Einführung von Studiengebühren in Hessen: Wettbewerb als Steuerungsinstrument entzieht der bildungspolitischen Gestaltung den Boden

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In Hessen sollen nach dem Willen der Landesregierung ab dem Wintersemester 2007/2008 wie in verschiedenen anderen Ländern „Studienbeiträge“ eingeführt werden.
Der Ausschuss für Wissenschaft und Kunst hat beschlossen, mich schriftlich anzuhören.
Meine Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Fraktion der CDU zur Einführung von Studienbeiträgen [PDF – 126 KB] möchte ich auch unseren an diesem Thema interessierten Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten zur Kenntnis geben.

Stellungnahme zu dem Gesetzentwurf der Fraktion der CDU für ein Gesetz zur Einführung von Studienbeiträgen – Drucks. 16/5747

Zu A. Problem

I A.

– Die Problembeschreibung zeigt, dass der Einführung von Studiengebühren in Hessen keine bildungspolitische Begründung zugrunde gelegt wird, sondern mit einem durch den Wettbewerb zwischen den Ländern ausgelösten – (vorgeblichen) Zwang begründet wird.

– Die Problembeschreibung beweist ein weiteres Mal, wie verfassungspolitisch schädlich und verfassungsrechtlich fragwürdig es für das gesamte Gemeinwesen war, dass das Bundesverfassungsgericht die Regelung zur Studiengebührenfreiheit im HRG kassiert und die Kompetenz zur Regelung von Studiengebühren in die Zuständigkeit der Länder verlagert hat.
Das Land Hessen sieht sich, weil verschiedene andere Länder Studiengebühren erheben wollen, nunmehr „gezwungen“, mit diesen Ländern mitzuziehen, damit die hessischen Hochschulen gleichfalls „erhebliche Mehreinnahmen“ erzielen können und ihre „Positionierung im nationalen …Vergleich halten zu können“ und, um „Wanderungsbewegungen aus anderen Bundesländern“ zu vermeiden.

– Diese Art von wettbewerblicher „Zwangslage“ wird in der ökonomischen Theorie als „Tragödie der Almende“ (Tragedy of the Commons) umschrieben. Auf das einstmals gemeinnützige Gut „Studium“ übertragen, besagt diese Theorie, dass ein allgemeines Gut oder ein öffentlicher Wert zerstört wird, wenn sich nicht alle an eine allgemein vereinbarte Regel halten. Wenn ein Land Studiengebühren einführt, fühlen sich die anderen genötigt, nachzuziehen, wenn sie keinen Konkurrenznachteil erleiden oder nicht von Studiengebühren-„Flüchtlingen“ überschwemmt werden wollen.

– Auf diesen Nachzieheffekt setzt der Gesetzentwurf der Fraktion der CDU auch unter den Hochschulen des Landes Hessens. Dass § 2 Abs. 3 es den Hochschulen überlässt durch Satzung über die Erhebung der Gebühr selbst zu entscheiden, ist deshalb reine Autonomie-Rhetorik. Warum sollte sich eine einzelne Hochschule dem Konkurrenzzwang eher entziehen können, wenn selbst das Land mit eigener Finanzhoheit meint, sich dem Wettbewerb nicht entziehen zu können. In Nordrhein-Westfalen hat sich übrigens schon erwiesen, dass mit Hinweis auf den „Wettbewerb“ – trotz massiver studentischer Proteste – an fast allen Hochschulen inzwischen Gebührensatzungen verabschiedet worden sind.

– Mit der gleichen Argumentation dürften künftig weitere Anhebungen der Studiengebühren begründet werden. Der Studiengebührenwettlauf ist damit eröffnet. Studiengebühren haben für Staat und Hochschulen eine geradezu drogenhafte Wirkung: Ist erst einmal der Einstieg geschafft, so führt das nach kurzer Zeit zu einer Erhöhung der Dosis. Das war schon in Deutschland zu beobachten: Erst kam die erhöhte Einschreibegebühr, dann die Langzeitstudiengebühr und jetzt soll die allgemeine Studiengebühr eingeführt werden. Überall in der Welt, in England, in Australien, in der Schweiz oder sonst wo, ist die eingeführte Gebühr binnen kurzer Zeit erhöht, ja sogar vervielfacht worden.

