Apokalyptische Schreiberlinge heizen die Globalisierungshysterie an

Ein Artikel von Heiner Flassbeck

Schirrmacher von der FAZ sieht einen „Methusalem-Komplott“ auf uns zukommen, Steingart vom SPIEGEL nun gar noch einen „Weltkrieg um Wohlstand“. Katastrophismus und das Schüren von Ängsten werden zu Mitteln der politischen Demagogie gegen Sozialstaat und für radikale Reformen – auf einem „Weltarbeitsmarkt“ reiße es die Löhne mit Wucht auf asiatisches Niveau: Weltweit gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
Wir werden uns auf den NachDenkSeiten mit dem „Geisterguru“ Steingart noch ausführlicher beschäftigen, hier zunächst einmal ein Hinweis auf Thomas Frickes „Globalisierung für Fortgeschrittene“ in der FTD und ein Beitrag von Heiner Flassbeck, der aufzeigt, warum die Angstmache vor der „Chinesischen Gefahr“ politisch dumm, wirtschaftlich falsch und einfach heuchlerisch ist.

Die chinesische Gefahr

von Heiner Flassbeck

WuM, Oktober 2006

Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich im 19. Stock eines Hotelkomplexes in Shanghai und blicke auf den großen Huang-Pu Fluss vor dem Hotel, auf dem unaufhörlich eine unglaubliche Menge an Lastkähnen flussabwärts und aufwärts Güter transportieren. Shanghai ist heute, wahrscheinlich mehr als irgendeine andere Stadt der Welt, global boomtown, eine Stadt, in der nichts unmöglich erscheint und in der in wenigen Jahren, wiederum mehr als anderswo in China, die neue globalisierte Wirtschaft das Leben der meisten Menschen dramatisch verwandelt hat.

Gestern, bei einem Abendessen, hat der Bürgermeister von Shanghai stolz berichtet, dass man weiß, dass in der Stadt 13 Millionen Menschen regelmäßig leben und schätzungsweise 18 Millionen sich tagtäglich aufhalten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dennoch gibt es kein gravierendes Wohnungsproblem, außer dem, dass in einigen, besonders hervorgehobenen Lagen am Fluss die Bodenpreise ins schier unermessliche steigen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei deutlich unter fünf Prozent. Das Realeinkommen der Arbeitnehmer hat sich im Durchschnitt in den vergangenen 10 Jahren weit mehr als verdoppelt.

Das ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Kein Zweifel, man muss vernünftigerweise einrechnen, dass es immer noch viele Menschen gibt, die nicht wirklich am Erfolg beteiligt sind und dass es einige gibt, die sich in einem Maße gesundgestoßen haben, dass man kaum rechtfertigen kann und das eben nur in solchen Phasen überschäumenden Wachstums möglich ist. Richtig ist auch, dass vieles von dem, was der Mensch gewonnen hat, der Natur abgerungen wurde und diese in einem erbärmlichen Zustand zurückgelassen hat. Selbst aus dem 19. Stock kann man gut erkennen, wie schmutzig der große Fluss ist und die Tatsache, dass empfohlen wird, auf den Verzehr von Flussfischen zu verzichten, spricht Bände.

Dennoch bleibt die wirtschaftliche Entwicklung Chinas eine Erfolgsgeschichte, für die man ohne weiteres den in Deutschland so beliebten Begriff des Wunders verwenden kann. Waren nicht auch in Deutschland nach zwanzig Jahren Wirtschaftswunder die Flüsse verdreckt und der Himmel über der Ruhr schwarz? Waren nicht auch in Deutschland die Neureichen wie Pilze aus dem Boden geschossen und war das viel beschworene Wunder nicht doch an vielen vorbeigegangen? Mittlerweile beginnt man in China, und das gilt in der Tat auch für viele, die politische Verantwortung tragen, zu verstehen, dass ohne Umweltschutz und ohne bessere soziale Absicherung der Ärmsten das Wachstum schnell an natürliche und politische Grenzen stoßen kann. Gerade weil das Land so viele Menschen ernähren und versorgen muss, wird es früher als andere gezwungen sein, sein explosives Wachstum nach vielen Seiten abzusichern.

