Die Agenda 2010 – Begründung und Legitimationsbasis für eine unsoziale Politik

Christoph Butterwegge
Ein Artikel von Christoph Butterwegge

Eine kritische Bilanz zum 10. Jahrestag von Gerhard Schröders Regierungserklärung
In einem Großteil der Massenmedien wird die Agenda 2010 zu ihrem 10. Jahrestag am 14. März 2013 geradezu überschwänglich gelobt. Während sie das Handelsblatt (v. 6.3.2013) als „Geburtsstunde des deutschen Jobwunders“ würdigte, bescheinigte ihr die Welt (v. 7.3.2013) schon in der Überschrift eines Artikels, „keine Armut“ bewirkt zu haben. Klaus F. Zimmermann fragte in einem Gastbeitrag für den Kölner Stadt-Anzeiger (v. 8.3.2013) ungeduldig: „Wo bleibt die Agenda 2020?“ Was der Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) übersah: Angela Merkel, die heute vor ihrer erneuten Wiederwahl als Bundeskanzlerin steht, liebt keine „Blut-, Schweiß- und Tränenreden“, sondern bevorzugt ein möglichst geräuschloses Durchregieren ohne unnötiges Pathos und „Basta!“-Gehabe. Mit ihr wird es deshalb zwar keine „Agenda 2020“, wohl aber die von neoliberalen Ökonomen wie Zimmermann erhoffte Fortsetzung der neoliberalen Reformpolitik à la Schröder/Fischer geben, sei es weiterhin in einer Koalition der Unionsparteien mit der FDP oder wieder in einer Großen Koalition mit der SPD, die keineswegs von den „Agenda“-Reformen lassen möchte, aber in ihrem Wahlprogramm vorsichtig „Teilkorrekturen“ anmahnt, ohne dafür nach der Bundestagswahl eine Durchsetzungschance zu haben. Von Christoph Butterwegge

Rund um das 10. Agenda-2010-Jubiläum ist eine richtige Schlacht um die Deutungshoheit im Hinblick darauf entbrannt, ob die „Agenda“-Politik ein Segen für Deutschland und seinen Arbeitsmarkt oder ein umfassendes Regierungsprogramm zur Pauperisierung, Prekarisierung und sozialen Polarisierung war. Die sozialdemokratischen Hauptrepräsentanten der Agenda 2010, etwa Gerhard Schröder, von manchen oft als „Gazprom-Gerd“ verhöhnt, und Wolfgang Clement, mittlerweile zum FDP-Wahlkämpfer herabgesunken, touren heute quer durch die Bundesrepublik und deren Medienlandschaft, um sich dafür selbst zu loben und ihre angeblichen Erfolge im Rahmen des Agenda-2010-Jubiläums noch einmal gemeinsam mit den mächtigsten und feinsten Kreisen der Gesellschaft, die von ihren Reformen teilweise in barer Münze profitiert haben, zu feiern. Um die Agenda 2010 fundierter als ihre unkritischen Gratulanten beurteilen zu können, muss man ihre Entstehungsgeschichte, ihre zentralen Inhalte und ihre Auswirkungen daraufhin untersuchen, welche Ziele damit verfolgt und wessen Interessen bedient wurden, was im Folgenden geschehen soll.

Hintergrund und Entstehungszusammenhang der Agenda 2010

Nachdem die SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihre parlamentarische Mehrheit bei der Bundestagswahl am 22. September 2002 mit großer Mühe verteidigt hatten, schien es zumindest für einen Moment, als wollten sie eine wirtschafts-, steuer- und sozialpolitische Kurskorrektur vornehmen. Diskutiert wurde in den Regierungsparteien damals beispielsweise über eine Wiedereinführung der Vermögen- sowie eine kräftige Erhöhung der Erbschaftsteuer, die Abschaffung des steuerlichen Ehegattensplittings zwecks Verbesserung der Kinderförderung sowie eine drastische Anhebung der Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung.

Wer gehofft hatte, Bundeskanzler Schröder werde sich nunmehr an solchen Forderungen der Gewerkschaften orientieren, die seine Wiederwahl – im Unterschied zu den Kapitalverbänden – unterstützt hatten, wurde jedoch bitter enttäuscht. In seiner Regierungserklärung vom 29. Oktober 2002 [PDF – 165 KB] plädierte Schröder ohne Umschweife für Leistungskürzungen: „Zu Reform und Erneuerung gehört auch, manche Ansprüche, Regelungen und Zuwendungen des deutschen Wohlfahrtsstaates zur Disposition zu stellen. Manches, was auf die Anfänge des Sozialstaates in der Bismarck-Zeit zurückgeht und noch vor 30, 40 oder 50 Jahren berechtigt gewesen sein mag, hat heute seine Dringlichkeit und damit auch seine Begründung verloren.“

Bei der Kabinetts(um)bildung entstanden zwei neue „Superministerien“, die mit Ulla Schmidt und Wolfgang Clement sozialdemokratische Politiker übernahmen. Gerhard Schröder spaltete – ein historisches Novum – den Sektor der Arbeitersozial(versicherungs)politik organisatorisch auf. Inhaltlich bedeutete die Verwaltungsreform, dass Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsrecht – traditioneller Kern der Sozialpolitik – der nach neoklassischen Modellvorstellungen betriebenen Wirtschaftspolitik untergeordnet und in das dafür zuständige Ressort eingegliedert wurden, wo sie denn auch nur noch eine Nebenrolle spielten. Clement, als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident nicht eben sehr erfolgreich, ging nach Berlin, wo er zum Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit ernannt wurde; Schmidt, die während ihrer kurzen Amtszeit gegenüber Krankenkassen, Ärztelobby und Pharmaindustrie keine Zeichen gesetzt hatte, erhielt die restlichen Sozialbereiche hinzu und firmierte fortan als Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung.

Für die rot-grüne Bundesregierung verlief der Start in die neue Legislaturperiode katastrophal: Während sich die konjunkturellen Aussichten, die Lage auf dem Arbeitsmarkt und die Haushaltssituation beinahe von Tag zu Tag verschlechterten, eskalierten die Konflikte über die Grundrichtung der Regierungspolitik. Kurz vor der Jahreswende 2002/03 formulierten Mitarbeiter/innen der von Heiko Geue – heute Wahlkampfmanager des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück – geleiteten Planungsabteilung des damals vom heutigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier geführten Kanzleramtes ein Thesenpapier mit dem Titel „Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit“, das die Politik der Bundesregierung fortan maßgeblich beeinflusste. Es basierte auf der sog. Lissabon-Strategie: Auf dem dortigen EU-Sondergipfel am 23./24. März 2000 wurde für das laufende Jahrzehnt als „strategisches Ziel“ festgelegt, „die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen.“ Die umfassende „Modernisierung“ und Anpassung der Sozialstaaten in den Mitgliedsländern an Markterfordernisse bzw. Wirtschaftsinteressen verstand man als Instrument, das der Verwirklichung des Lissabon-Ziels dient.

Einleitend bemerkte das Thesenpapier des Bundeskanzleramtes, die „an sich hervorragenden Systeme der sozialen Sicherung“ in Deutschland müssten aus mehreren Gründen tiefgreifend reformiert werden: „Erstens lastet auf den Systemen, dass die Wiedervereinigung neben Verschuldung in erster Linie über die Belastung des Faktors Arbeit finanziert wurde. Zweitens müssen unsere Systeme zukunftsfest für die von der Globalisierung ausgehenden Veränderungen gemacht werden. Drittens haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Verkrustungen und Vermachtungen gebildet, die zu hohen Effizienzverlusten führen.“ [1] Weiter hieß es, dass die Rente mit einem Drittel den größten Ausgabenblock im Bundeshaushalt bilde, den über die Einnahmeseite zu konsolidieren problematisch sei, weil Bürger und Unternehmer dann noch stärker belastet würden: „Sowohl unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten (hohe Sparquote, geringe Konsumquote) als auch unter Aspekten der Gerechtigkeit wird man der Diskussion über eine weitere Beteiligung auch der Rentner an der Rückführung der konsumtiven Ausgaben nicht ausweichen können. Es ist zu prüfen, wie durch eine von der Rürup-Kommission neu zu entwickelnde Rentenformel der Ausgabenblock Rente in den nächsten Jahren relativ verringert werden kann.“ [2]

In einer Senkung der Steuer- und Abgabenbelastung sah das Bundeskanzleramt einen „Königsweg“, um mehr Beschäftigung und Vertrauen bei den Bürger(inne)n zu schaffen. „Es entwickelt sich eine dreifach positive Wirkung auf die Investitionen: Unternehmer erwarten, dass die Menschen mehr konsumieren; niedrigere Steuern verbessern die Möglichkeit der Gewinnerzielung; niedrigere Abgaben verbilligen die mit einem Beschäftigungsaufbau verbundenen Investitionen.“ [3] Da mehr Arbeitsplätze wiederum den Konsum stärkten und die sozialen Sicherungssysteme entlasteten, erhalte die positive Wirkung der ursprünglichen Steuer- und Abgabenentlastung „Nahrung aus sich selbst“, sodass sich der Kreislauf spiralförmig nach oben gerichtet fortsetzen könne. Hier wird deutlich, dass die Planer ihr Hauptaugenmerk auf das Kapital und seine Möglichkeiten der Profitmaximierung richteten, weil sie dessen Interessen mit dem Allgemeinwohl gleichsetzten und spekulative Erwartungen im Hinblick auf die arbeitsplatzschaffende Wirkung von Unternehmensgewinnen hegten.

