Das Jahresgutachten des Sachverständigenrats trägt alle Anzeichen des Sektierertums

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„Widerstreitende Interessen – ungenutzte Chancen“, schon der Titel zum diesjährigen Jahresgutachten des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung offenbart ein bedenkliches Demokratie- und Gesellschaftsverständnis.
Es gehört nun mal zu den Ausgangsbedingungen jeder Gesellschaft, dass es widerstreitende Interessen gibt, das gilt zumal in einer Gesellschaft, in der es eine weit auseinanderklaffende Primärverteilung und einen grundlegenden Interessenkonflikt zwischen Produktionsmittelbesitzern und Arbeitnehmern gibt. Wolfgang Lieb.

Wenn also allein in widerstreitenden Interessen „ungenutzte Chancen“ gesehen werden, ist das zunächst eine Behauptung die Interessenskonflikte negiert oder sie zumindest als schädlich betrachtet. Das legt aber darüber hinaus vor allem nahe, dass hier sog. Experten ihr vermeintliches Wissen über die (vorhandenen) gesellschaftlichen Interessen stellen. Ein demokratischer politischer Interessenausgleich gilt dann nur noch als lästig, als unnötig, als falsch. Das ist ein Expertokratiedenken, das jede wissenschaftliche Selbstkritik verweigert, sich absolut setzt und sich über demokratische Willensbildungsprozesse erhebt.

Ein vom Staat eingesetztes Gremium also, dessen arrogantes Selbstverständnis sich nur noch schwer mit dem Verständnis des Grundgesetzes über die Funktionsweise unserer Demokratie verträgt.

Der Tonfall des „Gutachtens“ hört sich vielfach an, als würden hier Propheten – über der Gesellschaft und der Politik stehend – die Wirklichkeit an ihren unfehlbaren Glaubenssätzen messen und dementsprechend aburteilen.

Man bescheinigt etwa der Regierung „vielversprechende erste Schritte“ etwa bei der Anhebung des Renteneintrittsalters oder bei der ersten Stufe der Föderalismusreform. Jedoch seien „die Anstrengungen auf wichtigen Politikfeldern im Dickicht widerstreitender Interessen stecken“ geblieben. Es gebe „erheblichen Nachbesserungsbedarf“, „die Chance zu einem wirklich großen Wurf bei der gebotenen Neuordnung der Unternehmensbesteuerung dürfte … vertan sein“, „notwendige Reformbausteine“ seien nicht beschlossen worden, „Hoffnungen auf weitreichende Maßnahmen“ gebe es allenfalls, „wenn es der Politik gelingt, die durch den Widerstreit der Interessen entstandene Selbstblockade aufzulösen“.
Bei der Reform der Unternehmensbesteuerung, wie der des Niedriglohnbereichs, bestünde allerdings „noch die Hoffnung, dass sich die Bundesregierung aus dem Klammergriff der parteipolitischen Interessen befreien kann und gleichermaßen schlüssige wie wirksame Antworten findet.“
„Ein Vergleich dessen, was auf den zentralen wirtschaftspolitischen Reformbaustellen geschehen ist, mit dem was hätte geschehen müssen und können, zeigt, dass im ersten Jahr dieser Großen Koalition die durch den Regierungswechsel gebotene Chance, auf wichtigen wirtschaftspolitischen Feldern zügig voranzukommen, unzureichend genutzt wurde.“

Vier der fünf Sachverständigen – Wolfgang Franz vom ZEW, Bert Rürup, Beatrice Weder di Mauro und Wolfgang Wiegard – tun so, als verkündeten sie eine angeblich „rein ökonomisch“ abgeleitete und unfehlbare Lehrmeinung – sozusagen ex cathetra – , und sie spielen sich auf, als müssten sich an diese Lehrsätze alle Mitglieder der Gesellschaft und zumal die Regierung strikt halten, wenn sie ihre Chancen nutzen wollten.

Jeder der Vernunft und der Aufklärung noch einigermaßen Verpflichtete und jeder der sich noch einigermaßen Rechenschaft darüber abgibt, wie unsicher die Aussagen gerade der Wirtschaftswissenschaften sind, fragt sich, woher nehmen die drei weise Herrn und die weise Dame eigentlich ihre Autorität als Wächter des rechten Glaubens aufzutreten.

Die Abweichungen zwischen den Prognosen des Sachverständigenrats von der Realität, also seine Fehlprognosen sind notorisch. In einer Tabelle zeigt etwa Jörg Hinze vom HWWA [PDF – 104 KB], dass die „Wirtschaftsweisen“ mit ihren Prognosen in der Vergangenheit ständig und teilweise geradezu peinlich neben der Realität lagen.
Klar, die immunisierende Antwort war stets, dass die Politik ja den Empfehlungen nicht gefolgt sei.
Aber es gab auch geradezu eklatante Fehlurteile, die man nicht so ohne weiteres der (falschen) Politik in die Schuhe schieben konnte. Vor genau sechs Jahren zum Beispiel verkündete eben dieser Sachverständigenrat, die Konjunktur „laufe rund“, ein Wachstum für das Jahr 2001 von 2,8 Prozent wurde prognostiziert, gelandet sind wir damals bei 0,8 Prozent. Die Spekulationsblase der sog. New Economy wurde nicht erkannt. Trotz der damals schon 4 Millionen Arbeitslosen schenkte die Politik der völlig daneben liegenden Prognose Glauben, tat nichts mehr für die Konjunktur und der damalige Finanzminister Eichel fuhr seinen Sparkurs fort.
Seither sackte die Konjunktur in den Keller, wir hatten eine Stagnation in den Folgejahren unter der wir bis heute leiden.
Und auch heute gilt: Im Gegensatz zu der Euphorie, die der Rat über seine aktuelle Prognose von 1,8 Prozent Wirtschaftswachstum in 2007 verbreitet, sollte man sich auch davon nicht ins Bockshorn jagen lassen.