– Das Land Hessen selbst eröffnet im Übrigen schon die nächste Runde des Gebührenwettlaufs, indem es als bisher einziges Bundesland für „konsekutive Masterstudiengänge“ und Promotionsstudiengänge die Möglichkeit eröffnet, ab dem Wintersemester 2010 höhere Beiträge bis zu 1.500 Euro pro Semester zu erheben. Man muss also kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass es nicht lange dauern wird, bis mit derselben Begründung, wie sie im Gesetzentwurf der CDU-Fraktion angeführt wird, sich auch die anderen Länder erneut „gezwungen“ sehen, nachzuziehen. Ist etwa das damit gemeint, wenn es heißt, dass mit den höheren Beiträgen für den Masterabschluss „ein Element des Wettbewerbs eingeführt“ wird?

– Die Problemschilderung zeigt, dass „Wettbewerb“ als gesellschaftliches Steuerungselement, politischer, demokratischer oder sachgerechter Gestaltung übergeordnet wird, wenn nicht sogar den Boden entzieht.

II A.

– Die Behauptung Studiengebühren führten zu „erheblichen Mehreinnahmen“ und die zusätzlichen Einnahmen stellten einen „essenziellen Beitrag dar“, ist irreführend:

Gebühreneinnahmen – oder wie beschönigend gesagt wird, „Drittmittel für die Lehre“ -sind gemessen an den gesamten staatlichen Zuschüssen, ja sogar an Drittmitteln, die von den Hochschulen in der Forschung eingeworben werden, bescheiden.

– Selbstverständlich kann jeder Euro, der den unterfinanzierten Hochschulen über die staatlichen Finanzzuweisungen hinaus zufließt, deren Finanzausstattung verbessern. Die Multiplikation der Zahl der Studierenden mal 1.000 Euro (bis zum Bachelor, bzw. 1.500 bis zum Master), wie sie gerne angestellt wird, ist jedoch eine ziemliche Milchmädchenrechnung. Die Hochschulen müssen nämlich davon ihren Personal- und Verwaltungsaufwand für die Feststellung der Darlehensberechtigungen abrechnen. Außerdem müssen sie den Aufwand für die Auszahlung der Darlehen, die Kosten zur Bedienung und Verwaltung des „Studienfonds“ zur Absicherung der Studiendarlehen und Abdeckung des Aufwands bei der späteren Eintreibung der Kredite – man muss durchaus ein 20%-iges Ausfallrisiko einkalkulieren – in Rechnung stellen. Noch gar nicht eingerechnet ist der Aufwand für die Überprüfung von eventuellen Befreiungstatbeständen. Es wird somit eine weitere kostenträchtige Bürokratie aufgebaut.

– In der Begründung zum Gesetzentwurf wird mit einer Erhöhung der den Hochschulen zur Verfügung stehenden Finanzmittel um rund 10 v.H. gerechnet. Das dürfte eine ziemliche Fehleinschätzung sein.

Professor Ziegele vom Bertelsmann Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) – einer gewiss nicht gerade gebührenkritischen Einrichtung – hat in einer Studie aus dem Jahre 2003 den finanziellen Effekt nicht nur mal so über den Daumen, sondern methodisch akkurat errechnet. Es ist bisher die einzige Studie mit wissenschaftlichem Anspruch. Die CHE-Studie kommt für die Uni Bayreuth bei Gebühren zwischen 1000 und 1.500 Euro auf Nettoeinnahmen von 6-7% der staatlichen Haushaltsmittel für die untersuchte Universität.

Das ist übrigens ungefähr der Prozentsatz, mit dem an einer privaten Hochschule, nämlich der Universität Witten-Herdecke, die dort erhobenen Gebühren zur Gesamtfinanzierung beitragen. Selbst an den teuersten Privatuniversitäten in den USA machen die Gebühren nur einen Anteil von 4% (Caltech) bis 19% an der Finanzierung der Hochschulen aus.

III A.

– Es wird behauptet, „mit Studienbeiträgen wird eine Steigerung der Qualität der Lehre erreicht“. Hat die Einführung von Gebühren für Langzeitstudierende zu einer Verbesserung der Studienbedingungen geführt?
Hat die Einführung von Studiengebühren in England, in Australien oder in Österreich zu einer spürbaren Verbesserung der Lehre geführt?