Folgen der hohen Arbeitslosigkeit und der kollektiven Alterung stellten die Sozialsysteme nach Ansicht des Bundeskanzleramtes überall auf der Welt vor große Probleme. Zwar gebe es keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Sozialpolitik, wie häufig behauptet werde. „Die Globalisierung führt nicht zwangsläufig zu einer Erosion der sozialen Sicherungssysteme, sie verändert allerdings die Bedingungen für ihren Erfolg.“ [4] Für die weiter zunehmende Arbeitslosigkeit wurde in erster Linie die Entwicklung der „Personalzusatzkosten“ verantwortlich gemacht: „Wie schädlich steigende Lohnnebenkosten sind, zeigt die Entwicklung seit der Wiedervereinigung: 1990 betrugen die Beitragssätze zur Sozialversicherung noch 35,5%. Bis 1998 waren sie auf den historischen Höchstwert von 42% gestiegen. Im gleichen Zeitraum ist die Arbeitslosigkeit von 2,6 Mio. auf 4,28 Mio. Arbeitslose im Jahresdurchschnitt gestiegen.“ [5] So berechtigt es zu sein schien, zwischen den Zahlen der beiden genannten Zeitreihen einen Zusammenhang herzustellen, so unrichtig war es, die Massenarbeitslosigkeit auf gestiegene Personalzusatzkosten zurückzuführen. Ursache und Wirkung wurden miteinander verwechselt: „Die hohe Erwerbslosigkeit ist die Ursache für die hohen Lohnnebenkosten und nicht umgekehrt.“ [6]

Die fehlerhafte Analyse des Kanzleramtes führte zu einer falschen Strategie, die das o.g. Thesenpapier so umriss: „Deswegen und vor dem Hintergrund des demographischen Wandels (immer weniger Junge müssen in Zukunft immer mehr alte unterstützen) ist eine der Kernstrategien der Bundesregierung die auf eine Absenkung der Lohnnebenkosten abzielende Modernisierung der sozialen Sicherungssysteme.“ [7] Erwerbslosigkeit und Unternehmensgewinne hatten schon während der „Kohl-Ära“ gleichermaßen Rekordhöhen erreicht, weshalb es völlig abwegig war anzunehmen, die Senkung der (gesetzlichen) „Lohnnebenkosten“ werde einen Beschäftigungsboom auslösen. Vielmehr erwies sich der Glaube, die Umstellung des Sozialsystems von Beitrags- auf Steuerfinanzierung und die einseitige, nicht mehr paritätisch, sondern privat finanzierte Versicherung von Lebensrisiken schaffe zusätzliche Arbeitsplätze, wirtschaftliche Stabilität und mehr soziale Gerechtigkeit, als Illusion – genauso trügerisch erwies sich die Hoffnung, das Kapitaldeckungsprinzip löse die Probleme der Alterssicherung einer schrumpfenden Erwerbsbevölkerung (zumindest besser als das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rentenversicherung). Denn in beiden Fällen handelt es sich um eine bloße Problemverschiebung, die nichts an den Ursachen des Kostenanstiegs ändert. Überzeugend argumentiert hingegen Diether Döring, dass die Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht (auf ihr bislang nicht unterliegende Gruppen) einer hoch individualisierten Leistungsgesellschaft, die sich dem Globalisierungsprozess stellt, entspreche und dort auch große Akzeptanz finden würde. [8]

Erleichtert wurde den „Modernisierern“ die Verschärfung des Regierungskurses zur Umstrukturierung der Sozialsysteme dadurch, dass die EU-Kommission am 21. Januar 2003 ein Defizitverfahren gegen die Bundesrepublik einleitete, weil sie bei der Neuverschuldung im abgelaufenen Haushaltsjahr die 3-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts überschritten hatte, und dass die SPD bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Februar 2003 herbe Verluste erlitt, die dort der CDU die Regierungsübernahme ermöglichten, wodurch im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat ein Patt entstand, das bei umfassenderen Gesetzesvorhaben wie der Gesundheitsreform zu einer Kooperation mit der Opposition zwang. [9]

Nachdem die Leitmedien der Bundesrepublik wochenlang darüber spekuliert hatten, wie die in demoskopischen Umfragen ermittelten Ansehensverluste von Gerhard Schröder und seiner Regierung in der Öffentlichkeit durch möglichst „einschneidende“ oder „schmerzhafte“ Reformen behoben werden könnten, gab dieser am 14. März 2003 vor dem Bundestag eine Regierungserklärung [PDF – 650 KB] ab. Sie trug den hochtrabenden Namen „Agenda 2010“, der angeblich einem Vorschlag seiner Frau Doris Schröder-Köpf zu verdanken ist. [10] Mit seiner kurz vor der Bombardierung Bagdads durch die USA bzw. ihre „Koalition der Willigen“ und dem Beginn des Zweiten Irak-Krieges gehaltenen Rede suchte der Bundeskanzler unter dem Doppelmotto „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“ nach deprimierenden Diskussionen über neue Rekordzahlen bei der Arbeitslosigkeit und negativen Reaktionen hierauf wieder in die Offensive zu gelangen.

Entworfen hatte die Agenda 2010 ein kleiner Zirkel von Schröder-Vertrauten im Kanzleramt. Indirekt war auch die Bertelsmann Stiftung, welche die Regierungspolitik der Bundesrepublik seit Schröders Amsübernahme 1998 stärker beeinflusste, an den Vorarbeiten beteiligt. „Das Grundkonzept der Agenda 2010 hat eine neoliberale Tendenz und stammt aus den angelsächsischen Ländern. Es zielt darauf ab, die Wachstumsschwäche der Wirtschaft durch mehr Innovation und Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt und in den sozialen Systemen zu überwinden.“ [11] Zwar blieb die Bertelsmann Stiftung im Hintergrund, ihre Experten hatten jedoch wesentlichen Anteil daran, dass sich neoliberales Gedankengut um die Jahrtausendwende auf den höchsten Regierungs- und Verwaltungsebenen durchsetzte. Das gilt für die „Agenda“-Rede ebenso wie für die als „Hartz IV“ bekannt gewordene Arbeitsmarktreform. [12]

Aussagen und Argumentationslinien der „Agenda“-Rede

Deutschland kämpfe derzeit mit einer Wachstumsschwäche, die nicht zuletzt strukturell bedingt sei, sagte Schröder am Beginn seiner Regierungserklärung: „Die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, mehr Beschäftigung zu schaffen.“ [13] In dieser Situation müsse seine Regierung entschlossen handeln, um die Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung zu verbessern: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Alle Kräfte der Gesellschaft werden ihren Beitrag leisten müssen: Unternehmer und Arbeitnehmer, freiberuflich Tätige und auch Rentner.“ [14]

Hier zeigt sich die ganze Demagogie der Schröder’schen Agenda 2010. Entgegen den Behauptungen in seiner Regierungserklärung wurden die Kosten der Reformpolitik nämlich sehr ungleich verteilt. So mussten die Rentner/innen ab 2004 mehrere „Nullrunden“ über sich ergehen lassen, die in Wirklichkeit Minusrunden waren, weil ihre Einkommen stagnierten, während die Verbraucherpreise sowie ihre Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung stiegen. Im selben Jahr wurde nach der sog. Riester-Treppe ein weiterer „Dämpfungs-“, genauer: Kürzungsfaktor in die Rentenanpassungsformel eingefügt, der mit dafür sorgen wird, das Rentenniveau vor Steuern bis zum Jahr 2030 um 20 bis 25 Prozent zu senken. Unternehmern und Freiberuflern wurde dagegen überhaupt kein finanzielles Opfer abverlangt. Sie profitierten vielmehr von Steuersenkungen, die hauptsächlich Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener entlasteten.

