Impressionen griechischer Depressionen

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Das neue Jahr hat in Griechenland so begonnen, wie das alte zu Ende ging. Trotz der europaweit gefeierten „Erfolge“ der Krisenpolitik der Athener Dreier-Koalition, die dem Land rechtzeitig zu Weihnachten die Auszahlung der nächsten EFSF-Kreditrate beschert hat, geht die Krise weiter. Und die äußert sich in immer neuen Formen. In Athen zum Beispiel darin, dass sich der Verkehr verflüssigt hat. Von Niels Kadritzke.

Der Bus vom Flughafen zum Hafen in Piräus war noch vor wenigen Monaten etwa 80 Minuten unterwegs. Heute schafft er es 20 Minuten schneller. Der Grund springt sofort ins Auge. Es sind weit weniger Autos unterwegs. Das wiederum hat mehrere Gründe. Erstens haben die Umsatzeinbußen des Handels den Lieferverkehr reduziert (das Weihnachtsgeschäft 2012 ist gegenüber dem Vorjahr je nach Branche um 20 bis 30 Prozent eingebrochen, für das gesamte Jahr 2012 dürfte der Umsatzrückgang gegenüber dem Krisenjahr 2011 zwischen 12 und 15 Prozent liegen). Zweitens lassen viele private Nutzer ihr Auto einfach zu Hause stehen, weil sie das Benzin nicht mehr bezahlen können (Der Umsatz an den Tankstellen ist in den letzten Monaten um 25 Prozent zurückgegangen). Und drittens haben Zehntausende Athener ihren PKW zu Ende Dezember abgemeldet, weil sie sich die Versicherung für 2013 sparen wollen oder müssen.

Der reduzierte Verkehr bedeutet natürlich weniger Auspuffgase. Wenigstens eine positive Krisenfolge, könnte man meinen, und man glaubt es sogar beim Atmen zu spüren. Allerdings nur am Tage. Gegen Abend wird man eines anderen belehrt: Die Luft wird spürbar dicker, von Stunde zu Stunde, und zwar umso dicker, je kälter die Nacht ausfällt. Die Athener erleben die Rückkehr des berüchtigten Phänomens „nefos“, das ihnen die 1990er-Jahre verleidet hatte. Mit der „Wolke“ war damals die schwefelgelbbraune Dunstglocke gemeint, die vor allem bei Inversionslagen an windarmen Sommertagen über der Zementlandschaft der griechischen Hauptstadt lastete.

Der alte nefos war ein Produkt der rasanten Automobilisierung im Vor-Katalysator-Zeitalter. Die graue Wolke von heute ist ein Phänomen des Winters und stammt aus den Kaminen der Privathäuser und –wohnungen. Wegen der ins Unerschwingliche gestiegenen Heizölpreise greifen immer mehr Athener auf alternative Heizmethoden zurück. Zum Beispiel verbrennen sie Holz im Kamin oder in jenen klassischen Bulleröfen, die eigentlich aus dem Leben der städtischen Griechen längst verschwunden waren. Und die als Heizkörper in urbanen Zonen mit extrem hoher Bevölkerungskonzentration natürlich der reine Wahnsinn sind. Bei dem Feuerholz handelt es sich häufig nicht um abgelagerte Kaminscheite, sondern um irgendwo aufgesammelte Äste, abgeschleppte Paletten oder gar alte und womöglich gelackte Möbelteile.

Wie normal das Umsteigen auf Holzfeuer geworden ist, zeigt die Tatsache, dass nach dem 6. Januar auf den Straßen Athens keine entschmückten Weihnachtsbäume herumlagen, die wurden vielmehr in den Kaminen und Bulleröfen entsorgt. Was das für die Athener Luft bedeutet, ist einem Bericht zu entnehmen, der am 12. Januar in Ta Nea erschienen ist. Demnach hatte die Luftbelastung mit gesundheitsgefährdenden Schwebstoffen zwei Tage zuvor – am bislang kältesten Tag dieses Winters – alle Rekorde gebrochen. Die Belastung stieg zwischen 22 und 24 Uhr auf 300 Mikrogramm/Kubikmeter. Die Alarmschwelle liegt bei 25 mg/km – ein Wert, der an jenem Mittwoch bereits tagsüber weit überschritten wurde. Und vollends der Abend wurde zu „einer einzigen Qual, besonders für Leute mit Atemwegsproblemen.“

