Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um

Jens Berger
Ein Artikel von:

In seiner treffenden Analyse des Duell-Spektakels zwischen Angela Merkel und Peer Steinbrück kam Wolfgang Lieb hier auf den NachDenkSeiten zu dem Schluss: „90 Minuten Duell – zumal unter Show-Bedingungen – reichen zur Erzeugung einer Wechselstimmung eben nicht aus.“ Das gibt nicht nur die gegenwärtige, für einen Regierungswechsel fast aussichtslose Situation richtig wieder. Es verweist auch auf die entscheidenden strategischen Fehler, die Rot-Grün und vor allem die SPD in diesem Wahlkampf von Beginn an begangen haben. Viel zu lange haben sie sich erstens nicht als echte politische Alternative präsentiert und zweitens nicht als reale Machtoption. Ein Beitrag von Stephan Hebel, Autor des Buches „Mutter Blamage“.

Wie schön wäre es, könnte man über den ganzen Wahlkampf sagen, was Lieb zum Fernsehauftritt des Kandidaten schreibt: „Steinbrück hat für seine Kritik an den bestehenden Verhältnissen (soziale Ungerechtigkeit, prekäre Arbeit, Chaos bei der Energiewende, PKW-Maut, Chancengleichheit, Euro-Kurs) viele Fakten und gute Argumente aufgetischt und er ging sogar weiter voran, als man das bisher von ihm gehört hatte. Etwa indem er klarstellte, dass wir in Europa eine Bankenkrise und keine Schuldenkrise hätten, dass man Banken auch auf Kosten der ,Gläubiger‘ und nicht nur der Steuerzahler abwickeln müsse, dass man Steuerhinterzieher härter bekämpfen müsse, dass man die Agenda 2010 auch korrigieren müsse…“.

Schlappe 21 Tage vor der Wahl begann also der Kandidat mit dem, was er und seine Partei seit einem Jahr hätten tun müssen. Und wenn er es tat, dann prallte er zwar tatsächlich, wie Lieb schreibt, „an den medial schon tausendfach transportierten Beschönigungen und Vertröstungen der Teflon-Kanzlerin ab“. Allerdings: Hier und da, etwa beim NSA-Skandal, blieb der Amtsinhaberin nichts anderes übrig, als hinter dem Kanzlerin-für-alle-Gestus durchscheinen zu lassen, dass sie dieses Land in Wahrheit nach einem klaren ideologischen Kompass regiert (in diesem Fall: mit einer erstaunlichen Gleichgültigkeit gegenüber Bürgerrechten). Oder aber Steinbrücks konkrete Gegenargumente, etwa bei Steuern und Mindestlohn, ließen ihre Plattitüden („…nichts tun, was Arbeitsplätze gefährdet…“) in der Konfrontation noch dümmlicher erscheinen.

In diesen Situationen des Duells hat sich gezeigt: So vollkommen unangreifbar, wie auch bei Rot-Grün manche meinen, schwebt auch eine Angela Merkel nicht über den Wolken – allen Beliebtheitswerten zum Trotz. Plötzlich war manches von dem zu spüren, was sie antreibt: von der geradezu verbohrten Ideologie der Staatsverarmung („keine Steuererhöhungen!“) bis zum bereits erwähnten, offensichtlichen Desinteresse am Schutz des Bürgerrechts auf Datenschutz („weiß ich nicht“).

Aber es ist, wenn nicht alles täuscht, zu spät. Ein Jahr lang hat Rot-Grün der Amtsinhaberin ihre Strategie des „Kanzlerin für alle“-Gestus einfach durchgehen lassen, offensichtlich aus Angst, ihre Beliebtheit könnte als Ablehnung auf die Kritiker zurückschlagen. Dieses Risiko gibt es. Aber was wäre das für ein spannender Wahlkampf geworden, hätten SPD und Grüne den Angriff dennoch gewagt, getreu dem schönen Satz von Ernst Bloch: „Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um!“

Unbehelligt von der Opposition, ist es Angela Merkel ist so gut gelungen wie keinem Spitzenpolitiker vor ihr, die ideologischen Leitlinien und die blamablen Ergebnisse ihrer Politik hinter einer dichten Nebelwand aus Allgemeinplätzen zu verbergen.

Sie ist damit durchgekommen, Steuererhöhungen für Vermögende und Spitzenverdiener als Teufelszeug zu verunglimpfen. Sie hat es geschafft, ihr untaugliches Modell „Mindestlohn light“, das vor allem dazu dient, der Opposition das Thema aus der Hand zu schlagen, als echte Alternative zur gesetzlichen Untergrenze zu verkaufen. Sie lobt sich ungeniert für die Schaffung von Arbeitsplätzen und verschweigt die wichtigste „Errungenschaft“ einer verfehlten Arbeitsmarktpolitik, nämlich Armut trotz Arbeit. Sie zwingt fast ganz Europa in die Rezessionsspirale, die Steinbrück im Duell richtig benannte – und verschweigt ihrem Volk, dass das nicht nur für die jetzt schon Betroffenen unmoralisch, sondern auch für die deutsche Wirtschaft auf Dauer untragbar ist. Mit Folgen im Sozialbereich, die sie bis zur Wahl zu verschweigen gedenkt. Sie lobt sich für eine Bankenregulierung, die ihre Partei und die FDP nach Kräften verwässern und verzögern. Sie faselt von „Lebensleistung“, wenn sie Rentnerinnen ein Almosen verspricht – vorausgesetzt, sie haben vorher ihre wenigen Spargroschen zum Riestern an die Finanzmärkte getragen. Sie gefährdet die Akzeptanz der Energiewende, indem sie die Entlastung von Unternehmen ins Absurde treibt. Sie gedenkt der Opfer rechten Terrors und lässt ihren Innenminister Ressentiments gegen Flüchtlinge verbreiten, die den Humus des Extremismus in der Gesellschaft noch fruchtbarer machen. Um nur einige Themen zu nennen.