Schröder sprach von einer „gewaltige(n) gemeinsame(n) Anstrengung“, die nötig sei, aber letztlich auch zum Ziel führen werde. Man müsse, meinte der Bundeskanzler weiter, zum Wandel im Innern bereit sein und genügend Mut zur Veränderung aufbringen, zumal nur zwei Möglichkeiten bestünden: „Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungebremsten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseite drängen würden.“ [15] Auf diese Weise rechtfertigte Schröder alle von ihm unternommenen Schritte als „kleineres Übel“, auch wenn sie in die Richtung einer neoliberalen Modernisierung wiesen und politisch den Weg für noch marktradikalere Lösungen ebneten.

Da die Struktur der Sozialsysteme seit einem halben Jahrhundert praktisch unverändert geblieben sei und Instrumente der sozialen Sicherheit heute sogar zu mehr Ungerechtigkeit führten – hier nannte Schröder die Belastung des „Faktors Arbeit“ (gemeint: der Arbeitgeber) und den Anstieg der „Lohnnebenkosten“ während der Kohl-Regierung –, komme man an durchgreifenden Veränderungen nicht vorbei: „Der Umbau des Sozialstaates und seine Erneuerung sind unabweisbar geworden. Dabei geht es nicht darum, ihm den Todesstoß zu geben, sondern ausschließlich darum, die Substanz des Sozialstaates zu erhalten.“ [16] Mit derselben Argumentation, die im Grunde einen Blankoscheck für Leistungseinschränkungen und Kürzungsmaßnahmen darstellt, hatten bisher noch fast alle Politiker seit Heinrich Brüning eine reaktionäre, restriktive bzw. regressive Sozialpolitik gerechtfertigt, [17] weil sie wussten, dass durch eine offene Kampfansage gegenüber dem Wohlfahrtsstaat kaum Wählerstimmen zu gewinnen sein würden.

Schröder führte mehrere Beispiele an, wie die rot-grüne Koalition den angeblich notwendigen Reformprozess bereits vorangetrieben habe, darunter die Schaffung der kapitalgedeckten privaten Altersvorsorge, die mehrstufige Einkommensteuerreform, die „Modernisierung der Gesellschaft“ im Familienbereich, beim Staatsangehörigkeitsrecht und bei der Zuwanderung sowie die Verbesserung der Bedingungen für schulische und vorschulische Bildung. Zu den weitreichenden Strukturreformen, die Deutschland bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze bringen sollten, gehörten Schröder zufolge die Lockerung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben (Ankündigung, befristet Beschäftigte sowie Leih- bzw. Zeitarbeiter/innen nicht mehr auf die geltenden Obergrenzen anzurechnen), eine Umgestaltung der Regeln für die Sozialauswahl bei Kündigungen, eine Vereinfachung des Steuerrechts für Kleinbetriebe, die Verringerung der Höchstbezugszeit des Arbeitslosengeldes auf 12 bzw. (für Über-55-Jährige) auf 18 Monate, eine „Nachjustierung“ bei der Rentenversicherung, eine Revision des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen und eine private Versicherung für das Krankengeld.

Obwohl es den „Agenda“-Kritikern innerhalb der SPD nicht gelang, die für ein Mitgliederbegehren dagegen nötige Anzahl von Unterstützer(inne)n zu gewinnen, sah sich die sozialdemokratische Führung genötigt, einen Sonderparteitag am 1. Juni 2003 nach Berlin einzuberufen. Dort erhielten zwar Redner/innen, die scharfe Kritik an der Agenda 2010 übten, großen Beifall; Gerhard Schröder, der mehrfach mit seinem Rücktritt als Parteivorsitzender und Bundeskanzler gedroht hatte, bekam aber die Unterstützung von ungefähr zwei Dritteln der Delegierten für seinen Kurs, nachdem einige Punkte der Agenda 2010 in einem Leitantrag abgeschwächt und prinzipiellere Fragen auf einen Programmparteitag im November 2003 verschoben worden waren. Auf einem Sonderparteitag von Bündnis 90/Die Grünen in Cottbus gab es am 14./15. Juni 2003 ebenfalls klare Voten für die Kanzler-Agenda. Deren legislative Umsetzung erwies sich jedoch als schwierig und langwierig, weil die von CDU/CSU und FDP regierten Länder im Bundesrat über eine klare Mehrheit verfügten. Das führte zu einer Radikalisierung der (Arbeitsmarkt-)Reformen, die aber letztlich im Konsens aller etablierten Parteien verwirklicht wurden.

Die rot-grüne Arbeitsmarktreform als Kern der Agenda 2010

Gerhard Schröders „Agenda“ flankierte das für die rot-grüne Regierungspolitik zentrale Gesetzgebungsverfahren zur Reform des Arbeitsmarktes. „Hartz IV“ ist die berühmt-berüchtigte Chiffre für den bis heute mit Abstand tiefsten Einschnitt in das deutsche Sozialmodell. Bundeskanzler Schröder legte sich am 14. März 2003 hinsichtlich der Höhe des geplanten Arbeitslosengeldes (Alg) II, welche die nach dem damaligen VW-Manager Peter Hartz benannte Kommission in ihrem Abschlussbericht offen gelassen hatte, erstmals fest. Er sagte in seiner „Agenda“-Rede, man müsse die Zuständigkeiten und Leistungen für Erwerbslose in einer Hand vereinigen, um die Chancen derjenigen zu erhöhen, die nicht nur arbeiten könnten, sondern auch wirklich wollten: „Das ist der Grund, warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird.“ [18] Hiermit schob der Bundeskanzler nicht bloß den Erwerbslosen die Schuld an ihrem Schicksal zu, sondern bestätigte auch die Stammtischweisheit, wonach man nur die Arbeitslosenunterstützung auf das soziokulturelle Existenzminimum senken muss, um die Betroffenen zur Annahme einer Stelle zu zwingen.

Gleichzeitig brach Schröder das Wahlversprechen der SPD, die Arbeitslosenunterstützung nicht auf die Höhe der Fürsorgeleistung herabzudrücken: „Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau.“ [19] Die von Schröder in seiner „Agenda“-Rede hoffähig gemachte Sprachregelung, bei Hartz IV handle es sich um eine „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, war verharmlosend, beschönigend und beschwichtigend. Mit der „Arbeitslosenhilfe“ wurde nämlich zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland eine für Millionen Menschen existenziell wichtige Sozialleistung abgeschafft.

Matthias Knuth, Forschungsdirektor am Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, begreift Hartz IV als eine sich ständig selbst widerlegende Reform, die deshalb für die politische Landschaft der Bundesrepublik Deutschland so folgenreich ist, weil sie den Wechsel vom Versicherungs- zum Fürsorgeregime vorantrieb. Durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe seien die Erwerbslosen mehrheitlich ihres „Arbeitsbürger-Status“ beraubt worden: „Die Einführung der Grundsicherung für Erwerbsfähige ohne gleichzeitige gesetzliche Mindestlohnregelung leistet einer Abwärtsspirale Vorschub, bei der Entlohnungsbedingungen immer mehr nach unten ausfransen und ergänzende staatliche Unterstützung erforderlich machen, während die Beitrags- und Besteuerungsbasis erodiert.“ [20]

Das als Ersatz eingeführte Alg II orientiert sich nicht mehr am früheren Nettoverdienst eines Langzeitarbeitslosen, vielmehr lässt selbst Angehörige der Mittelschicht, etwa Facharbeiter und Ingenieure, die nicht sofort eine neue Stelle finden, nach einer kurzen Schonfrist auf das (Sozialhilfe-)Niveau von Personen abstürzen, die nie erwerbstätig waren. Man hätte das „Arbeitslosengeld II“ ehrlicher „Sozialhilfe II“ nennen müssen, weil sein Regelsatz nur noch Fürsorgeniveau erreicht und weil nicht bloß Arbeitslose, sondern auch noch „Aufstocker“ genannte Geringverdiener/innen die neue Fürsorgeleistung beziehen. Von der Sozialhilfe wurde auch das für Hartz IV typische Konstrukt der „Bedarfsgemeinschaft“ entlehnt, welches es ermöglichte, Einkommen und Vermögen von Personen, die mit dem Antragsteller weder verwandt noch ihm gegenüber zum Unterhalt verpflichtet sind, aber mit ihm zusammen in einer Wohnung leben, bei der Bedürftigkeitsprüfung anzurechnen.

