaftlichen Sparquote ergibt, sondern nur eine Substitution von Anlageformen eintritt und
  • weil die nationale Ersparnis angesichts internationaler Kapitalmärkte keinen limitierenden Faktor für die Investitionsquote und das Wachstum darstellt.

Die Konservativen zerstören das System der gesetzlichen Rentenversicherung – teils gewollt, teils ungewollt
Die gesetzliche Rentenversicherung ist vor allem deswegen in finanziellen Schwierigkeiten,

  • weil die hohe Arbeitslosigkeit und die zeitweise großzügigen Vorruhestandsregelungen dazu führen, daß es zu Mindereinnahmen bei der Rentenversicherung kommt,
  • weil sie mit 30 Milliarden DM versicherungsfremden (genauer: nicht durch Beiträge gedeckten) Leistungen belastet ist; z.B. Ausgaben für Renten der Aus- und Umsiedler und Belastungen aus der Wiedervereinigung, die eigentlich vom Bund bezahlt werden müßten, aber aus Rentenversicherungsbeiträgen der Arbeitnehmer finanziert werden.

Würde die Bundesregierung darauf verzichten, allgemeine Staatsaufgaben den Beitragszahlern anzulasten, dann könnten die Beiträge sofort um ca. 2% gesenkt werden. »Die aktuellen Finanzierungsdefizite der Rentenversicherung gehen auf die Arbeitslosigkeit und die vereinigungsbedingten zusätzlichen Lasten zurück«, resümiert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer am 12. Juni 1997 veröffentlichten Studie.

Dazu kommt, daß immer mehr junge Menschen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage entweder nicht ständig einen Arbeitsplatz finden oder auf Arbeitsverhältnisse angewiesen sind, bei denen keine Sozialversicherungspflicht besteht. Der von den Neoliberalen betriebene Trend wirkt langfristig gegen das bestehende Rentensystem. Hier gibt es tatsächlich ein Reformproblem. Wer weiter ungesicherte Arbeitsverhältnisse oder Scheinselbständigkeit ohne Sozialversicherung zuläßt, der untergräbt das Rentensystem finanziell und das Vertrauen in die soziale Sicherung.

Eine neue politische Koalition müßte in ihrem Wahlkampf darüber aufklären, daß der Systemwechsel nichts an den demographischen Problemen löst, ja daß die Schwierigkeiten der gesetzlichen Rentenversicherung zuallererst mit der fehlgeschlagenen bzw. nicht vorhandenen Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung und ihres Mißmanagements bezüglich der deutschen Vereinigung zu tun haben. Anstatt eine bewährte Sozialversicherung ohne Not preiszugeben, müssen zuerst diese Fehlentwicklungen wirksam bekämpft werden. Änderungen, die das bewährte System als Ganzes nicht in Frage stellen, sind durchaus vernünftig. Sie sind wegen vieler gesellschaftlicher Verschiebungen wie der Änderung der Erwerbsbiografien und wegen hoher Scheidungsraten auch notwendig.

Änderungen, die das Vertrauen zerstören, sind hingegen unvernünftig. Das gilt für das wichtigste Element der von der Bundesregierung geplanten Rentenreform. Danach soll das Standard-Rentenniveau von 70 auf 64% des durchschnittlichen Nettogehaltes sinken. Gerade für Geringverdienende und Frauen, die wegen ihrer Kinder oft nicht durchgängig arbeiten, ist eine solche große Absenkung nicht zumutbar. Darüber zu befinden ist heute auch wirklich nicht nötig. Wer diese Entscheidung heute dennoch betreibt, muß sich vorhalten lassen, die Bürger verunsichern, von der sozialen Vorsorge weg und hin zur privaten treiben zu wollen.