Man könnte auch sagen: Angela Merkel nutzt die verständliche Angst vieler Menschen um ihre Daseinsvorsorge für ihr Betrugsmanöver aus: Wider besseres Wissen vermittelt sie den Eindruck, alles bleibe gut, wenn wir so weitermachten wie bisher. Sie verschweigt, dass vieles zu ändern wäre, damit unser Leben so komfortabel bleibt, wie es noch ist – und dass es für die gewachsene Zahl der Armutsgefährdeten und Armen wieder ein würdiges Niveau erreicht. Die leider in Politik und Medien ständig gesungene Melodie von der „Sozialdemokratisierung“ der Union wäre leicht zu widerlegen gewesen, trotz dieser oder jener Anpassungsleistung Merkels an gesellschaftliche Entwicklungen, etwa beim Kita-Ausbau.

All das hätte Rot-Grün längst offenlegen müssen, ohne Furcht vor der Beliebtheit der Kanzlerin. Steinbrück hat damit im Fernsehduell begonnen. Das sollte aufgenommen und fortgesetzt werden – gerne noch einen Tick aggressiver. Ja, es ist riskant, die CDU-Vorsitzende frontal anzugreifen. Aber es ist noch gefährlicher, es nicht zu tun. Und wirklich zu spät ist es dafür nie, denn erstens hat es diese Gesellschaft dringend nötig, dass das Konzept einer angemessenen Daseinsvorsorge und einer gerechten Lastenverteilung der Ideologie der Staatsverarmung weiter entgegengestellt wird, auch nach der Wahl. Und zweitens: Auch wenn es für einen rot-grünen Sieg nicht mehr reichen wird, wäre ein Ergebnis, das die linke Mehrheit im Lande unter Einschluss der Linkspartei wieder herstellen würde, für die Zukunft von großem Nutzen.

Womit wir bei dem zweiten strategischen Fehler von SPD und Grünen wären: Sie haben es nicht nur viel zu lange versäumt, die Kanzlerin inhaltlich zu stellen. Sie haben es auch versäumt, sich als alternative Machtoption zu präsentieren.

Natürlich kann man, weniger als drei Wochen vor der Wahl, jetzt kein rot-grün-rotes Modell aus dem Ärmel ziehen. Das hätte, praktisch vom Wahlabend 2009 an, vorbereitet werden müssen, um überhaupt eine Chance zu haben. Die Voraussetzungen waren ja auf paradoxe Weise gut: Gerade wegen ihrer damaligen Niederlage saß die SPD mit den potenziellen Partnern in der Opposition, wäre also frei gewesen, entsprechend zu agieren.

Aber schon an jenem Wahlabend, als der vernichtend geschlagene Frank-Walter Steinmeier in fast putschistischer Manier den Fraktionsvorsitz wieder für sich reklamierte, war klar: Der Schröder-Flügel würde der Partei einen Kampf bis zur Spaltung aufzwingen, wenn sie unter Führung von Sigmar Gabriel auf eine linke Mehrheit setzte. Eine Distanzierung von den wichtigsten Fehlern der Agenda 2010, wie sie jetzt sogar einem Steinbrück über die Lippen kommt, war lange, zu lange tabu. Und der Linkspartei machte es die SPD damit allzu leicht, sich als einzig wahre Opposition zu präsentieren und von jeder realen Machtoption auch ihrerseits weitgehend fernzuhalten.

Diese Fehler sind jetzt nicht mehr zu korrigieren. Nicht vor der Wahl. Danach allerdings wäre es allerhöchste Zeit, eine linke Mehrheit, die auch regieren kann, für die Zukunft zu konzipieren. Das wird extrem schwer, erst recht wenn Rot oder Grün so dumm sein sollten, der Kanzlerin bei Bedarf per Koalition wieder zur Mehrheit zu verhelfen. Aber wer die Wechselperspektive für dieses Land nicht ganz aufgeben will, muss damit jetzt beginnen, wenigstens jetzt. Ein schöner Anfang wäre es, wenn Rot und Grün der amtierenden Kanzlerin die Koalition und damit die Mehrheit zur Wiederwahl im Bundestag verweigern würden.

Das würde die verkrusteten Verhältnisse im deutschen Parlamentarismus ein wenig zum Tanzen bringen: Von Minderheitsregierungen und Duldungsmodellen bis zur Neuwahl kämen neue Perspektiven ins Spiel. Auch das wäre, so inhaltsleer wie in Deutschland über „Stabilität“ und „Verantwortung“ geredet wird, ein großes Risiko. Aber wie gesagt: Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um.

Stephan Hebel ist seit vielen Jahren Autor der Frankfurter Rundschau und hat ein Buch über Angela Merkel geschrieben. In „Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht“ (Westend Verlag, 160 Seiten, 13,99 €) zeichnet er das Bild eines großen Betrugsmanövers der Öffentlichkeit durch die CDU-Politikerin. Hier eine ausführliche Rezension des Buches von Wolfgang Lieb.

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