– Eine Kernfrage dürfte dabei auch sein, ob das Land Hessen die Mehreinnahmen aus den Studiengebühren nicht durch Kürzungen in den Hochschulhaushalten konterkariert. Nun schwören die Wissenschaftsminister aller Länder hoch und heilig, dass die Gebühren voll und ganz an den Hochschulen verbleiben sollen. Aber selbst gut gemeinte Garantieerklärungen können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass der Haushaltsgesetzgeber Jahr für Jahr über den Haushalt beschließt und zwar in eigener Souveränität – auch der sog. „Hochschulpakt“ bindet den Haushaltsgesetzgeber nicht.

– Bildungspolitisch höchst bemerkenswert ist auch die Formulierung „da die staatliche Finanzierung unberührt bleibt“. In allen politischen Erklärungen hören und lesen wir, dass im Interesse der Zukunftsfähigkeit unseres Landes die staatlichen Investitionen in die Bildung und in die Forschung erhöht werden müssten. Das Gegenteil ist aber faktisch der Fall. Selbst wenn der in Hessen beschlossene „Hochschulpakt“ eingehalten wird, bedeutet das inflationsbereinigt bis zum Jahr 2010 eine Kürzung der staatlichen Zuschüsse um rd. 10%. Das heißt, dass der geschätzte „Gewinn“ der Hochschulen durch die Studiengebühren faktisch durch die nominale Preisentwicklung in wenigen Jahren aufgezehrt sein wird. Auch das Land Hessen scheint es also beim Reden zu belassen und bei der Finanzierung der Hochschulen vor allem auf eine Verlagerung der Mehrausgaben von öffentlichen Mitteln auf die privaten Haushalte zu setzen.

– Nach realistischen Schätzungen dürfte die Zahl der Studierenden aus demographischen Gründen von heute 1,9 Millionen auf 2,7 Millionen bis 2012 ansteigen. Auch das Land Hessen dürfte von diesem Anstieg der Studierendenzahlen um rd. 40% nicht ausgenommen sein. Wie angesichts dieses bevorstehenden Anstiegs der Zahl der Studierenden bei gleich bleibenden staatlichen Zuwendungen durch (wohl zu hoch eingeschätzte) 10% Mehreinnahmen durch Studiengebühren eine „erhebliche Steigerung der Qualität der Lehre, insbesondere der Betreuungsintensität“ erreicht werden soll, bleibt das Geheimnis der CDU-Fraktion im Hessischen Landtag. Auch durch die Lenkung in noch so kurze Studiengänge und die Errichtung noch so hoher Übergangsbarrieren in die Masterstudiengänge werden die auf die Hochschulen zukommenden Belastungen nicht aufgefangen werden können.

– Es stimmt, dass die Hochschulen in Deutschland im OECD-Vergleich unterfinanziert sind und dass die Bundesrepublik beim Anteil der öffentlichen Ausgaben für Bildung nur im hinteren Mittelfeld vergleichbarer Länder liegt.
Dass der Anteil der Ausgaben der öffentlichen Hand für die Hochschulen von 1975 bis 2002 von 1,07% auf 0,88% des BIP sogar noch zurückgegangen ist, (vor allem durch Kürzungen bei den Ländern) (Spiegel 7/2005) ist nicht das Ergebnis einer schicksalhaften Entwicklung, sondern das Ergebnis von politischen Entscheidungen.

– Eine Erhöhung der „bisher zur Verfügung stehenden Mittel“ für die Hochschulen, wird als unmöglich erklärt. Die Spar- und Steuersenkungspolitik des Staates ist jedoch eine politische Wertentscheidung – genauso wie die Erhebung einer staatlichen Abgabe für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, bei Studiengebühren eben für Studierende.

– Allein die Steuersenkungen seit 2000/2001 bei der Gewerbe-, Körperschafts-, Einkommenssteuer oder durch den Wegfall der Börsenumsatzsteuer haben nach konservativen Schätzungen zu Steuermindereinnahmen von weit über 100 Milliarden Euro geführt und Deutschland hinter der Slowakei und zusammen mit Tschechien zu einem Land mit der niedrigsten Steuerquoten im europäischen Vergleich gemacht. Im Übrigen mit dem bekannt geringen Erfolg für Wachstum und Beschäftigung. Die gesamten öffentlichen Ausgaben für die Lehre an den Hochschulen machen dagegen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes jährlich gerade rund 12 Milliarden Euro aus.
Statt einer historisch einmaligen Förderung des „Investitionskapitals“ durch eine endlose Kette von Steuererleichterungen hätte der „Standort“ Deutschland eher eine Förderung des „Humankapitals“ gebraucht.