In den Hochglanzbroschüren, die der Bevölkerung Hartz IV näher bringen sollten, wurde besonders hervorgehoben, dass erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger/innen nunmehr Alg II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) erhalten, renten-, kranken- und pflegeversichert werden sowie in den Genuss der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der BA kommen. [21] Verschwiegen wurde, dass man Letzteres auch einfacher hätte bewirken können, ohne die frühere „Arbeitslosenhilfe“ als eine auf höherem Niveau angesiedelte Leistungsart abzuschaffen.

Durch die „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe geriet Letztere unter stärkeren Druck. Folgerichtig trat gleichfalls zum 1. Januar 2005 eine Sozialhilfereform in Kraft, die das Bundessozialhilfegestz (BSHG) in das Sozialgesetzbuch (SGB XII) überführte und das Niveau des letzten Sicherungsnetzes der Bundesrepublik besonders durch Perpetuierung des bisher Jahr um Jahr verlängerten Anpassungsmoratoriums und eine relativ niedrige Pauschalierung der sog. wiederkehrenden Einmalleistungen absenkte – für Rainer Roth das eigentliche Ziel. [22] Wie Helga Spindler zeigt, wurde mit der neuen Regelsatzverordnung, die der Bundesrat am 14. Mai 2004 billigte, eine weitere Runde zur Senkung des soziokulturellen Existenzminimums eingeläutet. [23] Vor allem der schlecht kompensierte Wegfall sog. wiederkehrender einmaliger Leistungen, etwa zur Beschaffung von Winterkleidung, zur Reparatur einer Waschmaschine oder zum Kauf von Schulbüchern für Kinder und Jugendliche, hat negative Auswirkungen auf Sozialhilfeempfänger/innen, die früher entsprechende Anträge gestellt und bewilligt bekommen hatten.

Hartz IV brach mit dem Prinzip der Lebensstandardsicherung, das den deutschen Sozial(versicherungs)staat bis dahin ausgezeichnet hatte. „Im Ergebnis verliert die untere Mittelschicht, die bisher von einer eher ‚statusorientierten‘ Sozialpolitik profitiert hat und sich nun stärker in Richtung kulturelles Existenzminimum bewegt.“ [24] Barbara Stolterfoht hob zwei Effekte hervor: „Hartz IV erhöht die soziale Fallhöhe massiv und weitet gleichzeitig den Kreis der potentiell von Armut betroffenen Menschen erheblich aus.“ [25] Trifft die „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe besonders Ältere, die bis zur Rente Arbeitslosenhilfe beziehen wollten, sind Familien, Kinder und Jugendliche die Hauptleidtragenden der relativ niedrigen Pauschalierung früher zusätzlich gewährter und nunmehr in einem höheren Regelsatz aufgegangener Beihilfen: „Während dadurch alleinstehende Erwerbslose und Menschen, die die Einzelantragstellung scheuten, nicht wesentlich verlieren oder zum Teil sogar zu den Gewinnern der Reform zählen, gehören Familien mit Kindern zu den Verlierern der Reform. Ihr besonderer Mehrbedarf wird in den pauschalierten Regelsätzen nicht genügend berücksichtigt.“ [26]

Mit der „Agenda“-Politik und Hartz IV verfolgte die rot-grüne Bundesregierung eine Doppelstrategie: Einerseits sollte die Abschaffung der „Arbeitslosenhilfe“ bzw. die Abschiebung der Langzeitarbeitslosen in die Fürsorge den stark defizitären Staatshaushalt entlasten, andererseits wollte man durch materiellen Druck und Einschüchterung der Betroffenen mehr bzw. stärkere „Beschäftigungsanreize“ schaffen. Die teils drastischen Leistungskürzungen sowie erneut verschärfte Zumutbarkeitsklauseln zwingen Langzeitarbeitslose, ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen.

Was linke „Abweichler“ innerhalb der SPD-Fraktion wie Ottmar Schreiner aus dem Regierungsentwurf durch ihre Drohung, das Gesetz abzulehnen, herausstreichen konnten, brachten CDU/CSU und FDP in den Sitzungen des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat, der sich am 19. Dezember 2003 auf eine Fülle an Regelungen einigte, wieder hinein: Langzeitarbeitslose müssen auch Stellen annehmen, die weder tarifgerecht noch ortsüblich entlohnt werden. Hartz IV verschärfte die Zumutbarkeitsregelungen für Langzeitarbeitslose ein weiteres Mal. Nicht nur der Berufs- und Qualifikationsschutz, sondern auch die Beachtung der „Würde“ der Betroffenen blieben dabei auf der Strecke.

Seit dem Inkrafttreten von Hartz IV müssen Langzeitarbeitslose – wie früher schon Bezieher von „Hilfen zum Lebensunterhalt“ (HLU) bei der „Hilfe zur Arbeit“ – gegen eine minimale „Mehraufwandsentschädigung“ von 1 oder 2 EUR pro Stunde im öffentlichen Interesse liegende und zusätzliche (nicht mehr unbedingt: gemeinnützige) Arbeit leisten, wollen sie ihren Anspruch auf Unterstützung nicht zu 30 Prozent (und bei Weigerung möglicherweise ganz) einbüßen. Bei den Arbeitslosen unter 25 Jahren entfällt diese Unterstützung sofort. Auf dem Arbeitsmarkt führen die sog. 1-Euro-Jobs zu einem schärferen Verdrängungswettbewerb von oben nach unten. Vor allem niedrig Qualifizierte in Normalarbeitsverhältnissen müssen gewärtigen, durch Alg-II-Bezieher/innen ersetzt zu werden, was Auswirkungen auf das gesamte Lohngefüge hat. Daraus resultierte eine „Spirale nach unten“, wie Hans-Jürgen Urban diesen Teufelskreis nennt: „Der Hartz-IV-Regelsatz entfaltet Druck auf Einkommen und Arbeitsverhältnisse, umgekehrt drücken Niedriglöhne den Hartz-IV-Regelsatz.“ [27]

Die mittels der Agenda 2010 durchgesetzten Reformen tragen Züge einer sozialpolitischen Zeitenwende, wie es sie zuletzt am Ende der Weimarer Republik gab. Bei den 1-Euro-Jobs etwa drängen sich Parallelen zum Freiwilligen Arbeitsdienst auf. „Die neue Workfare beschreibt (…) eine Tendenz zu breiten, verpflichtenden, neuen Arbeitsdiensten mit Leistungszwang.“ [28] Arbeitsförderung, die Erwerbslosen mehrere Wahl- und Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen suchte, wird heute unter Androhung und/oder Anwendung von Sanktionen betrieben. Walter Hanesch und Imke Jung-Kroh hoeben den Strafcharakter der „Aktivierung“ nach dem SGB II hervor und betonen darüber hinaus, „dass künftig eine Eingliederung um jeden Preis erzwungen werden soll, unabhängig davon, ob dadurch eine reale Verbesserung der materiellen Lage für die Betroffenen erreicht werden kann. Die restriktiv-punisierende (bestrafende (WL)) Ausrichtung dieses Aktivierungskonzepts ist jedoch wenig geeignet, eine nachhaltige Eingliederung in das Beschäftigungssystem zu erreichen.“ [29]

