Eurokrise: Der Fall Italien

Jens Berger
Ein Artikel von:

„Wir haben das Patentrezept“ lautete vor vielen Jahren der Wahlslogan einer obskuren deutschen Splitterpartei im Bundestagswahlkampf. Die Partei ist obskur geblieben, ihr Slogan hat Karriere gemacht. Er prangt über der Wirtschaftspolitik der Eurozone. Das Patentrezept lautet Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnkürzung. Es verdankt sich der phänomenal neuen Erkenntnis der Eurokraten, dass dem einzelnen Mitgliedsstaat innerhalb einer Währungsunion das Mittel der Abwertung der eigenen Währung als gesamtwirtschaftliches Instrument zum Ausgleich von Wettbewerbsnachteilen nicht mehr zur Verfügung steht. Ersatz muss her in Form der generalisierten „inneren Abwertung“ auf betrieblicher Ebene, sprich Lohnkürzung. Ein Gastartikel von Erik Jochem

Ziel der Maßnahme ist der Abbau der Handelsbilanzungleichgewichte durch verbesserte Exportfähigkeit innerhalb der Eurozone. Entstanden sind die Ungleichgewichte durch den unterschiedlichen Umgang der Teilnehmerstaaten der Eurozone mit den jeweils unterschiedlichen Produktivitätsfortschritten ihrer Volkswirtschaften. Während Deutschland als eines der Länder mit dem stärksten Produktivitätszuwachs diese Position durch Stagnation der Löhne mindestens seit Einführung des Euro vollständig in die Wettbewerbswaagschale warf, neutralisierte Frankreich die eigenen Produktivitätszuwächse durch entsprechende Beteiligung der Arbeitnehmer und konterkarierte der wesentliche Rest der Eurozone die eigene Produktivitätsentwicklung durch überproportionale Lohnzuwächse.  

Was in einem „Betrieb“, nämlich Deutschland, klappt, das klappt auch in allen anderen, dachten sich die Eurokraten und geboren war das Patentrezept. Praktisch alle größeren Volkswirtschaften in Europa sollen nun mit einer großen Rolle rückwärts mindestens die Lohnverhältnisse wieder herstellen, die zu Beginn der Eurozone herrschten, um ihrerseits ihre jeweils erzielten Produktivitätsfortschritte quasi nachträglich in die Waagschale zu werfen.  

Wir wollen uns hier nicht lange mit der Frage aufhalten, was eine gleichzeitige interne Abwertung für die Wettbewerbsfähigkeit einer Gruppe von Staaten untereinander bewirkt. Die Frage beantwortet sich von selbst, wenn man sie mit der Situation vergleicht, dass zwei Staaten mit unterschiedlicher Währung jeweils gegenseitig die eigene Währung im Verhältnis zur anderen abwerten. (Tatsächlich gehen in Spanien und Italien die Handelsbilanzdefizite ganz überwiegend nicht durch Exportsteigerungen, sondern durch Importsenkungen infolge einbrechender Wirtschaftskraft zurück). 

Systematisch viel bedeutungsvoller für die Überlebensfähigkeit der Eurozone in der heutigen Form ist die Frage, ob der Weg der Lohnkürzung tatsächlich das Mittel der Wahl sein kann, um mit der unterschiedlichen Produktivitätsentwicklung in den zu einer Währungsunion verbundenen Volkswirtschaften umzugehen. 

Zu Beantwortung dieser Frage müssen wir uns vor Augen halten, dass selbst bei einem dauerhaften Einfrieren des Lohnniveaus, wie es zu Beginn der Eurozone herrschte, die gegenseitige Wettbewerbsfähigkeit der beteiligten Volkswirtschaften – unterschiedliche Entwicklung ihrer Produktivität vorausgesetzt – weiter kontinuierlich auseinander driftet. 

Paradebeispiel hierfür sind Deutschland und Italien. Während in Deutschland die in Arbeitsstunden ausgedrückte Produktivität von 2002 bis 2010 absolut um etwa 4 €/Std. stieg, verharrte sie in Italien durchgehend auf dem schon anfänglich um 5 €/Std. darunter liegenden Niveau, was fast einer Verdoppelung des deutschen Produktivitätsvorsprungs in diesem Zeitraum entspricht [1].