Nach einer im Juli 1997 veröffentlichten Studie des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) nahm das Vertrauen der Bürger in die sozialen Sicherungssysteme in den letzten Jahren rapide ab. Diese Verunsicherung ist die Folge der »Reform«-Debatte und tatsächlicher Eingriffe wie etwa der Zuzahlungen im Krankenkassenwesen. Schon die jungen Leute machen sich Sorgen um ihre Renten, unter den herrschenden Umständen mit Recht, wenn sie keine Arbeit haben und die Ausbildungszeiten nur begrenzt angerechnet werden.
Soweit diese Verunsicherung bewußt betrieben wird, muß man fragen: Wer verdient daran, wer hat ein Interesse daran? – Die privaten Lebensversicherer betreiben mit viel Aufwand Werbung in Hörfunk, Fernsehen und Zeitungen. Es ist interessant, zu beobachten, wie Artikel über die angeblich desolate Lage der gesetzlichen Rentenversicherung mit Anzeigen der Versicherungswirtschaft gekoppelt sind, manchmal so geschickt, daß kaum noch deutlich wird, ob es sich um einen redaktionellen oder einen gesponserten Beitrag handelt.
Die privaten Lebensversicherungsgesellschaften nehmen heute knapp 90 Milliarden an Prämien ein. Sie wittern jetzt das Geschäft des Jahrhunderts. Schließlich hat die gesetzliche Rentenversicherung einen Leistungsumfang von ca. 300 Milliarden. Nur 1/10 dieses Kuchens herauszuschneiden brächte den privaten Lebensversicherungen einen Zuwachs ihrer Prämien von 33%, also einen außerordentlich großen Geschäftszuwachs.

Bei aller Verunsicherung der Bürger scheint vielen die Aussicht auf eine Grundrente verlockend. Da diese über Steuergelder, also vom Staat, finanziert werden soll, hat sie schon fast Wohlfahrtsstaatscharakter. Doch was sind die Folgen?

Die angepeilte Umstellung auf das Kapitaldeckungsverfahren hätte gravierende Auswirkungen auf die junge Generation, derentwegen angeblich die Umstellung vom Umlage- zum Kapitaldeckungsverfahren betrieben wird. Sie würde mehrfach belastet: Die heute Jungen müßten erstens weiterhin mit ihren Beiträgen die Renten der Alten bezahlen; sie wären also bei den Beiträgen gar nicht entlastet. Sie müßten zweitens ihre eigene private Lebensversicherung bezahlen. Das heißt, der Beitrag für die gesetzliche Rentenversicherung und für die private müßte addiert werden, was zu einer Rentenbeitragsbelastung von 22, 23, 25% oder noch mehr führen würde. Der jungen Generation mutet man drittens zu, daß sie mit unsicheren Arbeitsverhältnissen fertig werden soll. Und dann soll viertens diese Generation auch noch akzeptieren, daß die ihnen nachwachsende Generation in 30 oder 40 Jahren keine Beiträge mehr für sie zu zahlen hat.

Es besteht die Gefahr, daß die steuerfinanzierte Grundsicherung für Alte nicht ausreichend hoch festgesetzt oder in Zeiten der Finanzknappheit nicht ausreichend einem Inflations- und Reallohnzuwachs angepaßt wird, während das gegenwärtige Rentensystem durch die formelmäßige Dynamisierung in Gestalt der Nettolohnanpassung dieses Problem bisher nicht hatte. Da Menschen gerade in jungen Jahren die Notwendigkeit der Vorsorge nicht sehen und deshalb nicht an eine private Zusatzversicherung zur Grundsicherung denken, wird die Altersarmut anwachsen. Dazu ein Zitat zur Praxis in Großbritannien aus der »ZEIT« vom 14. März 1997: »Nach dieser neoliberalen Maxime haben bereits die Briten ihr Rentensystem zugunsten privater Vorsorge umgebaut. John Bridgeman, Generaldirektor des auch für die Kontrolle privater Lebensversicherer zuständigen Office of Fair Trade, faßt die Stimmung unter den älteren Menschen im modernen Großbritannien so zusammen: ›Die Leute fürchten heute mehr, daß sie zu lange leben, als daß sie zu früh sterben, weil ihr Geld für einen einigermaßen auskömmlichen Lebensabend nicht mehr reicht.‹«