Neu war, dass auch früher mittels einer Lohnersatzleistung vor Armut und sozialer Ausgrenzung weitgehend Geschützte zum Kreis der Entrechteten gehörten. Denn die rot-grüne Regierungspolitik führte zu einer Rutsche in die Armut: Nach der im Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 auf maximal 12 bzw. 18 Monate (früher: 32 Monate) für Über-55-Jährige verkürzten Bezugszeit des Arbeitslosengeldes I (die ab 1. Februar 2006 generell galt) mussten Hartz-IV-Betroffene praktisch jede Beschäftigungsmöglichkeit annehmen, selbst dann, wenn sie bloß einen Hungerlohn einbringt. Schließlich wurde noch der Kündigungsschutz für Ältere ausgehebelt und den Betroffenen wichtige, anderen Arbeitnehmer(inne)n zumindest noch zugestandene Rechtsansprüche geraubt. Die sog. Hartz-Gesetze brachten unsägliches Leid über davon Betroffene und ihre Familien und machten die Bundesrepublik zu einem „kalten Land“, wie der Titel eines Buches darüber lautet. [30] Letztlich wurde das soziale Klima der Bundesrepublik vergiftet, die politische Kultur im allgemeinen Sinne belastet sowie die Spaltung des Landes in Arm und Reich vertieft. [31]

Auf dem Weg zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat

Hartz IV führte zur Verschärfung der sozialen Schieflage im Land, zur Ausweitung der (Kinder-)Armut bis in die Mitte der Gesellschaft hinein und zur Verbreiterung des Niedriglohnbereichs. Letzteres war kein Zufall, sondern gewollt, wie die Tatsache zeigt, dass Gerhard Schröder es auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos am 28. Januar 2005 als großen Erfolg seiner Politik als Bundeskanzler feierte, „einen der besten Niedriglohnsektoren“ in Europa geschaffen zu haben [PDF – 25 KB]: „Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.“ [32]

Ein staatlich geförderter Niedriglohnsektor, wie ihn die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze errichten halfen, verhindert weder Arbeitslosigkeit noch Armut, sondern vermehrt Letztere eher. Als ergänzende Sozialleistung zu einem sehr niedrigen Lohn konzipiert, bildet das Arbeitslosengeld II für Lohndumping betreibende Unternehmer eine willkommene Subvention, deren Gesamtbetrag sich mittlerweile auf ca. 70 Mrd. EUR beläuft, die sog. Aufstocker/innen seit dem 1. Januar 2005 erhalten haben. Umso dringlicher wäre die gesetzliche Garantie eines flächendeckend gültigen und existenzsichernden Mindestlohns, wie ihn die weitaus meisten EU-Mitgliedsländer haben.

Anke Hassel und Christof Schiller behaupten, „dass mit der Reform die Armut nicht erhöht, sondern verdeckte Armut aufgedeckt und bekämpft wurde.“ [33] Armutspolitisch hatten die als „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ firmierenden Transferleistungen indes einen Doppeleffekt: Hartz IV machte zumindest einen Teil der vorher verdeckten Armut sichtbar, erzeugte aber zugleich weitere Armut. Einerseits nehmen auch viele Menschen, darunter vor allem Geringverdiener/innen, sog. Freiberufler/innen und (Solo-)Selbstständige, das Arbeitslosengeld II in Anspruch, die aus Scham nicht zum Sozialamt gegangen wären, um „Stütze“ zu beantragen, andererseits erhalten Millionen Langzeitarbeitslose, die früher Empfänger/innen von „Arbeitslosenhilfe“ gewesen wären, seither weniger oder sogar überhaupt kein Geld mehr, weil das Partnereinkommen (z.B. gut verdienender Ehemänner und Lebenspartner) bei Hartz IV sehr viel strikter auf den Leistungsanspruch der Antragsteller/innen (überwiegend Frauen) angerechnet wird (Bedarfsgemeinschaft).

Insgesamt zeitigte das Gesetzespaket negative Verteilungseffekte, wie Irene Becker und Richard Hauser per Simulationsanalyse nachwiesen: „Die Ersetzung der Alh durch das Alg II hat für einen Teil der Betroffenen zwar durchaus positive Effekte, da verdeckte Armut von früheren Alh-Empfängern vermutlich effektiv abgebaut wird. Dies geht aber zu Lasten derjenigen, die bisher mit der Alh knapp oberhalb des Existenzminimums gelebt haben. Die Reform führt also zu einer Umverteilung innerhalb des untersten Segments der Einkommensverteilung – wobei die Zahl der Verlierer dominiert – mit entsprechend fragwürdigen Ergebnissen insbesondere für arbeitslose Frauen und in den neuen Ländern.“ [34]

Armut, in der Bundesrepublik lange Zeit eher ein Rand(gruppen)phänomen, wurde durch die sog. Hartz-Gesetze selbst für Teile der Mittelschicht zur Normalität. „Hartz IV droht zum Lebensalltag für immer mehr Menschen zu werden. Ein gefährlicher Trend, der sich – zumindest mit Blick auf die Zukunft – im Alter verfestigen könnte, weil auf Lohnarmut und Langzeitarbeitslosigkeit unweigerlich Altersarmut folgt und – wenn die Politik nicht umsteuert – immer mehr Menschen auf die Grundsicherung im Alter angewiesen sein werden.“ [35] Da die Deregulierung des Arbeitsmarktes mit einer Demontage des Sozialstaates im Allgemeinen und der Gesetzlichen Rentenversicherung im Besonderen einherging, die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und die (Teil-) Privatisierung der Altersvorsorge mehr oder weniger Hand in Hand gingen, war zunehmende Altersarmut durch die „Agenda“-Politik vorprogrammiert. [36]

Gesundheits-, Renten- und Steuerreformen

Zwar bildete Hartz IV das Herzstück der Agenda 2010 und wird daher häufig im selben Atemzug. Man unterschätzt ihre gesellschaftspolitische Tragweite jedoch, wenn die Funktion von Schröders Regierungserklärung auf die Legitimation seiner Arbeitsmarktreform reduziert wird. Denn schließlich waren die ersten beiden Hartz-Gesetze am 14. März 2003 bereits in Kraft, und es ging bei der Agenda 2010 nicht bloß um Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Die damit verfolgten Pläne waren vielmehr erheblich ambitionierter: Neben gesundheits- und rentenpolitischen Maßnahmen nahm die Regierung Schröder/Fischer auch wichtige steuerpolitische Weichenstellungen vor, die der (Export-)Wirtschaft eine größere Dynamik verleihen sollten.

Am 1. Januar 2004 trat das Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) in Kraft, mit dem die Gesetzliche Krankenversicherung finanziell entlastet und die „Eigenverantwortung“ der Versicherten durch höhere Zuzahlungen bei Heil- und Hilfsmitteln sowie Einführung der Praxisgebühr in Höhe von 10 EUR pro Quartal gestärkt werden sollte. (Letztere wurde übrigens zum 1. Januar 2013 per einstimmig gefassten Parlamentsbeschluss wieder abgeschafft.) Wie realitätsfern und falsch Gerhard Schröders Einschätzungen waren, zeigt die Bemerkung in seinen 2006 erschienenen Memoiren, dass die Praxisgebühr längst „eine Selbstverständlichkeit“ und ein gesundheitspolitisches Instrument mit den „erhofften Steuerungswirkungen“ sei. [37]

Typisch für die Brüche und Widersprüche der Sozialpolitik von SPD und Bündnisgrünen war folgende Konzession gegenüber den Unionsparteien: Hatte man die Reprivatisierung dieses Gesundheitsrisikos für nach 1978 Geborene durch CDU/CSU und FDP sofort nach dem Regierungswechsel im Herbst 1998 rückgängig gemacht, strich man den Zahnersatz während der Verhandlungen im Juli 2003 ganz aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Ab 1. Januar 2005 sollten deren Mitglieder ihn (bei der GKV oder bei einer Privatassekuranz) zusätzlich versichern. Als sich während des Jahres 2004 herausstellte, dass die Erhebung des zusätzlichen Beitrages von Arbeitslosen und Rentner(inne)n einen sehr hohen bürokratischen Aufwand erfordern würde, suchte die Bundesregierung zunächst gemeinsam mit der Union – welche diese vom Einkommen der versicherten Person unabhängige Regelung offenbar als Vorläuferin einer „Gesundheitsprämie“ begriff und an ihr festhielt – nach einer Ersatzlösung. Am 26. November 2004 setzte die rot-grüne Koalition mittels ihrer Kanzlermehrheit gegen CDU/CSU und FDP im Bundestag durch, dass Mitglieder der gesetzlichen Krankenkassen den Zahnersatz dort mit einem „Sonderbeitrag“ in Höhe von 0,4 Prozent ihres Bruttomonatseinkommens versichern müssen. Zwar trat diese Regelung nunmehr mit einer sechsmonatigen Verzögerung am 1. Juli 2005 in Kraft, dafür wurde aber der erst zum 1. Januar 2006 geplante Aufschlag in Höhe von 0,5 Prozent für die separate Versicherung des Krankengeldes durch die Arbeitnehmer/innen um gleichfalls ein halbes Jahr auf dasselbe Datum vorgezogen. Hierdurch wurden die Versicherten (auch Rentner/innen) per saldo noch mehr als nach der vorher geplanten Neuregelung belastet, die Arbeitgeber hingegen noch ein wenig stärker entlastet, als ursprünglich im „Gesundheitsmodernisierungsgesetz“ (GMG) festgelegt.