– Der baden-württembergische Wissenschaftsminister Frankenberg hat ausrechnen lassen, dass die Erhebung von Studiengebühren in Höhe von 500 Euro pro Studierenden und pro Semester nach Abzug von Kosten 1,4 Milliarden zusätzliche Einnahmen für die Hochschulen in Deutschland erbrächten. Stellt man dem gegenüber, dass allein die Senkung des Spitzensteuersatzes jährlich 2,5 Milliarden Steuererleichterungen bei hohen Einkommensbeziehern brachten, so wird deutlich, wem genommen und wer belastet wird.

– Wenn man schon den Akademikern „in die Tasche greifen will“, dann wäre es erheblich unkomplizierter gewesen eine „Akademikersteuer“ zu erheben. Dann hätte man wenigstens diejenigen entsprechend ihres Einkommens belastet, die durch ihr Studium schon einen entsprechenden Lohn oder Einkommen beziehen und nicht diejenigen Akademiker, die noch kein Einkommen erzielen. Es bedürfte dann nicht den riesigen dezentralen vielfachen Verwaltungsaufwand vom Einzug der Gebühren bis zum Inkasso der Kredite. Die vorgezogenen Kosten für ein Studium für eine später zu erzielende Bildungsdividende sind ein weiterer Bruch des Generationenvertrages.

Zu B. Lösung

I B.

– Der Wechsel der Wortwahl von „Studiengebühren“ in „Studienbeiträge“ ist allenfalls eine beschönigende Umschreibung, er ändert nichts daran, dass auf die Studierenden künftig eine zusätzliche Kostenbelastung zukommen soll.

– Die Begründung, warum die Langzeitstudiengebühren auch künftig vom Land kassiert werden sollen, ist unlogisch: Was sollte die Hochschulen zu „erheblichen Anstrengungen“ anreizen, „die durchschnittliche Studiendauer zu verkürzen“, wenn das Geld ans Land fließt und die Hochschulen keine zusätzlichen Mittel zur „Steigerung der Qualität der Lehre“ erhalten?

– Selbstredend dürfen Hochschulen keinen finanziellen Vorteil daraus ziehen, dass Studierende über die Regelstudienzeit hinaus studieren. Die Dauer eines Studiums hängt jedoch keineswegs nur von der Verbesserung des Studienangebots, sondern auch von der Studiermöglichkeit für die Studierenden ab.
Nach einer KfW-Studie (2006) gaben 21 Prozent der Studierenden Geldprobleme als Grund für eine Unterbrechung des Erststudiums an.
Studiengebühren dürften daher kaum zu effektiverem Studieren führen, sondern zwingen noch mehr Studierende (derzeit schon zwei Drittel) zu noch längerer Erwerbsarbeit neben dem Studium und wirken dadurch studienzeitverlängernd (16.Sozialerhebung des DSW).
Die große Zahl der Exmatrikulationen nach Einführung der Langzeitgebühr, lässt darauf schließen, dass eher weniger Studierende ihr Studium mit einem Examen abschließen.

– Der Gesetzgeber geht davon aus, dass der Gesetzentwurf mit „aus sozialen Erwägungen heraus“ notwendigen Ausnahmen von der Gebührenpflicht und mit der Bereitstellung eines „bonitätsunabhängigen Darlehens zur Finanzierung der Gebühren“, der in Art. 59 der Hessischen Verfassung bestimmten „Unentgeltlichkeit“ des Studiums gerecht werde.

Dass dies dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht entspricht, ist evident. Nachdem das Bundesverfassungsgericht die Regelung von Studiengebühren in die Länderzuständigkeit gegeben hat, gilt für diese Rechtsmaterie Landesrecht und damit die Landesverfassung.
Die Ratio Legis dieser Verfassungsbestimmung ist jedenfalls, dass Bildung ein „öffentliches Gut“ bzw. ein „soziales Grundrecht“ sein soll. Mit der Einführung von Studiengebühren wird ein Paradigmenwechsel vollzogen und das Studium von einem gemeinnützigen öffentlichen Gut zu einem privaten Gut, für das ein Entgelt zu bezahlen ist.