Dies bedeutet bei Anwendung des europäischen Patentrezepts, dass es für Italien zum Ausgleich dieser Entwicklung bei weitem nicht ausreichen würde, die seit Beginn der Eurozone dort stattgefundenen Lohnerhöhungen zurückzuschrauben, weil die in diesem Zeitraum erfolgte Auseinanderentwicklung der volkswirtschaftlichen Produktivität dabei vollkommen unangetastet bliebe: Italien gleicht damit allenfalls den durch die erfolgten Lohnerhöhungen im Verhältnis zum abstinenten Deutschland noch einmal zusätzlich eingetretenen Wettbewerbsnachteil aus. Obwohl Italien in Europa bereits zu den Ländern mit der niedrigsten Durchschnittslohn pro Kopf und pro Stunde (u.a. auf Grund deutlich längerer Arbeitszeiten) gehört [2], müsste Italien also zur Neutralisierung der Produktivitätsentwicklung in Deutschland sein Lohnniveau noch weitaus drastischer senken, als es der Entwicklung seiner Löhne seit Einführung des Euro entspricht. Bleibt es im übrigen – wovon bis auf weiteres auszugehen ist – auch in Zukunft bei der Stagnation der italienischen Produktivitätsentwicklung und dem Zuwachs an deutscher Produktivität führt die Anwendung des europäischen Patentrezepts dazu, dass „Produktivitätsfortschritt“ in Italien nicht durch technischen Fortschritt, sondern nur durch immer weitere Lohnsenkungen bis zum bitteren Ende erzielt werden könnte. 

Es ist also keine Frage, dass die Anwendung des Patentrezepts insbesondere für Italien von Beginn an ruinöse Folgen hätte. Das gleiche gilt aber im Prinzip für alle Volkswirtschaften innerhalb des Euro, deren Produktivitätsentwicklung weniger dynamisch als in Deutschland verläuft. 

Die Anwendung des Patentrezepts der Eurokraten führt mithin dazu, dass der deutsche Riese, je relativ stärker er wird, umso mehr zum Niedergang der anderen Volkswirtschaften beiträgt (Asymmetrie der Wirtschaftsentwicklung).

Die Währungsunion insbesondere mit Italien kann daher nur Bestand haben, wenn die Dynamik der Produktivitätsentwicklung in Deutschland nicht durch fortgesetzte systematische Lohnsenkungen („innere Abwertung“) in Italien und den weniger dynamischen Volkswirtschaften, sondern durch systematische (auch nachholende) Lohnerhöhungen („innere Aufwertung“) in Deutschland wettbewerbswirksam neutralisiert werden. Hierdurch könnte sich Deutschland nebenbei zur europäischen Konjunkturlokomotive entwickeln, die es entgegen anderslautender Gerüchte nie war. Kann sich Deutschland mit Blick auf andere Exportmärkte zu einem solchen Schritt nicht entschließen, bleibt Italien, das schon vor Eintritt in die Währungsunion auf eine lange Tradition von Abwertungen der Lira gegenüber der D-Mark zurückblicken kann, über kurz oder lang kein anderer Weg als der Austritt aus dem Euro. Tatsächlich besteht in Italien ganz anders als in Deutschland ein waches Bewusstsein dafür, mit Einführung des Euro im Hinblick auf die Währung kein souveräner Staat mehr zu sein [3].  

Italien bleibt so oder so das Problem einer auch schon vor 2002 stagnierenden Produktivitätsentwicklung, für das auch noch so tiefe Lohneinschnitte keine Lösung bieten [4]. Sinnbild hierfür ist die jahrzehntelange Faszination des Landes für den hemdsärmeligen Kleinbürger und Selfmademan Berlusconi, der sein Millionenvermögen nicht Innovationsfähigkeit, sondern seiner persönlichen Schlitzohrigkeit und seiner mindestens ans Kriminelle grenzenden Flexibilität im Umgang mit Gesetzen verdankt. Gefragt ist also nichts weniger als ein Wandel im kulturellen Selbstverständnis der Italiener und die entsprechende öffentliche Förderung und Begleitung moderner Bildungs- und Wirtschaftsstrukturen – eine Generationenaufgabe, deren etwaige Lösung aber für den Erhalt der Währungsunion zu derzeitigen deutschen Bedingungen zu spät kommt. Ob Italien diese Mammutaufgabe unter einer möglicherweise gewählten Regierung Monti zumindest erkennt und angeht, darf zudem bezweifelt werden. Montis Bereitschaft, auf Kosten der heimischen Wirtschaft für einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu sorgen, ist unbestritten. Ein Zeichen für wirtschaftspolitische Kompetenz ist sie nicht.   


[«1] keynesblog.com

[«2] vgl. Fußnote 1

[«3] vgl. etwa: Sergio Levrero: Un passo indietro? L’euro e la crisi del debito in: temi.repubblica.it, S. 195, Fußnote 4

[«4] www.linkiesta.it

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