Am 1. Juli 2005 traten gesetzlich verordnete Beitragssenkungen in Kraft, die ausschließlich den Arbeitgebern, nicht jedoch den Versicherten zugute kamen, weil diese den Zahnersatz und das Krankengeld nunmehr – wie oben erwähnt – mit ihrem „Sonderbeitrag“ in Höhe von 0,9 Prozent des Bruttolohns bzw. -gehalts ganz allein finanzieren. Durch die Ausgliederung des Zahnersatzes aus der solidarischen GKV-Finanzierung und die Regelung, wonach die gesetzlichen Krankenkassen ab 1. Januar 2005 „befundbezogene Festzuschüsse“ für Kronen, Brücken und Prothesen zahlen, wurden nicht nur die Versicherten zusätzlich be- und die Arbeitgeber entlastet, sondern auch Zahnärzt(inn)en und Dentallabors, welche die Gesundheitsreform durchgängig begrüßten, zusätzliche Einnahmequellen eröffnet.

Verteilungspolitisch bewirkte die Gesundheitsreform 2004 daher eine weitere Lastenverschiebung zugunsten der Arbeitgeberseite, während sie Arbeitnehmer/innen und Patient(inn)en zusätzlich belastete. Seit dem 1. Januar 2004 müssen Rentner/innen auch Krankenkassenbeiträge auf Betriebsrenten und seit dem 1. April 2004 den vollen Beitragssatz in der Pflegeversicherung entrichten. Noch härter als die genannten Bevölkerungsgruppen traf es (Senioren- bzw. Pflege-) Heimbewohner/innen, Arbeitslosen- und Sozialhilfehilfeempfänger/innen sowie Obdachlose, die bislang von jeder Zuzahlungspflicht befreit gewesen waren. Hatten sie vorher (ebenso wie Kinder und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr) bei Arznei-, Verbands-, Heil- und Hilfsmitteln, aber auch bei stationären Vorsorge- und Rehabilitationskuren bzw. Krankenhausaufenthalten einen Anspruch auf die volle Kostenübernahme durch ihre Kasse bzw. das Sozialamt, mussten sie nunmehr Rechnungen zunächst selbst bezahlen, die Quittungen sammeln und sich das Geld bei Überschreiten von 2 bzw. 1 Prozent (Chroniker/innen) des Bruttoeinkommens später erstatten lassen.

Die am 12. November 2002 von Ulla Schmidt berufene, unter dem Namen ihres Vorsitzenden Bert Rürup bekannt gewordene „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“ sollte unter Gewährleistung von „Generationengerechtigkeit“ neue Finanzierungsgrundlagen im Bereich der sozialen Sicherung (Gesetzliche Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) entwickeln. Am 28. August 2003 legte die Rürup-Kommission ihren Abschlussbericht vor. Zutreffend wird festgestellt, dass „Arbeitnehmerversicherungen“ mit auf das Einkommen bezogenen Beiträgen den Kern des deutschen Sozialsystems bilden. Aus dieser Finanzierungsweise folgert man, dass dieses System künftig verstärkt unter Druck gerät, weil „steigende Altenquotienten und sinkende Wachstumsraten“ sich negativ auf die Sozialversicherungsbeiträge auswirken müssten. Priorität für die Kommission hatte deswegen – wie hätte es auch anders sein können – eine Senkung der sog. Lohnnebenkosten: „Die positiven beschäftigungspolitischen Konsequenzen einer Senkung der Sozialversicherungsbeiträge sind belegt, und innerhalb der Kommission besteht Konsens darüber, dass mithilfe einer Senkung der Lohnzusatzkosten positive Beschäftigungsimpulse gesetzt werden können.“ [38]

Da sie die Bedeutung des demografischen Wandels für die Wohlstandsentwicklung und die Sozialpolitik überbewertete, schlug die Kommission mit Blick darauf eine weitere Absenkung des Rentenniveaus, eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit (schrittweise Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 65 auf 67 Jahre) und die Ergänzung der Renten(anpassungs)formel um einen „Nachhaltigkeitsfaktor“ vor. Dieser soll (vornehmlich aus kollektiven Alterungsprozessen und Beschäftigungskrisen erwachsende) Verschiebungen im Verhältnis von Rentner(inne)n zu Beitragszahler(inne)n berücksichtigen. „Damit wird ein automatischer Stabilisator in das Rentensystem eingebaut, der dessen Immunität gegen Veränderungen der demografischen und ökonomischen Rahmenbedingungen deutlich erhöht.“ [39]

Völlig klar war der Rürup-Kommission, dass durch den „Nachhaltigkeitsfaktor“ künftige Generationen im Ergebnis entlastet, Rentner/innen hingegen stärker belastet werden dürften, was sie als eine „Stärkung der intergenerativen Gerechtigkeit“ bezeichnete und als ergänzendes Ziel neben die „Entlastung des Faktors Arbeit“ stellte: „Da ein Kostenanstieg als Folge der Bevölkerungsalterung unvermeidbar ist, muss es das Ziel sein, diese Kosten nicht nur möglichst beschäftigungsfreundlich, sondern auch gleichmäßiger zwischen den Generationen zu verteilen. Eine am Ziel der generativen Gleichbehandlung ausgerichtete Nachhaltigkeitspolitik wird die demografischen Verschiebungen nur durch intergenerative Umverteilung, d.h. eine Umverteilung zu Gunsten der Jüngeren und noch nicht Geborenen, bewältigen können.“ [40]

2004 trat Rürups „Nachhaltigkeitsfaktor“ an die Stelle des ihm nicht unähnlichen „demografischen Faktors“, den die schwarz-gelbe Regierung ins Rentenrecht eingeführt, die rot-grüne Koalition aber sofort nach ihrem Amtsantritt und vor seinem Wirksamwerden suspendiert hatte. Bundeskanzler Schröder bezeichnete diese Rücknahme später als einen politischen Fehler. Parallel dazu wurde die Möglichkeit einer rentensteigernden Anrechnung von Zeiten der schulischen bzw. universitären Ausbildung abgeschafft, was besonders Akademiker/innen (mit einer lückenhaften Erwerbsbiografie) trifft. Zusammen mit der sog. Riester-Treppe trägt das Gesetz zur Sicherung der nachhaltigen Finanzierungsgrundlagen der Gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Nachhaltigkeitsgesetz) im Rahmen des Übergangs zur nachgelagerten Besteuerung nach dem Alterseinkünftegesetz zu einer drastischen Reduktion des Rentenniveaus bei. Betrug dieses um die Jahrtausendwende noch 53 Prozent des Durchschnittseinkommens vor Steuern, darf es bis zum Jahr 2030 auf 43 Prozent – also um ein Fünftel – sinken, ohne dass der Gesetzgeber korrigierend eingreifen muss.

Während die Mehrheit der Arbeitnehmer/innen, Rentner/innen und Patient(inn)en materielle Einbußen hinnehmen mussten, gehörten Spitzenverdiener und Kapitaleigentümer zu den Hauptnutznießern von Schröders Reformagenda. In seiner Rede am 14. März 2003 bekräfte der Bundeskanzler seine Absicht, eine umfangreiche Steuerreform zu realisieren, die eine weitere Spreizung der Einkommen mit sich brachte sowie die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich weiter vorantrieb: Wer den Eingangssteuersatz um 10,9 Punkte (von 25,9 auf 15 Prozent) und den Spitzensteuersatz sogar um 11 Punkte (von 53 auf 42 Prozent) senkt, reduziert damit nicht bloß den finanziellen Handlungsspielraum des Staates, sondern weiß genau, dass die steuerliche Entlastung der höchsten Einkommensgruppen in absoluten Geldbeträgen hierdurch sehr viel stärker ausfällt als die der weniger gut Betuchten, und forciert die Umverteilung von unten nach oben.