– Ob das im Gesetzentwurf angeführte Wettbewerbsargument, fiskalische oder finanzpolitische Opportunitäten geeignet sind, den eindeutigen Wortlaut des Art. 59 der Hessischen Verfassung „auszugestalten“ (§ 12), ist rechtlich höchst fragwürdig.

– Die Frage, ob der Gesetzentwurf, dem nach dem Gebührenurteil des Bundesverfassungsgerichts nunmehr allein einschlägigen Landesrecht entspricht, dürfte vermutlich endgültig erst durch die Gerichte geklärt werden.

Deshalb hier nur zur Sache:

– Dass Studiengebühren in Höhe von 500 Euro bis zum Bachelor (des „ersten berufsqualifizierenden Abschlusses“) und in Höhe von bis zu 1.500 Euro für den Master und die Promotion sozialverträglich wären, das entspricht reinem „Oberschichtendenken“. Man halte doch nur einmal dagegen, dass das Durchschnittseinkommen einer Arbeiterfamilie bei netto 2.200 Euro liegt, selbst, wenn man einen BaföG-Satz von 439 Euro für das studierende Kind unterstellt, sind 1.000 Euro (bzw. 3.000 Euro für einen Master) zusätzliche Ausbildungskosten für die betreffende Familie ein sehr hoher Anteil am Jahreseinkommen. Das gilt auch noch für die das Durchschnittseinkommen einer Angestelltenfamilie mit netto 2.700 Euro (BaföG dann 214 Euro). Die Finanzierung des Studiums gilt in Deutschland weit überwiegend (80%) als moralische Pflicht der Eltern.

– Nach einer Studie der Kreditanstalt für Wiederaufbau aus diesem Jahr beeinflussen „der familiäre Hintergrund und das verfügbare Familieneinkommen entscheidend die Höhe der Mittel, die in die Ausbildung von Kindern investiert werden können. So wirkt sich die soziale Herkunft auch unmittelbar auf die verfügbare Geldmenge eines Studenten aus.“

Wenn derzeit von 100 Kindern hoher sozialer Herkunft, 84 der Übergang in die gymnasiale Oberstufe und 72 die Aufnahme eines Studiums gelingt, von 100 Kindern unterer sozialen Herkunft aber nur 33 der Übergang in eine weiterführende Schule und nur noch 8 von 100 die Überwindung der Schwelle zum Studium gelingt (DSW Sozialerhebung), dann ist das weder volkswirtschaftlich vertretbar noch sozial verträglich, sondern ein „sozial unerträglicher“ bildungspolitischer Skandal, dem man aktiv entgegensteuern müsste. Mit der Einführung von Studiengebühren wird aber gerade umgekehrt eine weitere finanzielle Barriere für die Aufnahme eines Studiums gerade für junge Menschen aus bildungsferneren und sozial schwächeren Schichten aufgerichtet.

– Das ist nicht nur eine plausible Annahme in dem Sinne, dass eben ein höherer Preis die Nachfrage senkt, sondern dafür gibt es empirische Befunde aus der Vergangenheit: Die Erhöhung des Anteils der Studierenden pro Jahrgang von 27,7 auf 35,7% seit der Verbesserung des BAFöG im Jahre 1999 ist ein deutlicher Hinweis, dass die Kosten des Studiums eine echte Bildungsbarriere sind.

– Deutschland liegt beim Anteil der Bevölkerung zwischen 24 – 35 Jahren, der einen tertiären Abschluss erreicht hat, auf Platz 20 unter den von der OECD verglichenen 29 Staaten. Angesichts zurückgehender Jahrgangsstärken, kann schon in absehbarer Zeit vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich nicht einmal mehr der Ersatzbedarf an wissenschaftlich Qualifizierten befriedigt werden.
Alle volkswirtschaftlichen Analysen vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bis zur internationalen OECD sind sich einig: Wir brauchen mehr Studierende. Wer es ernst meint mit dieser Forderung, darf den Zugang zum Studium nicht noch erschweren.
Studiengebühren belasten den Aufbau des in Deutschland im internationalen Vergleich ohnehin ungenügend entwickelten „Humankapitals“ und sind insoweit ein Produktivitätshemmnis und eine Innovations- und Wachstumsbremse – sagt die OECD.