Ein gemeingefährliches Umweltproblem als Symbol der Krise

In der Kathimerini vom 10. Januar hat Nikos Konstandaras das Phänomen als das Politikum erklärt, das es wahrlich ist: „Die Krise hat ihr Symbol gefunden – es ist der dicke und bittere Smog, der die Hauptstadt befällt, sobald es dunkel wird. Er umhüllt alles, breitet sich überall aus, kriecht durch alle Ritzen. Er macht uns gnadenlos klar, dass wir in einer anderen Ära leben. Wir alle atmen jetzt die Luft unserer Niederlage. Es gibt noch keine wissenschaftlichen Interpretationen und Analysen über die Auswirkungen auf unsere Gesundheit, auf unsere Baudenkmäler, auf die Umwelt insgesamt, aber wir wissen jetzt schon, dass dieser Smog das Ergebnis der Unfähigkeit ist, mit unseren Problemen fertig zu werden.“

Die fatale Kausalkette, an deren Ende die wintergraue Athener Smogwolke steht, habe ich in einem früheren Beitrag auf diesen Seiten (am 26. September 2012) ausführlich dargestellt. Ich fasse noch einmal kurz zusammen:

  1. Eine drastische Steuererhöhung hat den Heizölpreis zu Beginn des Winters schlagartig um 40 Prozent erhöht.
  2. Diese Erhöhung resultierte aus der Angleichung der Heizölsteuer an den Steuersatz für Diesel-Kraftstoff.
  3. Diese Maßnahme erklärte die Regierung für notwendig, weil mafiöse Großhändler im Verein mit Raffineriebetrieben jahrelang Heizöl als Kraftstoff verkauft hatten, um die eingesparten – sprich unterschlagenen – Steuersummen als Extraprofit einzusacken.
  4. Die griechische Regierung hatte sich allerdings zuvor als unfähig erwiesen, das Kontrollsystem namens Ifaistos, das diesen Steuerbetrug unterbinden sollte, gegen die mafiösen Großhändler durchzusetzen, die mehrfach mit Lieferstreiks gedroht hatten.

Diese Kapitulation des Staates vor dieser Mafia, geboren aus einer Mischung von Unfähigkeit und komplizenhafter Untätigkeit, ist also dafür verantwortlich, dass die Bevölkerung bei ständig schrumpfenden Einkommen ausgerechnet zu Beginn des Winters auch noch mit drastisch erhöhten Heizölkosten belastet wurde. Aber das Versagen des Staates hat noch weitere Facetten. Das Umweltministerium ist unfähig, die Bevölkerung darüber aufzuklären, dass die meisten „alternativen“ Heizmethoden nicht nur gefährlich, sondern auch teurer sind als das verteuerte Heizöl. Das hat ein Journalistenteam im Sonntags-Magazin von Kathimerini vom 13. Januar dargelegt. Zur Erklärung muss allerdings gesagt werden, dass das Ministerium schon mit einfacheren Dingen überfordert ist. Die Abteilung für die Kontrolle der Luft- und Lärmbelastung unterhält im Großraum Athen nur noch sechs Messstationen, vor zehn Jahren waren es noch drei Mal mehr. Und die regelmäßige Information der griechischen Presse über die Belastungs-Messwerte wurde schon 2011 eingestellt.

Der Wintersmog von Athen, Thessaloniki und Patras symbolisiert die fatale Krisenpolitik der Regierung noch in einem weiteren Sinne. „Die neue Plage scheint demokratisch zu sein“, schreibt Konstandaras, „denn sie breitet sich im gesamten Athener Küstenbecken aus, betrifft also gleichermaßen Reiche und Arme, Junge und Alte, Einheimische und Immigranten.“ Doch dieser Eindruck täuscht: „Wieder einmal sind es die Armen, die am stärksten leiden: Sie wohnen in den unteren Etagen, wo sich die toxischen Subtanzen konzentrieren, sie müssen verbrennen, was immer sie auftreiben können, sie hocken um offene Feuerstellen und Becken mit glühender Asche. Und sie haben nicht die Möglichkeit, besonders gefährdete Familienmitglieder aufs Land zu schicken.“