Die zur Gegenfinanzierung der Steuersenkungen vereinbarte Privatisierung von Bundeseigentum erschloss neue Gewinnquellen für Anleger, verringerte den Handlungsspielraum des Staates aber weiter.

Die verheerenden Folgen der Reformagenda

Auf den ersten Blick scheint es so, als sei Schröders „Agenda“-Politik eine wahre Erfolgsgeschichte. Schaut man genauer hin, ergibt sich ein völlig anderes Bild: Ökonomisch hat sie den „Standort D“ (also im Wesentlichen nur die Exportwirtschaft) im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit weiter gestärkt, was die wirtschaftliche Unwucht zwischen der Bundesrepublik und Ländern der südlichen EU-Peripherie (Griechenland, Spanien und Portugal) verschärfte und entscheidend zur dortigen „Staatsschuldenkrise“ beitrug. Die Schwächung der Binnennachfrage durch Lohn- und Sozialdumping wurde jedoch in ihren negativen Folgen für die Volkswirtschaft völlig außer acht gelassen. Auch die Pufferfunktion der sozialen Sicherungssysteme gegenüber konjunkturellen Schwankungen wurde geschwächt.

In sozialer Hinsicht hingegen wirkte die „Agenda“-Politik verheerend, weil sie zu einer bis dahin im Nachkriegsdeutschland unvorstellbar krassen Verteilungsschieflage bei den Einkommen und Vermögen führte, von der perspektivisch Gefahren für den inneren Frieden und die Demokratie ausgehen.

Parteipolitisch war die Agenda 2010 ein totales Fiasko: 1998, als SPD und Bündnis 90/Die Grünen eine CDU/CSU/FDP-Koalition ablösten, regierten die Sozialdemokraten fast alle EU-Staaten. Als Gerhard Schröder 2005 abtrat, hatte sich Europas politische Landschaft grundlegend verändert: Von selbsternannten „Modernisierern“ in kürzester Zeit zugrunde gerichtet, hatten die sozialdemokratischen Parteien stark an Vertrauen der Wähler/innen und politischem Gewicht verloren. Mit der Agenda 2010 war nicht bloß der Abschied vom tradierten kontinentaleuropäischen Sozialmodell verbunden, das auf Konsens, Sozialpartnerschaft und Solidarität basierte, vielmehr auch von uralten Parteitraditionen der deutschen Sozialdemokratie, was die SPD nicht nur die Kanzlerschaft und sechs Ministerpräsidentenposten, sondern auch ein Drittel ihrer Mitglieder und die Hälfte ihrer Wählerstimmen kostete. Nie war die Krise der Sozialdemokratie umfassender, der personelle Aderlass dramatischer und die Entfremdung zwischen Parteispitze und -basis größer. Heute sucht die SPD als Oppositionspartei den Eindruck zu erwecken, die soziale Situation von traditionell Beschäftigten verbessern zu wollen, ohne dabei allerdings vom „Agenda“-Kurs abzuweichen. [41]

Gerhard Schröder reklamiert den Wirtschaftsaufschwung und den damit verbundenen Rückgang der (offiziell registrierten) Arbeitslosigkeit nach 2005 heute als Erfolg seiner „Agenda“-Politik. [42] Dieser Erfolg hielt sich jedoch – wenn überhaupt – in sehr engen Grenzen. Ernst Niemeier zeigt, dass nicht etwa die „Aktivierung“ der Langzeitarbeitslosen durch Hartz IV für den Anstieg der Beschäftigung seit Inkrafttreten dieses Gesetzespakets verantwortlich war, sondern die konjunkturell bedingte Zunahme der Arbeitsplatzangebote durch den bereits kurz nach dem Regierungswechsel im Herbst 2005 spürbaren Wirtschaftsaufschwung. [43] (Siehe auch Gustav Horn, Die große Illusion)

Der durch die Arbeitsmarktreformen angeblich mit induzierte „Beschäftigungsboom“ ist eher eine Scheinblüte. Vergleicht man nicht Daten von konjunkturellen Tiefpunkten mit Daten aus späteren Aufschwungphasen, sondern – ehrlicherweise – vielmehr (wirtschafts-)phasensynchrone Daten und bereinigt sie von demografischen und anderen Sondereffekten, zeigt sich nämlich Folgendes: Zwar ist die Zahl der Erwerbstätigen seit Wirksamwerden der „Agenda“-Reformen gestiegen und die Zahl der Arbeitslosen zurückgegangen. Das ist allerdings teilweise demografisch bedingt und liegt nicht zuletzt an der höheren Frauenerwerbsquote sowie erhöhter Zuwanderung. Gleichzeitig sind die Reallöhne jedoch besonders im unteren Einkommensbereich gesunken. Unter dem anhaltenden Trend zur Prekarisierung von Arbeits- und Lebensbedingungen leidet die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse: Millionen Menschen haben kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis, das ihnen Schutz vor elementaren Lebensrisiken bieten würde. Selbst wenn dieses Niveau halbwegs erreicht wird, leisten sie vielfach Leiharbeit oder (Zwangs-)Teilzeitarbeit. Dass die Gesamtzahl der Transferleistungsempfänger/innen zuletzt ebenso abgenommen hat wie die relative Höhe der Zahlbeträge, liegt nicht etwa am Rückgang von Armut bzw. der materiellen Bedürftigkeit, sondern primär an den durch die „Agenda“-Reformen drastisch verschärften Anspruchsvoraussetzungen, Kontrollmechanismen und Repressalien der für die Leistungsgewährung zuständigen Jobcenter und Sozial- bzw. Grundsicherungsämter.

Selbst wenn man annimmt, dass die größere Krisenresistenz der deutschen Volkswirtschaft auf die „Agenda“-Politik zurückgehen sollte, ist der Preis, den unterprivilegierte Bevölkerungsteile dafür auch in konjunkturell guten Zeiten zahlen müssen, zu hoch. Das rigidere Arbeitsmarktregime erhöhte den Druck auf die Erwerbslosen, aber auch auf die Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften, niedrigere Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. [44] Auf diese Weise wurde diese Art von Arbeitsmarktpolitik zu einem Haupteinfallstor für Erwerbs- und ihr zwangsläufig folgende Altersarmut.

Die folgenschwerste Wirkung der Agenda 2010 besteht in einer durch sie verstärkten Polarisierung von Einkommen und Vermögen. Selbst die CDU/CSU/FDP-Koalition kam nicht umhin, die steigende Ungleichverteilung im 4. Armuts- und Reichtumsbericht zu dokumentieren: Verfügten die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung danach im Jahr 1998 über 45 Prozent des Nettovermögens, waren es im Jahr 2003 bereits 49 Prozent und im Jahr 2008 sogar fast 53 Prozent. Dagegen musste sich die ärmere Hälfte der Bevölkerung in den Jahren 1998 und 2003 mit 3 Prozent und im Jahr 2008 mit 1 Prozent benügen. [45] Die sozialen Probleme, soziale Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit haben seither deutlich zu-, das soziale Verantwortungsbewusstsein und der soziale Zusammenhalt im selben Maß abgenommen. Aus diesem Grund sind „Agenda 2010“ und „Hartz IV“ auch Chiffren für den Trend zur Ökonomisierung, Kommerzialisierung und Entsolidarisierung unserer Gesellschaft.

