Das Schneeballsystem der privaten Krankenversicherung droht zu kollabieren

Jens Berger
Ein Artikel von:

Die Finanzkrise hat dazu geführt, dass Risiken neu bewertet werden und das Zinsniveau für als sicher geltende Finanzprodukte, wie beispielsweise deutsche Staatsanleihen, massiv gesunken ist. Was für das Finanzministerium ein Grund zur Freude ist, stellt für die Versicherungsunternehmen ein großes Problem dar. Nicht nur Lebensversicherungen, sondern vor allem die privaten Krankenversicherungen haben ein Geschäftsmodell, das nicht auf eine längere Niedrigzinsphase eingestellt ist. Für das private Krankenversicherungssystem, das ohnehin bereits mit dem Rücken zur Wand steht, könnten die niedrigen Zinsen der Zündfunke sein, der die schon länger tickende Zeitbombe explodieren lässt. Die Leidtragenden sind dabei vor allem die Versicherten selbst. Von Jens Berger

Wer das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherungen (PKV) verstehen will, muss zunächst wissen, was ein Kopfschadenprofil ist. Mit diesem Begriff werden die durchschnittlichen Kosten bezeichnet, die ein Versicherter pro Jahr von seiner Versicherung in Anspruch nimmt. Bei Krankenversicherungen steigt das Kopfschadenprofil mit dem Alter des Versicherten. Während ein jüngerer Versicherter relativ selten Leistungen der Krankenversicherung in Anspruch nehmen muss, steigen die zu erbringenden Leistungen mit dem Alter. Vor allem die letzten vier Monate vor dem Tod [PDF – 115 KB] machen (fast unabhängig vom Lebensalter) einen Großteil der insgesamt anfallenden Leistungen aus der Krankenversicherung aus. Vereinfacht kann man daher sagen, dass junge Beitragszahler im Krankenversicherungssystem im Schnitt mehr einzahlen als sie im gleichen Zeitraum als Leistung beanspruchen, während ältere Beitragszahler weniger einzahlen, als sie die Kassen kosten. Anders als bei der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gibt es bei PKV keinen systemischen Ausgleich, bei dem die Überschüsse der Jüngeren die Defizite der Älteren decken. Bei der PKV versichert sich jeder Beitragszahler selbst – zumindest in der Theorie.

Kopfschadensprofile der PKV

Beitragsexplosion unabwendbar

In seinen jüngeren Jahren zahlt der Versicherte mehr Geld ein als er an Leistungen bezieht und diese Überschüsse werden am Kapitalmarkt angelegt. Wenn alles gut geht, hat die Versicherungsgesellschaft dann, wenn der Versicherte älter ist und mehr Leistungen beziehen muss, einen Kapitalstock aufgebaut, aus dem die kalkulierten Defizite gedeckt werden. Im Grunde ist eine private Krankenversicherung also eine Kombination aus Krankenversicherung und Lebensversicherung. Mit den Überschüssen aus dem Lebensversicherungsanteil werden die höheren Kopfschadenprofile im Alter ausgeglichen. Was in der Theorie gut klingen mag, ist in der Praxis jedoch auch vollkommen ohne Finanzkrise problematisch.

Die Berechnung der Beitragssätze der PKV war in den letzten Jahren und Jahrzehnten realitätsfern. Man rechnete hier ceteris paribus, also unter der Annahme, dass außer den Kopfschadenprofilen alle anderen Bedingungen gleich bleiben. Dies schließt die steigende Lebenserwartung, den medizinischen Fortschritt, Entwicklungen auf den Finanzmärkten und die Inflation mit ein. Um diese Faktoren abzufedern, bildet die PKV sogenannte Altersrückstellungen. Ob diese Rückstellungen ausreichen, hängt vor allem von der Höhe des Beitragssatzes ab. Kalkulationsgrundlage für das Kopfschadenprofil ist hier eine langfristige Verzinsung von 3,5% p.a. Nur wenn die PKV höhere Zinsen an den Kapitalmärkten realisiert, fließt Geld in die Altersrückstellungen. Bei einer Inflation von 2,0%, die der EZB-Zielmarke entspricht, müsste die PKV also schon mehr als 5,7% [*] Rendite mit dem Kapitalstock ihrer Versicherten erzielen – und alle Faktoren, die man gemeinhin als „demographischen Wandel“ bezeichnet, sind da noch nicht einmal mit eingerechnet.

Bereits in den Jahren vor der Finanzkrise, als Renditen von mehr als 5,7% zumindest theoretisch möglich schienen, konnte die PKV keine derartigen Ergebnisse erzielen. In der Folge mussten die Beitragssätze Jahr für Jahr angepasst werden – und dies nicht zu knapp. In den letzten acht Jahren vor der Finanzkrise stiegen die Beitragssätze der PKV nach einer Berechnung der BaFin um durchschnittlich 5,35%. Um diese Zahl einordnen zu können, lohnt sich eine Hochrechnung. Wenn ein 40jähriger heute pro Monat 500 Euro Beitrag einbezahlt, müsste er bei einer Beitragssteigerung von 5,35% p.a. im Renteneintrittsalter von 67 Jahren stolze 2.148 Euro Beitrag pro Monat zahlen – selbst inflationsbereinigt kommt man noch auf 1.256 Euro pro Monat. Überflüssig zu erwähnen, dass sich nur die allerwenigsten Rentner solche Beitragssätze leisten können.