Und noch ein Drittes zeigt dieses Heizöl-Desaster: die Erfolglosigkeit des gesamten Sparprogramms. Die erhöhte Heizölsteuer, die statt der Handelsmafia die Konsumenten bestraft, sollte auch die staatlichen Einnahmen erhöhen, also einen Beitrag zum Ausgleich des Haushalts leisten. Aber das Gegenteil ist der Fall: Der Rückgang des Heizölumsatzes um etwa 70 Prozent (gegenüber dem Winter 2011/2012) hat den Staat bislang etwa 85 Millionen Euro an geplanten Einnahmen gekostet. Das ist nur ein weiteres Beispiel für das, was die meisten Steuererhöhungen bewirkt haben, die in den letzten drei Jahren zur Umsetzung der Sparprogramme beschlossen wurden: Der erwartete Effekt ist verpufft oder sogar ins Negative umgeschlagen.

Wen überrascht es da noch, dass die erfindungsreiche Ölmafia sich längst neue Profitquellen erschlossen hat? Seit letztem Sommer vermochten die Händler, riesige Mengen von (viel billigerem) Heizöl und Dieselkraftstoff über die bulgarische Grenze zu schmuggeln und in Griechenland teuer zu verkaufen. „Die Zollbehörden, die Grenzpolizei und die Steuerverwaltungen können oder wollen diese Praktiken nicht stoppen“, heißt es in einem Expertenbericht über diese Schmuggelwege (zitiert nach GRReporter vom 4. Oktober 2012).

Langsame Schiffe, empörte Taxibesitzer und das unausrottbare Fakelaki

Die Reise im Krisenstaat Griechenland geht in Piräus weiter. Normalerweise erreicht die „Blue Star Paros“ ihre erste Station, die Insel Syros, in 3 Stunden und 50 Minuten. Im Winter, wenn die Fähre nicht dem Tourismus dient, ist sie in der Regel zwanzig Minuten länger unterwegs, um Treibstoff zu sparen. Im Januar 2013 aber liegt das Schiff fast eine Stunde hinter dem Fahrplan zurück. Damit spart die Reederei etwa 15 Prozent an Schiffsdiesel. Und die griechischen Passagiere murren nicht, denn sie wissen, dass die Unternehmen – trotz Lohnkürzungen für das Personal und 10 Prozent höherer Fahrpreise – in diesem Winter noch tiefer im Defizit dümpeln also die beiden Jahr davor.

Auf der Insel angekommen ist der erste Eindruck der Zorn der Taxibesitzer. Die knapp 50 Inseltaxis machen ihr Geschäft im Sommer mit den (vorwiegend griechischen) Touristen. Die sind letztes Jahr weitgehend ausgeblieben und entsprechend mau waren die Einnahmen. Noch schwerer wird es im Winter, denn die Einheimischen müssen sparen, wo sie können. Und Taxifahren gehört zu den Dingen, die man am ehesten entbehren kann. Das Ergebnis sind lange Taxischlangen und frustrierte Fahrer.

Die Krise hat die Branche zweifellos hart getroffen, aber nicht härter als die meisten ihrer verlorenen Kunden. Die Arbeitslosigkeit auf der Insel Syros liegt noch über dem nationalen Durchschnitt, der Ende letzten Jahre auf etwa 28,5 Prozent angestiegen ist (die letzte offizielle Ziffer von 26,8 Prozent, die wir in den Zeitungen lesen, bezieht sich auf den Oktober 2012). Für einen Taxifahrer gibt es also kaum eine Beschäftigungsalternative. Deshalb hat sich der Berufsverband zu einer Intervention beim Bürgermeister entschlossen.