P.S.:
Gerade vor diesem Hintergrund erscheint die Frage aufschlussreich, was aus den führenden „Agenda“-Akteuren – sicher nicht zufällig nur Männer – geworden ist:

  • Dr. Heiko Geue, geistiger Ziehvater der Agenda 2010, leitet heute die (bisher total verunglückte) Wahlkampagne und ist ein Vertrauter von SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück;
  • Dr. Frank-Walter Steinmeier, ihr verantwortlicher Architekt und früher Geues Vorgesetzter, ist heute als Fraktionvorsitzender seiner Partei im Bundestag einer der wichtigsten Gralshüter der Agenda-Politik und hat Chancen, im Herbst 2013 wieder Außenminister und Vizekanzler einer Großen Koalition zu werden;
  • Wolfgang Clement, damals als einziger Fachminister im Kabinett Schröder/Fischer sowohl an Entstehung wie an Umsetzung der Reformagenda in erster Linie beteiligt, ist aus der SPD ausgetreten und unterstützt FDP-Politiker im Wahlkampf, er übernahm unter anderem den Vorsitz einer Denkfabrik der weltgrößten Leiharbeitsfirma Adecco und ist Aufsichtsratsmitglied der RWE Power AG, der Investmentgesellschaft Lahnstein, Middelhoff & Partners LLP und des russischen Beratungsunternehmens Energy Consulting, im letzten Jahr wurde er bezeichnenderweise zum Vorsitzenden der arbeitgeberfinanzierten Propagandaagentur „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM);
  • Peter Hartz war bis Juli 2005 Vorstandsmitglied der Volkswagen AG und wurde am 25. Januar 2007 vom Landgericht Braunschweig wegen Untreue zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt;
  • Prof. Dr. Bert Rürup vermarktete ebenso wie Walter Riester sein Insiderwissen in jenem Wirtschaftszweig, dem er zuvor als „wissenschaftlicher Berater“ ein riesiges neues Geschäftsfeld eröffnet hatte, er gründete zusammen mit dem früheren AWD-Eigentümer Carsten Maschmeyer ein Beratungsbüro für Entscheider aus der Finanzwirtschaft, kürzlich wurde er noch zum Präsidenten eines „Research Instituts“ des wirtschaftsliberalen Handelsblatts ernannt;
  • Gerhard Schröder ist heute Aufsichtsratsvorsitzender von TNK-BP, einem russisch-britischen Energieunternehmen, und des Pipeline-Konsortiums Nordstream AG sowie Mitglied im Europa-Beirat der Rothschild-Investmentbank und Berater des Ringier-Verlages (Schweiz).

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land“, „Krise und Zukunft des Sozialstaates“ und „Armut im Alter“ erschienen.


[«1] Chef BK, Arbeitsbereich Planung (Dr. Geue), Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit. Thesenpapier für die Planungsklausur, Berlin, Dezember 2002 (hektografiert), S. 2

[«2] Ebd., S. 10 (Hervorh. im Original)

[«3] Ebd., S. 12 (Hervorh. im Original)

[«4] Ebd., S. 14

[«5] Ebd., S. 15 (Hervorh. im Original)

[«6] Annelie Buntenbach, Abbauarbeiten am Sozialstaat. Praktische Beiträge der Bundesregierung zur Massenerwerbslosigkeit, in: dies./Helmut Kellershohn/Dirk Kretschmer (Hrsg.), Rückwärts in die Zukunft. Zur Ideologie des Neokonservatismus, Duisburg 1998, S. 163

[«7] Chef BK, Arbeitsbereich Planung (Dr. Geue), Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit, a.a.O., S. 15

[«8] Vgl. Diether Döring, Sozialstaat in unübersichtlichem Gelände. Erkundung seiner Reformbedarfe unter sich verändernden Rahmenbedingungen, in: ders. (Hrsg.), Sozialstaat in der Globalisierung, Frankfurt am Main 1999, S. 25 f.

[«9] Vgl. Rolf Schmucker, Klassenmedizin, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2003, S. 408

[«10] Vgl. Gerhard Schröder, Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2006, S. 393

[«11] Frank Böckelmann/Hersch Fischler, Bertelsmann. Hinter der Fassade des Medienimperiums, Frankfurt am Main 2004, S. 227

[«12] Vgl. Thomas Schuler, Bertelsmannrepublik Deutschland. Eine Stiftung macht Politik, Frankfurt am Main/New York 2010, S. 112 ff.

[«13] Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Agenda 2010, a.a.O., S. 7

[«14] Ebd., S. 8

[«15] Ebd., S. 12

[«16] Ebd.

[«17] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. Aufl. Wiesbaden 2012, S. 54 ff.

[«18] Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.), Agenda 2010, a.a.O., S. 22

[«19] Vorstand der SPD (Hrsg.), Erneuerung und Zusammenhalt – Wir in Deutschland. Regierungsprogramm 2002-2006, Berlin o.J., S. 26 (http://www.documentarchiv.de/brd/2002/wahlprogramm_spd_2002.html#4; 24.2.2013)

[«20] Matthias Knuth, „Hartz IV“ – die unbegriffene Reform, in: Sozialer Fortschritt 7/2006, S. 165

[«21] Vgl. z.B. SPD-Bundestagsfraktion (Hrsg.), Hartz IV: Menschen in Arbeit bringen – Deutschland erneuern, Berlin, September 2004

[«22] Vgl. Rainer Roth, Nebensache Mensch. Arbeitslosigkeit in Deutschland, Frankfurt am Main 2003, S. 394

[«23] Siehe Helga Spindler, Die neue Regelsatzverordnung – Das Existenzminimum stirbt in Prozentschritten, in: info also 4/2004, S. 147

[«24] Susanne Koch/Ulrich Walwei, Hartz IV: neue Perspektiven für Langzeitarbeitslose?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 16/2005, S. 11

[«25] Barbara Stolterfoht, Abkehr vom Sozialversicherungsstaat?, Sozial- und armutspolitische Schlussfolgerungen aus Anlass von Hartz IV, in: spw – Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft 140 (2004), S. 42

[«26] Ebd.

[«27] Hans-Jürgen Urban, Hartz IV: Lohndumping mit System, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2011, S. 20

[«28] Anne Allex, Politische Tendenzen der Agenda 2010, in: Holger Kindler/Ada-Charlotte Regelmann/Marco Tullney (Hrsg.), Die Folgen der Agenda 2010, a.a.O., S. 27

[«29] Walter Hanesch/Imke Jung-Kroh, Anspruch und Wirklichkeit der „Aktivierung“ im Kontext der „Sozialen Stadt“, in: Walter Hanesch/Kirsten Krüger-Conrad (Hrsg.), Lokale Beschäftigung und Ökonomie. Herausforderung für die „Soziale Stadt“, Wiesbaden 2004, S. 233

[«30] Siehe Rudolph Bauer/Holdger Platta (Hrsg.), Kaltes Land. Gegen die Verrohung der Bundesrepublik. Für eine humane Demokratie, Hamburg 2012

[«31] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2012, S. 168 ff.

[«32] Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem World Economic Forum in Davos, 28.1.2005 (http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/91/780791/multi.htm; 15.10.2010)

[«33] Siehe Anke Hassel/Christof Schiller, Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt am Main/New York 2010, S. 53

[«34] Irene Becker/Richard Hauser, Verteilungseffekte der Hartz-IV-Reform. Ergebnisse von Simulationsanalysen, Berlin 2006, S. 102

[«35] Annelie Buntenbach, Sozialpolitik am Wendepunkt: Vom Sozialstaat zum Sozialhilfestaat?, in: Soziale Sicherheit 4/2010, S. 126

[«36] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge/Gerd Bosbach/Matthias W. Birkwald (Hrsg.), Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012

[«37] Siehe Gerhard Schröder, Entscheidungen, a.a.O., S. 414

[«38] Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (Hrsg.), Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme. Bericht der Kommission, Berlin, August 2003, S. 46

[«39] Ebd., S. 81 f.

[«40] Ebd., S. 47

[«41] Vgl. Simon Hegelich/David Knollmann/Johanna Kuhlmann, Agenda 2010. Strategien – Entscheidungen – Konsequenzen, Wiesbaden 2011, S. 241 f.

[«42] „Die heutige Regierung hat mit dem Aufschwung nicht viel zu tun“, BILD-Interview mit Altkanzler Gerhard Schröder, in Bild v. 26.10.2010: „Die Agenda hat einen erheblichen Anteil am Aufschwung! Dazu kam eine vernünftige Lohnpolitik der Gewerkschaften und eine Position der mittelständisch orientierten deutschen Wirtschaft, die sehr frühzeitig weltmarktfähig geworden ist – weil sie auf Innovation, Forschung und Entwicklung gesetzt haben.“

[«43] Vgl. Ernst Niemeier, Hat der Arbeitsmarkt wirklich von Hartz IV profitiert?, in: WSI-Mitteilungen 6/2010, S. 322

[«44] Vgl. dazu: Klaus Dörre, Das neue Elend: Zehn Jahre Hartz-Reformen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2013, S. 105

[«45] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bericht, Bonn, März 2013, S. 465

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