Die Demokratie nur noch ein Spielball der Geheimdienste?

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Kaum ein Verschwörungstheoretiker hätte sich das nun bekannt gewordene Ausmaß der Überwachung durch die amerikanischen, britischen und französischen sowie – in Kooperation mit ihnen – der deutschen Geheimdienste ausmalen können, doch die Verschwörungstheorie ist zum Normalfall geworden.

Die Bundesregierung verhält sich wie die drei weisen Affen: sie stellt sich blind, taub und stumm.

Angesichts des Ausmaßes der Anhaltspunkte für die Verletzung eines grundlegenden, verfassungsgeschützten Menschenrechts lässt sich die Reaktion der Politik nur damit erklären, dass jedenfalls die Verantwortlichen darüber Bescheid wussten oder sich dem schwerwiegenden Vorwurf aussetzen, nicht gewollt zu haben, darüber Bescheid zu wissen.

Wenn sich Regierung und Parlamentäre herausreden, sie hätten das alles nicht geahnt, dann wäre es umso schlimmer um die Demokratie bestellt. Das hieße nämlich, dass die demokratischen Institutionen zum Spielball der Geheimdienste geworden sind. Von Wolfgang Lieb.

Auf die Enthüllungen über die annähernd totale Überwachung des gesamten Brief-, Telefon und Internetverkehrs vor allem durch Edward Snowden gibt es derzeit im Prinzip drei Reaktionsformen:

  1. Die Politik tut so als habe sie von nichts etwas gewusst und spielt den Überraschten. (So wie etwa Außenminister Westerwelle und der US-Botschafter Murphy gestern in Bild am Sonntag) Die Bundesregierung verweigert eine Bewertung und verspricht Aufklärung und tut so, als handle es sich bei der Bespitzelung um einen Verstoß gegen die Höflichkeit unter „Freunden“, ein Fauxpas, den man locker wieder aus der Welt schaffen könne.
  2. Ein großer Teil der veröffentlichten Meinung und der Öffentlichkeit tut so, als sei die Schleppnetzüberwachung eben ein Fluch der Technik, der eben über uns gekommen ist und dass die totale Kontrolle der Kommunikation im Netz im Interesse der Terrorbekämpfung hingenommen werden müsse.
  3. Wieder andere argumentieren, die elektronische Kommunikation sei eben wie das Verschicken einer Postkarte, die schließlich auch jeder lesen könne. Man sei schließlich selbst schuld, wenn man persönliche Daten ins Netz stelle oder per Telefon übermittle. Jeder könne ja selbst entscheiden, was er an Daten preisgebe. Man könne ja seine Botschaften Verschlüsseln.

Alle diese Abwehrreaktionen verharmlosen die Tatsache, dass die gar nicht mehr bestreitbaren Überwachungspraktiken der Geheimdienste ein Verstoß gegen die Menschenrechte darstellt:

„Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben.“ So heißt es etwa in der Europäischen Menschrechtskonvention. In Deutschland hat das Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Verfassungsrang.

Da wurde etwa für die Aufarbeitung der gegenüber der jetzt öffentlich gewordenen Überwachung durch die Geheimdienste geradezu dilettantisch anmutende Spitzeltätigkeit der Stasi in der ehemaligen DDR eine große Behörde eingerichtet, aber wenn alle Menschen von staatlich beauftragten High-Tech-Kontrolleuren als potentielle Gefahrenquelle eingestuft und abgeschöpft werden, dann fragt unsere Kanzlerin nur noch nach der „Verhältnismäßigkeit“.
Wer gedacht hatte mit dem Zusammenbruch der DDR läge die Bespitzelung hinter uns, hat sich gründlich getäuscht, sie hat im Gegenteil den Umfang von Yotta-Bytes erreicht, also von unvorstellbaren Datenmengen.

Kaum ein sog. Verschwörungstheoretiker hätte sich das nun bekannt gewordene Ausmaß der Überwachung durch die amerikanischen, britischen und französischen sowie – in Kooperation mit ihnen – der deutschen Geheimdienste ausmalen können, doch die Verschwörungstheorie ist zum Normalfall geworden.

Man stelle sich nur einen Augenblick vor Snowden wäre Koreaner, Chinese oder Russe und hätte über die Ausspähung der Geheimdienste in diesen Ländern „gewhistelt“. Der gesamte „freie Westen“ hätte sie als Helden gefeiert und hätte sich über die totalitären Praktiken dieser Staaten empört und sich in seiner moralischen Überlegenheit gesonnt. Nach Snowden bleibt eigentlich nur noch Spott für diese Überheblichkeit.

Wenn man nur einmal kurz darüber nachdenkt, dass in Deutschland jedem Falschparker nachgespürt wird oder dass bei Sozialhilfeempfängern die Bettmatratzen untersucht werden, ob nicht ein Sozialhilfebetrug vorliegt, so ist die Reaktion der Politik auf die totale Kontrolle gerade zu erschreckend. Die Bundesregierung verhält sich wie die drei weisen Affen: sie stellt sich blind, taub und stumm.