Nun könnte alle diese Trefferungenauigkeiten noch mit dem alten Joke abtun: Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen. Aber es ist ja weniger die Treffgenauigkeit, die die Anmaßungen dieser „Experten“ in Frage stellt, sondern geht viel mehr darum, dass sie ihr eindimensionales wirtschaftspolitisches Verständnis zum Dogma erheben. Ein Dogma übrigens, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten alles andere als erfolgreich war und es jedenfalls erwiesen ist, das Länder, die dieser Glaubenslehre nicht gefolgt sind – wie etwa die skandinavischen – erheblich besser gefahren sind.

Dass die verkündeten Lehrsätze keineswegs so unfehlbar sind, wie die Mehrheit des Sachverständigenrat der ihr mehrheitlich nachplappernden Medienöffentlichkeit weis machen will, soll nur an einem Beispiel deutlich gemacht werden:

Die Mehrheit der Vertreter der angebotsorientierten Glaubenslehre hält den Mindestlohn für einen „Irrweg“, weil gerade eine weitere Auffächerung der Lohnstruktur – sprich eine Ausdehnung und weitere Senkung der Löhne im Niedrigstlohnsektor – ein „essentieller Bestandteil der Therapie“ sei. „Ein Mindestlohn zur Verhinderung einer weiteren Lohnspreizung steht in diametralem Gegensatz zu den Intentionen eines arbeitnehmerseitigen Kombilohns und ist daher strikt abzulehnen.“ Es gibt also genug Stellen, wenn nur die Arbeitskosten niedrig genug sind, so verkündet das der Rat, wie eine Art Glaubenskongregation.

Doch da gibt es – öffentlich meist ganz unterschlagen – einen Ketzer: Irgendwo, im Gutachten versteckt, taucht „Eine andere Meinung“ auf.
Der Sachverständige Peter Bofinger schreibt unter Ziffer 566 des Gutachtens: „Ein zentraler Unterschied zur Strategie der Mehrheit besteht in der Einschätzung von Mindestlöhnen.
Diese werden von der Mehrheit abgelehnt, da für ihr Konzept eine weitere Absenkung
der Löhne konstitutiv ist. Wenn man verhindern will, dass immer mehr Vollerwerbstätige in den
Status eines Arbeitslosengeld II-Beziehers geraten, bietet es sich an, gleichsam als „Leitplanke“
einen niedrig angesetzten Mindestlohn in Höhe von zum Beispiel 4,50 Euro einzuführen.“
Nun kann man trefflich darüber streiten, ob ein Stundenlohn von 4,50 Euro überhaupt noch als „Mindestlohn“ oder nicht doch besser als „Hungerlohn“ bezeichnet werden sollte, aber immerhin wird der Glaubensatz der Mehrheit mit der Empirie konfrontiert.
Bofinger: „Fast alle empirischen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass von Mindestlöhnen keine nachteiligen Effekte auf die Beschäftigung ausgehen. Dieser Befund gilt auch für die OECD-Studie (OECD, 1998), die von der Mehrheit als Beleg für die nachteiligen Arbeitsmarktwirkungen von Mindestlöhnen angeführt wird.“ (Ziffer 587 nebst Tabelle 49)

Das ist nur ein kleines Beispiel für viele, das erkennen lässt,

  • dass die Mehrheit des Sachverständigenrats sich jenseits realer gesellschaftlicher Interessen bewegt,
  • dass sie häufig fernab von jeglicher Empirie und
  • dass sie ignorant gegenüber allen anderen ökonomischen Theorieansätzen sowie den tatsächlich in anderen Ländern praktizierten (erfolgreichen und stärker nachfrageorientierten) Wirtschaftspolitiken

sich in eine dem betriebswirtschaftlichen Denken folgende angebotsorientierte Zirkelargumentation eingeschanzt hat, die für makroökonomisches Denken keinen Blick mehr hat. Man könnte das an einer Aussage nach der anderen des Mehrheitsvotums durchdeklinieren.

Das Gutachten zeigt

  • in seinem arroganten Tonfall gegenüber demokratischen Prozessen,
  • in der Verweigerung der Anerkennung von politischen und gesellschaftlichen Realitäten,
  • in der fehlenden (wissenschaftlichen) Selbstkritik und Selbstbescheidenheit gegenüber den eigenen früheren Fehlurteilen und
  • in der Erfolglosigkeit der sich immer nur wiederholenden Rezeptur,
  • in der Verweigerung des Blicks auf alternative Wirtschaftspolitiken anderer Länder
    alle Züge eines Sektierertums.

Sektierer sind bekanntlich Fundamentalisten und Fundamentalismus ist – wie wir das gegenwärtig weltweit erleben – eine der größten Gefahren für eine vernunftorientierte Politik.

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