Mainz ist überall – nun ernten wir die verdorbenen Früchte einer fehlgeleiteten Politik

Jens Berger
Ein Artikel von:

Gäbe es in der Fachliteratur einen Ratgeber zum Thema „Wie erzeuge ich einen Fachkräftemangel“ könnte die Deutsche Bahn AG zahlreiche Fallbeispiele beisteuern. Ohne Sinn und Verstand strich man dort das Personal derart zusammen, dass bereits drei Krankmeldungen ausreichen, um eine Regionalmetropole wie Mainz teilweise vom Bahnverkehr abzuschneiden. Mainz ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs, bundesweit herrscht bei der Bahn akuter Personalnotstand. Es grenzt dabei schon fast an ein Wunder, dass es dabei (noch) zu keinen schweren Unfällen gekommen ist. Die Misere an den Namen Mehdorn und Grube festzumachen, ist jedoch zu einfach. Die Bahn ist ein Staatsunternehmen. Für Fehlentwicklungen trägt hier auch – und vor allem – die Politik die Verantwortung. Von Jens Berger.

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Wer hätte schon damit rechnen können, dass im Stellwerk Mainz drei der fünfzehn Fahrdienstleiter gleichzeitig krank werden? Und dies auch noch mitten in der Urlaubszeit. Diese „sagenhafte“ Krankheitswelle hat die Bahn offenbar tief ins Mark getroffen. Die Regionalmetropole Mainz ist seit einigen Tagen ab 20 Uhr nicht mehr per Bahn zu erreichen und seit gestern fahren auch tagsüber die ersten Fernverkehrszüge an Mainz vorbei, während nur noch jeder zweite Nachverkehrszug den Mainzer Hauptbahnhof anfährt. Bahnchef Grube macht „unglückliche und teils ärgerliche Umstände“ für das Versagen seines Konzerns verantwortlich. Diese Aussage ist grotesk, haben Grube und seine Vorgänger doch jahrelang keine seriöse Personalbedarfsplanung durchgeführt.

Provozierte Personalnot

Seit Mitte der Neunzigerjahre hat die Deutsche Bahn AG ihr Personal halbiert. In der Netzsparte, die für den Betrieb der Stellwerke verantwortlich ist, beträgt das Durchschnittsalter der Mitarbeiter 47 Jahre. Dies ist freilich kein Wunder, da seit gut einem Jahrzehnt keinen neuen Mitarbeiter eingestellt wurden. Besonders dramatisch ist dabei die Situation bei den Fahrdienstleitern, die den Bahnverkehr koordinieren, Weichen stellen und bei Störungen den Betrieb manuell übernehmen. Ein stressiger und vor allem verantwortungsvoller Job, der jedoch nicht nur dürftig bezahlt wird, sondern auch einer schon beinahe grotesk zu nennenden Arbeitsverdichtung unterzogen wurde. Rund eine Million Überstunden werden bundesweit von den Fahrdienstleitern der Bahn vor sich her geschoben – allein dies entspricht rund 500 Vollzeitstellen.

Im letzten Jahr sind bei der Fahrdienstleitung bundesweit ganze 60.000 Schichten wegen der akuten Personalnot ausgefallen – dies entspricht weiteren rund 300 Vollzeitstellen. Jeden Tag kann die DB Netz 165 Stellen auf hochkomplexen Stellwerken nicht besetzen. Mainz ist überall, Mainz ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Monatelang musste beispielsweise der ICE zwischen Hannover und Würzburg zu bestimmten Zeiten eine außerplanmäßige Pause auf offener Strecke einlegen, da die Fahrdienstleiter im Stellwerk Bebra ansonsten nicht ihre gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepausen hätten einhalten können.

Dieses Chaos wurde grob fahrlässig durch die verfehlte Personalpolitik der Bahn provoziert. Ein krankheitsbedingter Ausfall von 20% der Belegschaft ist sicher kein derart „ungewöhnliches“ Ereignis, wie Bahnchef Grube es suggeriert – vor allem dann nicht, wenn es sich bei der Belegschaft vorwiegend um ältere Mitarbeiter handelt, die durch Stress und Arbeitsverdichtung zusätzlich krank gemacht werden. Es war nur eine Frage der Zeit, bis so etwas passieren musste. Darauf wiesen übrigens auch interne Berechnungen der Deutsche Bahn AG vor nunmehr vier Jahren hin – geändert hat sich jedoch nichts.

Das Personalproblem der Bahn geht jedoch weit über das Problem bei der Besetzung der Fahrdienstleitungen hinaus. Auch bei den Lokführern und den Zugbegleitern ist die Deutsche Bahn AG dramatisch unterbesetzt. Früher hieß es in einem Werbespot: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Wir fahren immer“ – heute fällt die Bahn nicht nur bei Sonne und Schnee aus, sondern ist offenbar noch nicht einmal gegen eine Grippewelle gefeit.

Was interessiert uns Deutschland, wenn uns schon morgen die ganze Welt gehören kann?

