Bio-Branche: Dasselbe in Grün

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Am Anfang stand die Vision: Bio-Produkte unter die Menschen bringen. Für jeden erschwinglich und in erreichbarer Entfernung. Die Antwort lag auf der Hand: Ein gut sortierter Großhändler und ein flächendeckendes Filialnetz von Verbrauchermärkten.
Die Vision, die Welt auf diesem Weg zu einem etwas besseren Ort zu machen, teilen sehr viele der Beschäftigten in den Märkten. Ohne das aus dieser Vision resultierende überdurchschnittliche Engagement bis hin zur Selbstausbeutung wären die Pioniere der Biobranche damals erfolglos geblieben. Aber darf im Umkehrschluss ein Arbeitgeber der Biobranche seine Arbeitnehmer ausbeuten? Oder sie dahingehend manipulieren, dass sie sich selbst ausbeuten? Von Florian Pfenning.

Eine Neuerscheinung auf dem Buchmarkt hat hohe Wellen geschlagen Kevin Duttons „Psychopathen“. Tenor des Buches: Wir alle sollten ein wenig psychopathischer werden und eine gewisse unbekümmerte, freibeuterisch-verwegene Rücksichtslosigkeit annehmen. Dann würden Arbeitnehmer charmant-frech über Gehaltserhöhungen verhandeln, Überstunden knallhart ausgeglichen, die Chefs, Chef-Chefs und Chef-Chef-Chefs in den unerbittlichen Hierarchien etwas von ihrem Schrecken verlieren – auch in der Biobranche.

Ein Blick in die Geschichte lehrt uns: Der Feudalismus mit seinem Lehnsherrentum wurde in erster Linie nicht dadurch beendet, dass der einfache Mensch seiner Habgier endlich die Zügel schießen ließ, sondern durch die Aufklärung: den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Grundvoraussetzung hierfür: Sapere aude – wage, dich deines Verstandes zu bedienen. Also werfen wir mal ein paar Fakten in die Debatte, die wir einer kleinen Internetrecherche zum Marktführer entnehmen:

Zum Beispiel: Der Bio-Schlecker
Oder: Öko-Discounter im Schlecker-Modus- „denn’s ist ein Ausbeuterladen“

Der dort genannte Geschäftsführer rechnet überhaupt nicht damit, dass ein neuer Markt innerhalb der ersten drei Jahre schwarze Zahlen schreibt. Stellen wir eine entsprechende Rechnung auf, bei der die Zahl der Märkte jedes Jahr um ca. ein Drittel zunimmt, finden wir ganz schnell heraus: Jedes Jahr stecken ungefähr zwei Drittel der vorhandenen Märkte in den roten Zahlen, müssen also vom restlichen Drittel mitgetragen werden. Da wurde die Vision „Bio für jedermann“ wohl von der Vision „Erster sein“ abgelöst, wie der Geschäftsführer im Interview ja auch bestätigt: „Es geht darum, den Markt zu besetzen.“ Wie auch immer.

Und wie?
Zum Beispiel zahlt das Unternehmen seinen Mitarbeitern in Deutschland keine Tariflöhne. Angeblich, weil dafür ja gar nicht genügend Gewinn erwirtschaftet werde. Gegenüber steht dem eine jährliche Zunahme der Filialzahlen um mehr als ein Drittel. Die Milchmädchenrechnung lautet: Steckt man allen Gewinn in die Expansion, bleibt selbstredend unter dem Strich nichts übrig.

Wofür sollte der Gewinn eines Unternehmens genutzt werden? Zur Wertsteigerung des Unternehmens, und damit letztendlich Bereicherung des Inhabers, oder wenigstens auch zur Verteilung an viele, die die Wertsteigerung geschaffen haben? Bisher schlägt das Pendel in diesem Unternehmen stark in die erste Richtung aus, wie ein Blick auf die Löhne zeigt, die der internationale Player auf seinen Webseiten in Österreich verspricht:
Siehe hier.

Ein gewöhnlicher Beschäftigter erhält ein zwar kollektivvertragliches, aber doch eher lausiges Gehalt, von dem man dort, wo die zahlungskräftige Klientel eines Biomarktes lebt – sagen wir mal, Wien – kaum mehr als eine Einzimmerwohnung finanzieren kann.

Natürlich kann man auch außerhalb wohnen, das ist billiger. Aber sind Sie schon einmal zum Schichtdienst gependelt? Morgens vor sechs Uhr ist das gar nicht so einfach und kann sehr, sehr lange dauern. Und ein Auto ist von einem so geringen Gehalt kaum finanzierbar.

Auch wichtig zu wissen: Die 1.391 Euro brutto gibt es für eine Vollzeitstelle – fast alle Beschäftigten aber sind nur in Teilzeit angestellt. Dadurch fallen nicht so viele Arbeitsstunden weg, wenn zum Beispiel eine Person Urlaub nimmt.

Der Chef, also der Marktleiter, bekommt, wenn man die bereits enthaltene (!) Überstundenpauschale herausrechnet, knapp das Anderthalbfache plus eine erfolgsabhängige Prämie.

Der Chef-Chef bekommt, und das vierzehnmal im Jahr, deutlich mehr als Kollektivvertragsniveau: fast das eindreiviertelfache des Chefs, dazu einen Dienstwagen und von Beginn an eine erfahrungsabhängige Gehaltsüberzahlung.

Der Chef-Chef-Chef wird gar nicht mehr erwähnt, geschweige denn beziffert; und er steht noch mehrere Stufen unter dem Geschäftsführer.