Die Kommune mit 15 000 Einwohnern hat schon vor Jahren eine Minibus-Linie eingeführt, die mehrere Vororte mit dem Zentrum verbindet. Der Dienst ist gratis, eine für Griechenland einmalige Initiative, die auch ökologisch, also verkehrsentlastend begründet wurde. Heute sind die halbstündig verkehrenden Busse voller denn je und für viele – zumal für ältere – Leute unentbehrlich. Das ist den Taxi-Besitzern ein Dorn im Auge. Für sie ist der kommunale Service, der sich gerade in der Krise bewährt hat, eine lästige Konkurrenz. Schon bei der Einführung der „sozialistischen“ Buslinie hatten sie einen Proteststreik organisiert. Jetzt verlangen sie vom Bürgermeister, dass die Busse seltener verkehren, dass die Linie verkürzt wird und dass einige Haltestellen entfallen. Außerdem sollen nur noch Rentner und Studenten umsonst fahren dürfen. Solche Vorschläge bezeichnen die Taxibesitzer frech als „Kompromiss“. Schließlich verzichten sie ja auf die Forderung, den Bus ganz abzuschaffen, was ihnen natürlich am liebsten wäre.

Wen immer man in der Stadt fragt: Der Bus muss bleiben, gerade jetzt. Der Zorn auf die Taxi-Besitzer ist so groß, dass jetzt auch manche, die sich ein Taxi leisten könnten, mit dem Gratisbus fahren. Aber die meisten Leute haben schlicht kein Geld mehr fürs Taxi übrig. Sie müssten, wenn der Bus nicht bis zu ihrem Wohnviertel fährt, ihre Einkäufe zu Fuß nach Hause schleppen. Die Haltung der Taxibesitzer ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie einzelne Berufsgruppen das ungerechte und unsoziale Sparprogramm noch verschärfen, indem sie auf amoralische Weise reagieren.

Ein weiteres Beispiel ist die übliche fakelaki-Geschichte. Diesmal liefert sie ein alter Freund, dessen Tochter kurz vor Weihnachten ihr erstes Kind geboren hat. Zur Entbindung war sie in einem staatlichen Athener Krankenhaus angemeldet, die betreuende Ärztin hatte ihr einen Kaiserschnitt angeraten. Bei der letzten Untersuchung eine Woche vor dem erwarteten Geburtstermin eröffnete sie der werdenden Mutter, dass sie für den Kaiserschnitt 1300 Euro haben will: in kleinen Scheinen und im Umschlag (fakelaki), natürlich ohne Quittung. Wir sprechen hier von einer angestellten Gynäkologin in einem staatlichen Krankenhaus und von einer „Patientin“, die voll versichert ist und deren Arbeitgeber auch die Kassenbeiträge abgeführt hat (was im heutigen Griechenland keinesfalls selbstverständlich ist).

Mein Freund war ebenso fassungslos wie das junge Elternpaar. Obwohl sie viele fakelaki-Erfahrungen hinter sich hatten, glaubten sie, diese Korruptionsvariante sei inzwischen so diskreditiert und verfemt, dass kein angestellter Arzt mehr ein illegales Honorar zu erpressen wagt. Ihre Empörung reichte immerhin aus, um das Geld zu verweigern. Daraufhin „verzichtete“ die Ärztin auf die 1300 Euro. Zuvor hatte sie der jungen Mutter erzählt, dass sie im Dezember ihr fünfter Kaiserschnitt-Fall sein würde. Wenn die übrigen vier „Fälle“ gezahlt haben, hat sich die Ärztin ein Weihnachtsgeld von gut 5000 Euro erpresst. Und wahrscheinlich hatte sie dabei sogar ein besseres Gewissen als je zuvor, denn auch ihr Gehalt wurde in den letzten drei Jahren um mindestens ein Drittel gekürzt.

Auf die naheliegende Frage, warum die Eltern die Ärztin nicht im Nachhinein angezeigt haben, gab mein Freund eine interessante Antwort. Naja, man habe ja letztlich nicht gezahlt und deshalb kein Beweismittel in der Hand. Außerdem fühle man sich als „normaler Grieche“ immer noch als halber Denunziant, wenn man jemanden beim Staat anzeigt. Im Übrigen dauere es Jahre, bis es zu einem Urteil kommt. Und abschreckend wirkten solche Gerichsurteile ohnehin nicht, wie man an diesem Beispiel sehen könne.

Mein Argument, dass es besonders wichtig wäre, gegen die fakelakia zu klagen, um diesen ebenso kriminellen wie individualistischen „Krisenausweg“ zu versperren, erzielte keinen großen Eindruck. Auch der Hinweis, dass die meisten Leute ihre Einkommensverluste nicht mit solchen Methoden kompensieren können, ist ein Argument, das nur greifen würde, wenn „Solidarität“ in Krisenzeiten Hochkonjunktur hätte.