Angesichts des Ausmaßes der Anhaltspunkte für die Verletzung eines grundlegenden, verfassungsgeschützten Menschenrechts lässt sich die Reaktion der Politik nur damit erklären, dass jedenfalls die Verantwortlichen darüber Bescheid wussten oder sich dem schwerwiegenden Vorwurf aussetzen, nicht gewollt zu haben, darüber Bescheid zu wissen. Und das gilt zumindest für alle Chefs des Kanzleramtes, für Pofalla genauso wie für Steinmeier und deren Vorgänger. Das gilt auch für die parlamentarischen Kontrolleure nicht nur im Bundestag sondern auch in allen Länderparlamenten.

Wenn sich nun Regierung und Parlamentäre herausreden, sie hätten das alles nicht geahnt, dann ist es umso schlimmer um die Demokratie bestellt. Das hieße nämlich, dass die demokratischen Institutionen zum Spielball der Geheimdienste geworden sind.

Nachdem die Politik schon in den Fängen der Finanzindustrie und der Banken erdrückt wird, kuscht sie nun offenbar auch noch vor den von ihr selbst installierten „Diensten“.

Da alle großen Parteien „Dreck am Stecken“ haben, ist klar, dass dieser Skandal vor der Bundestagswahl unter den Teppich gekehrt wird.

Dass es keine öffentlichen Proteste gibt, ist auch ein Zeichen dafür, wie ohnmächtig sich die Bürgerinnen und Bürger fühlen, wenn sie erfahren müssen, dass ihr Computer nicht mehr ihnen selbst, sondern den offenbar nicht mehr kontrollierten oder kontrollierbaren Geheimdiensten und der für diese verantwortlichen Regierungen gehört.

Wir sind bei Orwell 2.0 angekommen. In George Orwells Roman 1984 gab es wenigstens noch den Protagonisten Winston Smith, der sich gegen die allgegenwärtige Überwachung auflehnte. Snowden ist der Held von Orwell 2.0, doch ihm ergeht es vermutlich wie dem Helden in Orwells vor über 60 Jahren geschriebenen Roman, er wird vom „System“ zerbrochen werden.

Wenn die Regierenden der „freien Welt“ wirklich ein Interesse hätten, sich aus ihren Machenschaften mit ihren Geheimdiensten zu befreien, dann müssten sie Edward Snowden als Kronzeugen aufnehmen, ihn als Zeugen der Anklage für die Aufklärung eines Menschheitsverbrechens behandeln.

Dass das nicht geschieht, sagt eigentlich alles über die Schuldfrage.

Vielleicht machen mir jetzt mancher Leser oder manche Leserin den Vorwurf, ich hätte den schweren Fehler begangen und Vermutungen über das Vorgehen der Geheimdienste als Faktum genommen.

Um diesem Vorwurf zu entgehen, referiere ich die gewiss noch nicht umfassenden Informationen, die der heutige Spiegel enthält:

Unter der Überschrift „Obamas Zwerge“ berichtet der Spiegel (Printfassung) wie die Regierungen reihenweise vor Washington kuschten. Die Deutschen wollten angeblich von nichts gewusst haben, doch es werde jetzt klar, dass die Geheimdienste eng miteinander kooperierten.

So gebe es etwa in Darmstadt-Griesheim den streng geheimen Horchposten, „Dagger Complex“, in dem Armee-Leute der 66th Military Intelligence Brigade arbeiteten, der auch von der NSA mitfinanziert werde. Es gebe Hinweise, dass – im Gegensatz zu den Behauptungen der Bundesregierung – diese Überwachungseinrichtung eng mit dem BND und dem Verfassungsschutz zusammenarbeite…Auch Snowden sage, dass deutsche Behörden mit der NSA „unter einer Decke stecken“.

Derzeit baue die NSA ihre Infrastruktur in Deutschland mit großem Aufwand aus. Die bekannteste Abhöranlage liege im bayerischen Bad Aibling. Die dort abgefangenen Signale würden auf das Gelände der naheliegenden Manfall-Kaserne weitergeleitet. Hier residiere ganz offiziell die „Fernmeldeweiterverkehrsstelle der Bundeswehr“, hinter der sich der BND verberge. Dabei würden in Kooperation mit Abhörspezialisten der NSA Telefongespräche, Faxe und alles, was sonst noch über Satelliten übertragen werde, „analysiert“. BND-Chef Gerhard Schindler habe diese Zusammenarbeit mit dem US-Dienst inzwischen eingeräumt.
In Wiesbaden baue die US-Armee streng bewacht ein neues „Consolidatet Intelligence Center“, ein Hightech-Kontrollzentrum. Frankfurt a.M., eine digitale „Herzkammer“, sei für inländische und ausländische Geheimdienste eine unerschöpfliche Quelle für Informationen. Nach Angaben Snowdens greife die NSA eine halbe Milliarde Kommunikationsvorgänge in Deutschland ab. Der BND dürfe bis zu 20 Prozent dieser Daten abzweigen.
Die NSA stelle z.B. dem BND Spezial-Tools zur Verfügung, um den aus dem Nahen Osten eingehenden Telefon- und Inernetverkehr auszuwerten.