Sapere aude – dicere aude, also nicht nur wagen nachzudenken, sondern auch darüber sprechen. Ein paar Beschäftigte aus Deutschland erzählen folgendes:

Der Chef-Chef-Chef ist der, der zum Beispiel den Vorschlag macht, Rote Bete über Nacht in Wasser einzulegen, damit sie am nächsten Tag noch frisch und knackig aussehen – der daraus resultierende Qualitätsverlust ist ihm offenbar nicht wichtig oder womöglich gar nicht bekannt. (Nota bene: Es handelt sich um Biomärkte!)

Er ist es auch, der jeden Beschäftigten zum Einzelgespräch holt, wenn eine Betriebsratsgründung im Raum steht – so geschehen in einem vor kurzem übernommenen Markt in Speyer. Sein Einkommen ist nicht bezifferbar, er trägt aber hochwertige, makellose Kleidung und fährt ein Auto, das man eher vor einem Yachthafen vermuten würde.

Der Chef einer anderen Filiale hingegen ist der, der alles auffangen muss. Wird ein Mitarbeiter krank, springt er ein, denn die Personaldecke ist so dünn, dass sonst keiner da ist, der die fehlende Arbeitskraft ersetzen könnte. In den vergangenen Monaten verließen mehrere Mitarbeiter seinen Markt, ohne je ersetzt worden zu sein; inzwischen fehlen mehrere hundert Monatsarbeitsstunden – rund vier Vollzeitstellen. Also vier Personen, die jeden Tag da wären: zwei in jeder Schicht. Haben Sie schon einmal versucht, zu acht die Arbeit von zehn zu erledigen, oder zu fünft die Arbeit von sieben? Leider darf er das fehlende Personal offenbar nicht selbst einstellen; das obliegt dem Chef-Chef, der nur alle paar Tage vor Ort ist, und es geschieht erst nach monatelangen Verhandlungen mit wer weiß wo weiter oben und jedenfalls ganz weit weg.

Bei solchen Verhältnissen fallen natürlich mengenweise Überstunden an. Beispiel einer Kalenderwoche: Geplant ist ein tägliches Dienstende um 15:00. Tatsächliche Feierabendzeiten: 16:45, 18:30, 15:40, 18:30, 19:00, 17:30. Und so sieht fast jede Woche aus, seit Monaten. Sechs-Tage-Wochen.
Freizeit, Familienleben? Nicht planbar.

Unabhängig voneinander berichten zwei Beschäftigte, dass in ihren Stundenabrechnungen Stunden fehlen. Bei einem seien es mittlerweile 70 Überstunden, die nirgends auftauchten. Auch so kann man die Kosten eines Unternehmens künstlich gering halten.

Ja, dieses Unternehmen trägt, ebenso wie die meisten konventionellen, eindeutig psychopathische Züge im Sinne des Buches von Kevin Dutton.
Es verfolgt unrealistische Ziele, boxt seine Interessen ohne Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch, nutzt ungeniert den Vorteil des längeren Hebels aus, entzieht sich seiner Verantwortung und belohnt sich noch selbst dafür. Der auf der Homepage des Unternehmens in der Formulierung „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind der entscheidende Vorsprung im Wettbewerb“ angedeuteten Wertschätzung steht offenbar keine Entsprechung in denjenigen Aspekten des Personalwesens gegenüber, bei denen man es erwarten würde. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander – treffen die Aussagen der Beschäftigten zu, sogar weiter, als die „Polizei erlaubt“.

Und trotzdem – sollten die Arbeitnehmer deshalb auch Psychopathen werden? Sicherlich nicht! Im geschilderten Fall wollen sie so etwas wie Bio-Pioniere bleiben: Unverbesserliche Weltverbesserer. Wie wir alle wollen sie die Erde schützen, Mensch, Pflanze und Tier gut ernähren, ihre Familien und Freunde lieben und Zeit mit ihnen verbringen.

Witzigerweise sind das genau dieselben Bedürfnisse, die auch ihre Chefs sämtlicher Hierarchiestufen haben. Nur „Das Unternehmen“ hat sie nicht, die juristische Person, die von Menschen geschaffen wurde und von der die Menschen nun abhängig zu sein scheinen. Nur Menschen besitzen die Fähigkeit, ihrer eigenen Spezies auf Dauer überlebensfeindliche Lebensumstände zu schaffen. Dem Versuch, diese mit grüner Farbe zu bepinseln – Farbe des Lebens, griechisch „bios“, unter juristischen Personen „Nachhaltigkeit“ genannt – kann man wohl nur mit einem Hinweis begegnen: Grün ist auch die Farbe der Hoffnung, und die aller Graswurzelbewegungen.

Wir alle wollen gern für einen guten Zweck helfen, schenken und freiwillig geben – aber erpressen und bestehlen lassen wir uns nicht gern. Wir wollen nicht mit einem Psychopathen über unser Gehalt verhandeln müssen, sondern ein akzeptables Angebot bekommen. Wir wollen nicht der Freizeit, dem Überstundenausgleich oder dem Urlaub hinterherlaufen und uns dabei noch Vorwürfe anhören müssen wie „Du lässt deine Kollegen im Stich“. Wer sich als Arbeitgeber gebärdet, soll sich zumindest an die entsprechenden Gesetze halten, und am besten in Deutschland auch an den Tarifvertrag – denn auch der wurde einmal von beiden Seiten gemeinsam ausgehandelt.

Einen Schritt so zu tun, dass alle weitergehen können, auch das ist Nachhaltigkeit.
Die Idee der Nachhaltigkeit über den konkreten Menschen zu stellen, ist das nicht.
Dazu kommt mir ein Zitat von Stanislaw Lec in den Sinn: Blinder Glaube hat einen bösen Blick.

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