Solidarität – auch ein Opfer der Krise

Das Gegenteil ist der Fall. In Griechenland zeigt sich, dass Solidarität in der Krise nicht wachsen kann. Wird sie nicht schon vorher geübt oder vermittelt, kann sie sich in Zeiten der Not schon gar nicht von selbst entwickeln. Tritt eine soziale Katastrophe ein – und nichts anderes bedeutet ein durchschnittlich um 40 Prozent geschrumpftes Masseneinkommen – ist ein Prozess der Entsolidarisierung fast unvermeidlich. Denn der Überlebenskampf verstärkt eine Rette-sich-wer-kann-Mentalität, die Gemeinschaftsgeist im Alltags allenfalls für die engere Familie kennt. Und selbst ein solcher Zusammenhalt ist längst nicht mehr sicher, wie die zahlreiche „Familiendramen“ im heutigen Griechenland zeigen. Zum Beispiel, wenn sich Geschwister darüber streiten, wer die Medikamentenkosten für die Eltern und Großeltern tragen oder wer für fällige Bürgschaften gerade stehen soll, die gutgläubige Verwandte vor Krisenzeiten für einen Kredit des Onkels oder den Kramladen der Tante übernommen haben.

Wie die Forderungen der Taxibesitzer oder die ungebrochene fakelaki-Praxis in Krankenhäusern zeigen, verteidigen gerade die Gruppen, die vom alten System am meisten profitiert haben, ihre Privilegien und eingefleischten Interessen mit Zähnen und Klauen. In der Krise bestätigt sich also erneut dieses soziale Gefälle, das maßgeblich zu der Krise beigetragen hat: Die Chancen, sich den schlimmsten Folgen der Katastrophe zu entziehen, sind höchst ungerecht verteilt. Dies ist die verhängnisvollste „asoziale“ Dimension der griechischen Krise.

Die beschriebenen Beispiele zeigen, wie schwierig der Kampf gegen das Erzübel „Klientelstaat“ unter Bedingungen einer sozialen Katastrophe ist. Dass der Klientelismus sich als „soziales Übel“ erwiesen hat, wird heute von einer überwältigenden Mehrheit der griechischen Bevölkerung anerkannt. Deshalb müssten sich jetzt gerade auch die alten „Systemparteien“, die in den alten Verhältnissen gelebt haben wie die Maden im Speck, zum „Kampf gegen Korruption und Nepotismus“ bekennen. Doch Umkehr zu predigen, wie es die alte politische Klasse – von Samaras bis Venizelos – heute tut, ist die eine Sache. Eine andere ist es, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass es beim Abbau des Klientelstaats gerechter zugehen wird als bei seinem Aufbau. Natürlich ist es wichtig, dass auch die „kleinen Leute“ ihre in Fleisch und Blut übergegangenen Verhaltensweisen ändern. Aber die Krise verstärkt die entschuldigende Kraft des Arguments, mit dem die „kleinen Leute“ ihre eigenen kleinen Sünden innerhalb eines korrupten Systems zu rechtfertigen pflegen: Solange die großen Sünder davon kommen, sehe ich nicht ein, warum ich nicht wenigstens meinen kleinen Vorteil suchen soll.

Die Lagarde-Liste oder: Die Steuersünder bleiben unbehelligt

Vor diesem Hintergrund ist die Diskussion zu sehen, der derzeit die politische Debatte anheizt. Ganz Griechenland diskutiert seit Wochen über die „Lagarde-Liste“ mit den Namen von etwa 2000 griechischen Bürgern, die hohe Guthaben bei der Schweizer HSBC-Bank unterhalten. Diese Liste, die dem französischen Geheimdienst zugespielt worden war, hatte bereits im Frühjahr 2010 die damalige französische Finanzministerin, Christine Lagarde, ihrem griechischen Kollegen Giorgos Papakonstantinou übermittelt.