– Art. 59 der Hessischen Verfassung spricht korrekt davon, dass der „Unterricht“ an den Hochschulen unentgeltlich sein soll und hebt damit, anders als der Entwurf der CDU-Fraktion, darauf ab, dass eine Studium durchaus auch schon ohne Studiengebühren erhebliche Kosten verursacht.
Tatsächlich sind die Kosten, die die öffentliche Hand trägt ungefähr genauso hoch, wie die privaten Kosten für ein Studium.
Die öffentlichen Durchschnittskosten pro Studienplatz lagen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahre 2003 bei 7.170 Euro pro Jahr. Nach Berechnungen von Dohmen und Hoi benötigt ein Studierender für den Lebensunterhalt und für studienbedingte Aufwendungen im Durchschnitt jährlich 9.400 Euro.
(Ökonomisch betrachtet müsste man dabei noch die während des Studiums entgangenen Erwerbseinkommen von niedrig angesetzten 30.000 Euro pro Jahr einkalkulieren.)
Selbst wenn man die Opportunitätskosten außer Acht lässt, halten sich die öffentlichen Ausgaben für ein Studium und die privaten Kosten ungefähr die Waage. Durch die Einführung von Studiengebühren wird diese gleichgewichtige Lastenverteilung zu Lasten von Privaten verschoben.

– Wer meint die „Unentgeltlichkeit“ durch die Einführung eines Darlehens fingieren zu können, verkennt die Funktion des Zinses für das geborgte Geld. Studierende die gezwungen sind ein Darlehen aufzunehmen, zahlen nicht nur die Gebühr sondern zusätzlich den „Preis“ für das Darlehen.

– „Der Elternanteil an der Studienfinanzierung macht bei Studierenden aus einer hohen gesellschaftlichen Gruppe rund 64 Prozent aus, bei Studierenden aus niedrigeren Schichten beträgt dieser Anteil lediglich 27 Prozent.“ (KfW-Studie). Das heißt, dass Studierende aus unteren Einkommensschichten einen erheblich höheren Preis für ihr Studium bezahlen müssen, als die übergroße Mehrheit der Studierenden aus einkommensstärkeren Gesellschaftsschichten.

– Die „nachgelagerte Gebühr“ schreibt die Benachteiligung der Studierenden aus niedrigen Einkommensverhältnissen und aus Familien mit Kindern als Start- und Einkommensnachteil in die Berufsphase fort. Wer reiche Eltern hat, startet ohne Hypothek.
Auch das ist keineswegs nur eine plausible Annahme, sondern wird empirisch fundiert: Obwohl die Verschuldungshöhe auf 10.000 Euro gedeckelt wurde, sank nach der Umstellung des BaföG auf Darlehensmodelle im Jahre 1982 der Anteil der Studierenden aus sog. „bildungsfernen“ Schichten bis 2000 von 23% auf 13%, der Anteil der einkommensstarken Herkunftsgruppen stieg entsprechend von 17% auf 33%.

– Nach einer empirischen Studie von Becker, TU Dresden, schätzen Eltern aus bildungsfernen eher sozial niedrigen Familien das finanzielle Risiko für ein Studium weit höher ein als höhere Einkommensbezieher. Letztere sind auch eher bereit ein finanzielles Risiko einzugehen, weil für sie ein Studium eher dem selbstverständlichen Statuserhalt dient.

– In England hat die Darlehensregelung – allerdings mit deutlich geringeren Zinssätzen als in Hessen – sogar zu dem paradoxen Ergebnis geführt, dass die Wohlhabenderen das Darlehen eher in Anspruch nehmen, während diejenigen, die Geld brauchen, lieber während des Studiums arbeiten, um das Geld aufzubringen.

– Selbst bei der vorgesehenen „Begrenzung der Rückzahlungspflicht im Falle eines zusätzlichen Darlehens nach BAföG auf 17.000 €“ und einer „Deckelung des Zinssatzes auf maximal 7,5 v.H.“ (übrigens ein im internationalen Vergleich sehr hoher Zinssatz) erwartet die „Generation Praktikum“ nach ihrem Studium eine erhebliche „Hypothek“, die für viele junge Menschen eine prohibitive Wirkung auf die Aufnahme eines Studiums haben dürfte.