Die Bundesregierung bestreite, dass der US-Dienst wiederum Zugriff auf die ausgewerteten Daten habe. Eine Kooperation gebe es nur in Form von fertigen Geheimdienstberichten („finished intelligence“).

Anders als öffentlich zugegeben, gebe es jedoch zwischen dem deutschen Auslandsdienst und der NSA in klar umgrenzten Einzelfällen ein gemeinsames Vorgehen („Joint Operations“). In Bad Aibling arbeite ein NSA-Team eng mit dem BND zusammen.
Während die deutschen Dienste den strengen Regeln der G-10-Gesetzgebung unterlägen, arbeiteten ausländische Dienste weitgehend unkontrolliert.

Ist es wirklich denkbar, dass bei so viel Nähe der eine Partner nicht wusste, was der andere tat, fragt der Spiegel.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, bestreitet laut Spiegel „Erkenntnisse“ dass Internetknotenpunkte in Deutschland durch die NSA ausspioniert würden. Auch Lauschangriffe der USA auf die Bundesregierung seien ihm nicht bekannt.

Dass mit einer Freundschaft auch Herrschaft verbunden sein könne, zeige der Fall Snowden so klar wie kaum ein anderer. Die Odyssee des bolivianischen Präsidenten zeige besonders deutlich, wie die Herrschaftsverhältnisse seien. Auch wenn noch nicht alle Einzelheiten geklärt seien, zeige sich, dass europäische Politiker eine Menge Angst vor den Amerikanern hätten.

Angst vor dem Zorn der USA regiere gerade die Welt. Der Westen mache sich lächerlich durch Unterwürfigkeit. Aber selbst China und Russland hätten offenbar kein Interesse daran, die Praktiken der NSA öffentlich zu machen.

In einem Interview mit dem ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten und Geheimdienstkontrolleur Claus Arndt, sagt dieser u.a.: Nach dem Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut von 1959 sei die Bundesrepublik zur Zusammenarbeit mit den USA zum Schutze von deren Truppen verpflichtet. Was das in der Praxis bedeutet, sagt Claus Arndt auch: „Man muss dazu wissen: Aus amerikanischer Sicht gab es nichts, was nicht für die Sicherheit ihrer Truppen relevant war.“ In der Praxis seien wir nicht souverän.

Der Spiegel berichtet weiter über einen Fragenkatalog, den der Entwickler von Verschlüsselungs- und Sicherheitssoftware Jacob Appelbaum – lange bevor die Enthüllungen zum öffentlichen Thema wurden – Edward Snowden geschickt hat und den dieser beantwortet hat.
Dort sagt Snowden: „Die (NSA-Leute – Red.) stecken unter einer Decke mit den Deutschen, genauso, wie mit den meisten anderen Staaten.“
Die anderen Behörden fragten die NSA nicht, woher sie die Hinweise hat, und die NSA fragt diese Behörden nach nichts. So können sie ihr politisches Führungspersonal schützen, falls herauskommen sollte, wie massiv weltweit die Privatsphäre von Menschen missachtet wird.

Nach Recherchen der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung können sich die amerikanischen Geheimdienste bei Ausspähaktionen in Deutschland auf Rechtsgrundlagen berufen, die noch aus der alten Bundesrepublik stammen. Gemäß Verwaltungsvereinbarungen von 1968 dürfen die Geheimdienste der Westalliierten BND und Verfassungsschutz um Aufklärungsmaßnahmen ersuchen; die deutschen Dienste haben Rohdaten zu übergeben. Das begründet ein Recht der Amerikaner auf in Deutschland nachrichtendienstlich erhobene Daten. Bis vergangenes Jahr waren die Vereinbarungen als geheim eingestuft. Nach Angaben der Bundesregierung sind sie weiter in Kraft, wurden jedoch seit 1990 nicht mehr in Anspruch genommen. Wie die F.A.S. erfuhr, wird die Zusammenarbeit zwischen den amerikanischen Geheimdiensten und dem BND durch mehrere Absichtserklärungen geregelt, die weiterhin als streng geheim eingestuft sind.
Darüber hinaus haben frühere Bundesregierungen den Amerikanern das Recht zugesichert, sie dürften „im Fall einer unmittelbaren Bedrohung“ ihrer Streitkräfte „angemessene Schutzmaßnahmen“ ergreifen. Das schließt gemäß dem Truppenvertrag von 1952 und dem Zusatzabkommen zum Nato-Truppenstatut von 1962 das Recht ein, eigene Nachrichten in Deutschland zu sammeln.

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