Daß politische Entscheidungen dieses Ausmaßes bei uns direkt oder indirekt auf die Interessen von privaten großen Konzernen zurückzuführen sind, ist sehr bemerkenswert. Die wirkliche Triebfeder der hier geplanten Revolution sind die Milliarden Prämien, die künftig bei den privaten Lebensversicherungen anfallen und die den gesetzlichen Rentenversicherungen fehlen werden.

Ob SPD und BündnisGrüne noch kompagnenfähig sind?
Die Rentenfinanzierung hat alle Dimensionen eines großen Wahlkampfthemas:

  • Es betrifft viele Menschen.
  • Es gibt einen wirklichen Konflikt. Die andere Seite muß und wird um ihrer Glaubwürdigkeit willen versuchen, diesem Konflikt auszuweichen.
  • Die CDU/CSU ist in dieser Frage gespalten. Es gibt führende Politiker und zahlreiche Wähler der CDU/CSU, die genauso wie die meisten Sozialdemokraten und Gewerkschafter das System der sozialen Sicherung vor dem Ausverkauf an private Interessen retten wollen und die genau wissen, was gespielt wird.
  • Es geht um viel Geld. Damit hat das Thema die Dimension des Themas »Großes Geld« der Wahl 1972. Damals hatten Teile der deutschen Wirtschaft mit mehreren Millionen Mark in den Wahlkampf eingegriffen, um Bundeskanzler Willy Brandt loszuwerden. Die SPD hat aus diesem Versuch der Einflußnahme ein großes Thema gemacht und gewonnen.

Das Thema Rentenfinanzierung wird ein guter Test dafür sein, ob die SPD und die BündnisGrünen fähig sind, eine Alternative zur konservativen Hegemonie zu entwerfen, zu propagieren und zu verteidigen. Das ist fraglich geworden. Teile der BündnisGrünen signalisieren deutliche Unterstützung für die Privatversicherungsvariante. Bei den »Modernisierern« der SPD ist es ähnlich. Das gilt nicht für die Rentenreformkommission der SPD und die große Mehrheit der Mitglieder und Verantwortungsträger.
Dennoch lohnt es sich in dieser Frage, eine gemeinsame Basis zu suchen und zu finden. Die soziale Sicherung ist das Vermögen der »kleinen Leute«. Wenn es nicht gelingt, ihnen dieses »Vermögen« zu erhalten, dann werden sie sich dem Umweltschutz, liberalen Rechtsauffassungen und Menschenrechtsfragen noch mehr verschließen, als dies heute der Fall ist.

Die Entscheidung über die Zukunft der Sozialstaatlichkeit fällt 1998

Es entscheidet sich in diesen Monaten, ob es den privaten Interessenten gelingt, den Zusammenbruch des jetzigen Sozialversicherungssystems endgültig einzuleiten. Es entscheidet sich, ob es gelingen könnte, den Menschen, die unter Dauerberieselung der Werbung zum Einstieg in eine Privatversicherung stehen und denen eingeredet wird, das soziale Sicherungssystem breche demnächst zusammen, wieder Sicherheit zu geben. Deshalb ist es höchste Zeit, die für das Renommee der Sozialstaatlichkeit entscheidende Weichenstellung zum großen Thema zu machen. Noch einmal: Es genügt nicht, die Ideologie der andern allein durch Sachargumente zu entkräften bzw. eigene Vorschläge zur Rentenreform gegen die anderen Reformvorstellungen zu setzen. Es ist wichtig, den Menschen zu sagen, warum ihnen Angst gemacht wird. Sie müssen das der Kampagne zugrundeliegende Interessengeflecht erkennen. Nur dann werden sich Emotionen und damit eine Gegenöffentlichkeit mobilisieren lassen.

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