Zu F. Unmittelbare oder mittelbare Auswirkungen auf die Chancengleichheit von Frauen und Männern

Die Einführung von Studiengebühren benachteiligt Frauen stärker als Männer, weil die Rückzahlungsverpflichtungen vor dem Hintergrund nach wie vor schlechterer Einkommenserwartungen und Ausfallzeiten in der Kindererziehungsphase auf Frauen einen höheren Abschreckungseffekt haben (eine schlechtere Bildungsrendite erwarten lassen) als bei Männern.
Die Einführung von Studiengebühren ist kinderfeindlich, weil sie unter gegebenen Geschlechterrollen vor allem bei Frauen dazu führen, dass wegen der Rückzahlungsverpflichtungen der Kinderwunsch vermutlich noch weiter zurückgestellt wird, als das ohnehin bei Akademikerinnen der Fall ist.

Studiengebühren führen entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer weiteren (ungerechten) Belastung und Benachteilung von Familien mit Kindern, gegenüber Familien ohne Kinder.

Anmerkungen zu einzelnen Paragraphen:
– Die Beitragsbefreiungsregelungen nach § 6 sind äußerst restriktiv. Das Engagement von Studierenden in der Hochschulselbstverwaltung wird z.B. nicht als (wenigstens teilweiser) Befreiungstatbestand genannt. Bei Krankheit werden hohe Barrieren errichtet. Teilzeitstudien werden erschwert.

– Die Regelung der Darlehensgewährung (§ 7 Abs. 4) wonach „ein Anspruch auf Gewährung des Studiendarlehens….nur für ein Studium an einer Hochschule des Landes“ besteht, ist ein echtes Mobilitätshemmnis für die Studierenden und schränkt die Freiheit der Studienwahl innerhalb der Bundesrepublik erheblich ein. Das, obwohl Mobilität und „Internationalisierung der Hochschulen“ allenthalben propagiert werden.

– Der Beginn der Rückzahlungspflicht für das Studiendarlehen „spätestens zwei Jahre nach Beendigung des Studiums“ (§ 8 Abs.1) ist angesichts der Schwierigkeiten, die heute junge Akademiker auf dem Arbeitsmarkt vorfinden („Generation Praktikum“) viel zu knapp.

– Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass diese Rückzahlungspflicht schon ab einem Einkommen von 1060 Euro beginnen soll. Das bedeutet etwa für BAföG-Empfänger, dass sie zu Beginn ihres beruflichen Einstiegs mit einer doppelten Rückzahlungspflicht belastet werden.

– Der Studienfonds für Darlehensausfälle (§ 9) verlagert das Darlehensrisiko auf die Studierenden und belässt es nicht bei der darlehensgebenden Institution. Das bedeutet eine Risikoentlastung der Darlehensgeber zu Lasten der Gesamtheit der Studiengebührenzahler; eine bislang ziemliche einmalige Risikoabsicherung für Darlehensgeber.
Diese Ausfallbürgschaft widerspricht der Rechtsnatur von Gebühren und von Beiträgen und ist rechtlich höchst bedenklich.

Zur Begründung:

Das zu A. und B. Gesagte gilt auch für die Begründung.

– Zusätzlich eingeführt wird unter I. Vorbemerkung das Argument, dass durch die Studiengebühr eine Gerechtigkeitslücke gegenüber kostenpflichtigen nicht akademischen Ausbildungsberufen geschlossen werde. Das Argument verkennt das Wesen einer Hochschule als einer allgemeinen Bildungseinrichtung. Zwischen einer beruflichen Weiterqualifikation und einem Studium besteht ein grundlegender Unterschied. Im Übrigen ist etwa der Hinweis auf das Handwerk willkürlich: Auszubildende bekommen im Gegensatz zu den Studierenden eine Ausbildungsbeihilfe.

– Es trifft zu, dass Akademiker im Durchschnitt ein höheres Einkommen erzielen als der Durchschnitt. Wenn besser verdienende Akademiker jedoch ihre „Studienkosten“ nicht durch eine entsprechend höhere Steuerbelastung refinanzieren, so ist das allenfalls ein Anhaltspunkt für ein ungerechtes Einkommenssteuersystem, aber kein Grund Menschen in einer Lebensphase zu belasten, wo sie in der Regel ohnehin an der Armutsgrenze leben.

Dr. Wolfgang Lieb
Staatssekretär a.D.

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