Gerade weil das so ist, ist die in den westlichen Ländern weit verbreitete Angst vor der chinesischen Herausforderung vollkommen deplaziert. Insbesondere in Deutschland aber gibt es überhaupt keinen Grund, sich von dümmlichen Größenvergleichen ins Bockshorn jagen zu lassen. So ist die von vielen – einer abstrusen Theorie anhängenden – Ökonomen beschworene Gefahr, dass hunderte von Millionen chinesische Arbeitskräfte auf den „globalen Arbeitsmarkt“ drängen und dort die Löhne drücken, ein reines Hirngespinst. Die chinesischen Arbeiter sind alle hier in Shanghai und anderswo, auf den Baustellen und in den Fabriken, in den Läden und Werkstätten und kaum einer von ihnen treibt sich auf dem fiktiven globalen Arbeitsmarkt herum, weil er nur hier Arbeit und Brot findet und eine sehr konkrete Aussicht auf eine bessere Zukunft.

Weil China so dramatisch schnell wächst und damit neue und immer mehr Arbeitsplätze schafft, passiert genau das Gegenteil dessen, was die doomsday Propheten vorhersagen: Die chinesischen Arbeitskräfte treffen nicht auf eine stagnierende Arbeitsnachfrage, was die Löhne drücken würde, sondern die industrielle Aktivierung immer neuer Millionen von früher meist in der Landwirtschaft beschäftigten Menschen ist Folge des wirtschaftlichen Booms im eigenen Land. Dieser Boom bringt zugleich eine äußerst kräftige Steigerung der Entlohnung von chinesischer Arbeit mit sich und keineswegs einen Druck auf die Löhne.

Mit ziemlicher Sicherheit kann man sogar sagen, dass China mit seiner schnell wachsenden Wirtschaft inzwischen weit mehr Deutschen einen Arbeitsplatz verschafft oder sichert als die stagnierende deutsche Wirtschaft chinesischen Arbeitskräften. Es ist sicher kein Zufall, dass man in Shanghai an jeder dritten Ecke einen original bayrischen Biergarten entdeckt, der bayrisches Bier und Schweinshaxen mit Kraut anbietet. Und es ist auch kein Zufall, wenn meine chinesische Mitarbeiterin mich darauf hinweist, dass von den gerade im Radio gehörten Werbespots drei Viertel deutsche Produkte angepriesen haben. In der Tat ist kaum eine andere Volkswirtschaft der Welt in ähnlich intensiver Weise am Aufbau in China beteiligt wie die deutsche.

Auch darüber, dass China einen großen Überschuss der Exporte über die Importe aufweist, mag man in Amerika, wo es genau umgekehrt ist, klagen. Deutschland, das nach China und Japan mit nur geringem Abstand für den drittgrößten Überschuss in der Welt verantwortlich ist, sollte sich mit Kritik an China weise zurückhalten. Stellt man zudem in Rechnung, dass nach neuesten Zahlen die „chinesischen“ Exporte zu mehr als 70 % von den Tochtergesellschaften ausländischer Firmen kommen, wäre es sicherlich eine interessante Frage, zu untersuchen, welchen Anteil deutsche Firmen neben ihrem eigenen Exportüberschuss auch noch am chinesischen Überschuss haben.

Solange jedenfalls nicht genauso viele chinesische Firmen in Deutschland tätig sind, wie deutsche in China, ist die verbreitete Angstmache vor China politisch dumm, wirtschaftlich falsch und – vor dem Hintergrund der viel beschworenen Entwicklungspartnerschaft zwischen den reichen und den ärmeren Nationen – einfach heuchlerisch.