Muss die Bahn derart rabiat beim Personal sparen? Natürlich nicht, schließlich ist die Deutsche Bahn AG ein hochprofitables Unternehmen, das eine Kapitalrendite von 8,3% erwirtschaftet, was im letzten Jahr einem operativen Gewinn von 2,7 Mrd. Euro entspricht. Eigentlich wäre es also gar kein Problem, die Personaldecke zumindest auf ein vernünftiges Maß aufzustocken. Es ist ja auch nicht so, dass die Deutsche Bahn AG kein Personal für den Zugbetrieb ausbilden würde. Im arabischen Katar will das deutsche Unternehmen beispielsweise eine „Eisenbahn-Akademie“ errichten, um dort Personal auszubilden. Mehr 200 Mitarbeiter werden für den Bahnbetrieb in Katar über die Bahn-Tochter „DB Schenker Rail“ bereits rekrutiert. Den Stellwerkern in Mainz, Dortmund und Duisburg ist damit freilich nicht geholfen. Die Deutsche Bahn AG gehört, was kaum jemand weiß, zu den investitionsfreudigsten Unternehmen des Landes. In Saudi-Arabien beteiligt man sich beispielsweise am Bau einer Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Mekka und Medina. Hierzulande schließt man derweil Bahnhöfe in der Region. Und Grube interessiert sich offenbar jedenfalls mehr für die über 10.000 Kilometer lange neue Direktverbindung ins chinesische Zhengzhou als für die sechzig brandenburgischen Kommunen, denen mit der Schließung ihres Bahnhofs die Abkoppelung vom Schienennetz droht. Auch der russische Logistikmarkt ist für die Bahn-Manager offenbar interessanter als der öffentliche Personennahverkehr in Deutschland.

Die Deutsche Bahn AG hat das erklärte Ziel, zum „weltweit führenden Mobilitäts- und Logistikunternehmen“ zu werden. Und weltweit führende Unternehmen interessieren sich offenbar nicht großartig für Regionalmetropolen wie Mainz oder gar ländliche Kommunen, in denen sich Fuchs und Hase auch deshalb gute Nacht sagen, weil die Bahn sie nicht mehr anfährt. Ihrem eigentlichen Auftrag, im eigenen Land einen gut funktionierenden schienengebundenen Personen- und Güterverkehr zu gewährleisten, wird die Deutsche Bahn nicht mehr gerecht. Dabei geht die Deutsche Bahn AG Hand in Hand mit der deutschen Politik. Im europaweiten Pro-Kopf-Investitionsvergleich nimmt Deutschland den vorletzten Platz – nur das krisengeschüttelte Spanien investiert noch weniger Geld in seine Schieneninfrastruktur. Wie es auch anders gehen kann, zeigen Österreich und vor allem die Schweiz, die auf der Pro-Kopf-Basis siebenmal so viel Geld wie Deutschland in die Schieneninfrastruktur investiert. Die Schweizer Bahn muss sich aber auch nicht – wie die Deutsche Bahn AG – in 140 Ländern weltweit mit Akquisitionen und Konkurrenzkämpfen beschäftigen. Ihre Aufgabe ist es, den heimischen Markt bestmöglich zu versorgen – über derlei Provinzialität schmunzeln die großspurigen Deutschen Weltlogistiker freilich hinter vorgehaltener Hand.

Grube und Mehdorn – Symptome, aber nicht die Krankheitsursache

Natürlich kann man den Bahnchef Rüdiger Grube oder seinen Vorgänger Hartmut Mehdorn für die fehlgeleitete Konzernpolitik verantwortlich machen. Dies wäre jedoch zu einfach und wohlfeil, da Grube und Mehdorn auch „nur“ nach Vorgaben handeln. Die Deutsche Bahn AG ist zwar ein privatrechtliches Unternehmen, da die Bundesrepublik Deutschland jedoch der einzige Aktionär ist, ist die Deutsche Bahn AG definitionsgemäß ein privatrechtliches Staatsunternehmen. Nicht die Angestellten Grube und Mehdorn bestimmen, wo es mit der Bahn hin geht, sondern der Eigentümer, der das Management dafür bezahlt, die von ihm gestellten Vorgaben umzusetzen. Neben Grube und Mehdorn gehören daher auch die Namen Matthias Wissmann, Franz Müntefering, Reinhard Klimmt, Kurt Bodewig, Manfred Stolpe, Wolfgang Tiefensee und Peter Ramsauer auf die Anklagebank, wenn es darum geht, Schuldige für die Fehlentwicklungen bei der Deutschen Bahn AG zu suchen. Die genannten Herren waren als Bundesverkehrsminister direkt für die Unternehmenspolitik der Deutschen Bahn AG verantwortlich.

Die Zukunft der Bahn ist keine unternehmerische, sondern eine politische Frage. Eine politische Frage zudem, die weit über die Kompetenzen des Bundesverkehrsministeriums und der Bundesregierung hinausgeht. Im Regionalverkehr schreibt die regionale Politik die Verkehrsverträge aus, auf die die Deutsche Bahn sich dann bewirbt. Es wäre kein großes Problem, Personal- und Ausbildungsquoten als Bestandteil in diese Verkehrsverträge aufzunehmen. Schließlich geht dabei auch um die Erfüllung des Vertrages. Wenn die Deutsche Bahn, wie im Beispiel Mainz, den Verkehrsvertrag wegen selbst verschuldeter Personalengpässe nicht erfüllt, ist dies ein Vertragsbruch. Um dies als ausschreibender Auftraggeber zu verhindern, kann und sollte man daher der Bahn klare Leitplanken setzen.

Schlussendlich haben Sie als Wähler es jedoch in der Hand, wohin die Bahn in Zukunft fährt. Wenn Sie einer Politik ihre Stimme geben, die es zu verantworten hat, dass die Bahn ihr Personal ausdünnt und milliardenschwere Investitionen lieber im Ausland vornimmt, dann dürfen Sie sich auch nicht darüber beschweren, wenn Zugverbindungen ausfallen. Sprechen Sie doch einmal mit dem Bundestagabgeordneten ihres Wahlkreises über das Thema. Ohne Druck vom Wähler wird sich an der fehlgeleiteten Politik nämlich auf absehbare Zeit nichts ändern.„"