Ich habe den Fall bereits ausführlich auf den NachdenkSeiten vom 22. November dargestellt. Inzwischen ist alles noch komplizierter geworden, weil man entdeckt hat, dass auf dem Speicher-Stick, auf den die Liste im Juli 2011 kopiert wurde, drei Konteninhaber gelöscht waren, die (zufällig (?)) Verwandte des früheren Finanzministers Papakonstantinou waren.

Seitdem dreht sich die Diskussion vor allem darum, ob der Finanzminister der Regierung Papandreou der „Täter“ oder das „Opfer“ einer Intrige war, die ihn zum alleinigen „schwarzen Schaf“ machen soll. Nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen sieht es so aus, als sei der Stick zum Zeitpunkt seiner Manipulation nicht in den Händen Papkonstantinous gewesen. Noch diese Woche wird im Parlament darüber abgestimmt, gegen welche Politiker ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eröffnet werden soll. Unter den Anträgen, die gegen die früheren Finanzminister Papakonstantinou und Venizelos, aber auch gegen die früheren Regierungschefs Papandreou und Papadimos vorliegen, ist der Antrag gegen Venizelos für die Regierung besonders gefährlich. Denn eine Anklage gegen den heutigen Pasok-Vorsitzenden würde die Regierungskoalition von ND, Pasok und Dimar akut gefährden und die Möglichkeit von Neuwahlen näher rücken lassen. Aber so weit wird es wohl kaum kommen (zumal die Umfragen zeigen, dass 70 Prozent der Griechen keine Neuwahlen wollen).

Wenn man die täglichen Fernsehdebatten verfolgt und die groß aufgemachten Spekulationen in den Zeitungen liest, muss sich der Eindruck aufdrängen, dass hier ein gigantisches Ablenkungsmanöver abläuft. Die kriminalistische Frage, wer wann und mit welchem Motiv welche Liste verändert hat, ist relativ bedeutungslos. Die eigentliche politische Frage lautet, warum Listen über im Ausland gelagerte Vermögenswerte – und die Lagarde-Liste ist nur eine von ihnen – die ganzen Jahre nicht auf mögliche Fälle von Steuerhinterziehung und/oder Geldwäsche überprüft wurden. Seit Ende 2009 haben die griechischen Regierungen die eigene Öffentlichkeit – und die europäischen Partner – mit Ankündigungen bombardiert, mit welchen raffinierten Methoden der Erfassung und Abgleichung man die großen Steuersünder erfassen will. Geschehen ist all die Jahre nichts. Und während diese Regierungen keinen Finger gerührt haben, um auch nur die festgestellten Steuerschulden einzutreiben, verfügten sie ein Sparprogramm, das vor allem auf Lohn- und Rentenkürzungen und den Abbau von Sozialleistungen setzte. Und die wurden natürlich als alternativlos, ja als höchstes Gebot der Staatsraison dargestellt.

Aus der Sicht des „kleinen Mannes“ ist die Sache klar: Die Massen wurden geschröpft, die Superreichen blieben unbelästigt. Viele Griechen machen sich zwar Illusionen über die Summen, die im Ausland aufzutreiben sind, denn bei den Bankguthaben handelt es sich nur bei einem Teil um Fluchtgelder. Aber auch die zwei bis drei Milliarden Euro zusätzlicher Einnahmen, mit denen der heutige Finanzminister Stournaras rechnet, wären eine schöne Summe. Abgesehen davon, dass die Lagarde-Liste politisch sehr viel mehr wert war, weil sie eine Chance darstellte, das Vertrauen der Öffentlichkeit zurück zu gewinnen. Diese politische Chance haben alle Krisenregierungen – jenseits möglicher strafrechtlicher Vergehen – in mehr als krimineller Weise vergeben, indem sie es vorzogen, die Interessen ihrer traditionellen Klientel zu schützen.

Zum Schluss noch eine aktuelle Ankündigung des Finanzministeriums: Man ist dabei, die Konten von 54 000 griechischen Bürgern zu überprüfen, die in den letzten zwei Jahren hohe Geldsummen ins Ausland transferiert haben. 15 000 von ihnen haben offizielle Anfragen über die Quelle dieser Gelder bekommen, weil diese aus ihren Steuererklärungen nicht ersichtlich sind. Welche steuerlichen und juristischen Folgen diese Anfragen haben werden, wird man vielleicht in sechs Monaten erfahren. Oder auch nicht.

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