Da es im PKV-System keinen echten Wettbewerb gibt, bei dem auch ältere Versicherte den Anbieter ohne große Verluste wechseln können, bleibt den Versicherten in diesem Falle nur ein Tarifwechsel beim gleichen Anbieter als Ausweg vor existenzbedrohenden Beiträgen. Der Versicherte, der sich von der PKV eigentlich eine gute medizinische Versorgung im Alter verspricht, wird dann wohl oder übel in einen Spartarif mit Leistungen unterhalb der GKV und einer hohen Selbstbeteiligung wechseln müssen. Für PKV-Versicherte ist das Verarmungsrisiko im Alter ungleich höher als für GKV-Versicherte.

Alterspyramide und Schneeballsystem

Für das gesamte PKV-System stellt die „normale“ Anpassung der Tarife jedoch ein vergleichsweise geringes Risiko dar. Streng betrachtet ist die PKV ein Schneeballsystem, das in der Vergangenheit vor allem jüngere Menschen mit vergleichsweise günstigen Einsteigertarifen geködert hat. Bereits heute können die Anbieter auch in dieser Altersgruppe keine Tarife mehr anbieten, die gegenüber der GKV konkurrenzfähig sind. Folge dieser Entwicklung ist eine sehr ungünstige Alterspyramide im PKV-System, die zu einem großen Überhang bei den 40- bis 60jährigen geführt hat. Noch ist diese Gruppe nach dem Kopfschadenprofil in dem Alter, in dem sie mehr Geld in die Versicherung einzahlt, als sie an Leistungen bezieht. Doch bereits in 10 Jahren wird ein Teil des Überhangs in ein Kopfschadenprofil gealtert sein, in dem aus den Überschüssen Defizite werden. In spätestens dreißig Jahren ist der gesamte „Bauch“ der Alterspyramide in ein Kopfschadenprofil gealtert, in dem die laufenden Kosten nicht mehr als den laufenden Beiträgen gedeckt werden können. Wenn das PKV-System es bis dahin nicht schafft, Millionen jüngere Beitragszahler zu gewinnen, die diesen Überhang der heute 40- bis 60jährigen ausgleichen, droht dem System auch ohne Niedrigzins der Kollaps.

Altersstruktur in der privaten Pflegeversicherung

Niedrigzins führt zum Kollaps

Gingen Studien [PDF – 225 KB] bereits vor der Finanzkrise von einer massiven Beitragserhöhung im PKV-System aus, so verschärft die andauernde Niedrigzinsphase diese Problematik erneut. Bereits die Höhe des Rechnungszinses von 3,5% erscheint in der momentanen Situation illusorisch. Nachdem bereits die Lebensversicherungen den Garantiezins auf 1,75% gesenkt haben, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die privaten Krankenversicherer nachziehen. Ein sinkender Rechnungszins führt jedoch zu ganz erheblich höheren Beiträgen – nicht nur für die Bestandskunden, sondern auch bei den Lockangeboten für Neueinsteiger. Bereits heute ist die PKV auch für jüngere Menschen oft nicht mehr konkurrenzfähig gegenüber der GKV. Wenn die Einstiegstarife abermals erhöht werden müssen, droht das PKV-System auszutrocknen. Wie bei jedem anderen Schneeballsystem auch würde ein Versiegen der Neukunden zum Kollabieren des gesamten Systems führen.

Um es klar zu sagen – es wäre nicht schade um das PKV-System. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die neoliberale Politik ihr Lieblingskind wirklich vor die Hunde gehen lässt. Dieses Thema wird uns in Zukunft noch oft beschäftigen. Es ist zu erwarten, dass die Politik dem dahinsiechenden PKV-System künftig noch stärker unter die Arme greifen dütfte. In welcher Form dies geschieht, wird die Zukunft zeigen.

Dabei wäre eine geordnete Abwicklung des PKV-Systems durchaus möglich. Würde man das System liquidieren und alle Versicherten in die GKV überführen, würden wohl bei den meisten Privatversicherten die Sektkorken knallen, da ihre ökonomische Zukunft endlich wieder kalkulierbar wäre. Die vorhandene Altersreserve müsste in einem solchen Fall freilich auch in das GKV-System überführt werden. Die Leidtragenden wären in diesem Falle die Versicherungskonzerne. Wer die Macht der Versicherungslobby kennt, ahnt jedoch, dass es zu keiner geordneten Abwicklung dieses gescheiterten neoliberalen Experiments kommen wird. Bleibt zu hoffen, dass die kommende „Rettung“ des PKV-Systems für den Steuerzahler nicht allzu teuer wird.


[«*] 90% der Überschüsse fließen in die Altersrückstellungen, 10% verbleiben bei der Versicherungsgesellschaft

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