„Blanke Heuchelei“ nennt Müntefering Rüttgers Vorstoß zur Verlängerung des Alg I für ältere Arbeitlose. Wer heuchelt eigentlich mehr?

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„Die SPD-Bundestagsfraktion hat am 14. Juni 2005 beschlossen, die gestaffelte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von bis zu 32 Monaten bis 31. Januar 2008 zu verlängern“, so heißt es in den Willy-Brandt-Haus-Materialien vom 15. Juni [PDF – 24 KB]. Der SPD-Arbeitsmarktexperte Brandner begründete diese Änderung von Hartz IV damit, dass ältere Arbeitslose auf dem angespannten Arbeitsmarkt weiter nur geringe Chancen hätten. Dieser Antrag wurde sogar in den Bundesrat eingebracht und dann auf Druck des damaligen Bundeskanzlers Schröder im Zusammenhang mit dessen Neuwahl-Coup zurückgezogen. Zur Zeit dieses Fraktionsbeschlusses war Franz Müntefering Vorsitzender der SPD-Fraktion. Heute nennt er einen ähnlichen Vorstoß von Rüttgers eine „Sauerei“. Wolfgang Lieb.

„Die Arbeitsmarktlage ist weiter angespannt. Wir haben zwar eine Reihe von Maßnahmen beschlossen, um die Beschäftigung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu fördern, z. B. Lohnkostenzuschüsse und vereinfachte Möglichkeiten befristeter Arbeitsverträge. Doch viele Unternehmen haben diese guten Voraussetzungen nicht angenommen. Die Beschäftigungsaussichten älterer Arbeitsloser sind weiter schwierig. Deshalb haben wir reagiert. Ältere Arbeitslose bekommen also weiter längeres Arbeitslosengeld bis zum 31. Januar 2008.“ So heißt es in der Verlautbarung vom Sommer 2005.

Sind die Beschäftigungsaussichten älterer Arbeitloser nicht weiter schwierig? Hat sich die Zahl der älteren Arbeitslosen in der Zwischenzeit etwa nicht weiter erhöht und sind ihre Beschäftigungsaussichten nicht eher schlechter geworden?
Selbst die Kanzlerin gelangte vor kurzem im Focus (vom 30.10.06) [PDF – 24 KB] zu der Einsicht: “Wo es keine Arbeitsplätze gibt – zum Beispiel in Vorpommern, wo ich herkomme, mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit -, da kann man den Menschen nicht vorwerfen, dass sie keine Arbeit finden.”

Dennoch: Der Arbeitsminister zeigt sich, weil er mit dem Rüttgers-Vorstoß an seine früheren Positionen erinnert wird, trotzig und höchst erzürnt und schießt „knallhart“ zurück: Eine „blanke Heuchelei“, ja eine „Sauerei“ sei das, was Rüttgers vorschlage und er macht die Kanzlerin gleich mit dafür verantwortlich. Und die SPD-Fraktion applaudiert.

Rüttgers wolle die Arbeitslosenversicherung von einer Risikoversicherung zu einer Anwartsversicherung umgestalten, kritisierte der Arbeitsminister. “Das geht nicht.”

Dass alle Versicherten im Fall der Arbeitslosigkeit Anspruch auf vergleichbare Leistungen haben, diesem Einwand hat aber selbst die Kanzlerin widersprochen: Schon heute gebe es „viele Beispiele“, die „nicht der reinen Ordnungspolitik“ entsprächen, betonte sie. Dazu zähle, dass Arbeitslose über 55 auch im heutigen System Anspruch auf 18 statt zwölf Monate Arbeitslosengeld hätten, wird sie im Handelsblatt zitiert.

Und wo sie Recht hat, hat sie Recht: „Es gibt keine überzeugende Begründung dafür, dass nicht auch z.B. über 50-jährige Arbeitslose mehr als zwölf Monate lang Arbeitslosengeld erhalten können wie dies für die über 55-Jährigen mit 18 Monaten Bezugsdauer möglich ist. Wieso müssen eigentlich 18 Monate die höchstmögliche Bezugsdauer für ALG I sein?“ Meint die ehemalige DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer.

Warum darf aber für die SPD im Herbst 2006 nicht mehr richtig sein, was im Frühsommer 2005 ihr damaliger Vorsitzender Müntefering für richtig gehalten hat?

Mit geradezu entwaffnender Offenheit hat der neue SPD-Vorsitzende Kurt Beck darauf die Antwort gegeben: Die Finanzierung einer längeren Bezugsdauer für ältere Arbeitslose sei noch nicht einmal das größte Problem. Nein, das wirkliche Problem sei: Wer das „Schleusentor“ an dieser Stelle wieder öffne, werde es kaum noch schließen können, erklärte Beck auf dem Arbeitgeberkongress unter dem Beifall von 1.500 Arbeitgebervertretern.

Das ist also die Angst von Müntefering und der SPD-Oberen, sie haben panische Angst, dass damit die gesamte „Arbeitsmarktreform“ und vor allem Hartz IV komplett ins Rutschen kommt.

Dass das Hartz-Dogma des „Förderns und Forderns“ gescheitert ist, weil in der bitteren Realität die Arbeitsplatzangebote zumal für ältere Arbeitslose fehlen, darf die SPD nicht eingestehen, sonst müsste sie ja das Scheitern der Hartz-Reformen, ja der gesamten Agenda-Politik der Schröder-Regierung eingestehen.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, muss schon jeder Versuch einer Lockerung der Hartz-Gesetze schon in den Anfängen „knallhart“ abgeblockt werden.

Rüttgers heuchelt, weil er mit seinem populären, nach Umfragen von 82 Prozent der Bevölkerung unterstützten Vorschlag nur die halbe Wahrheit sagt, nämlich dass er den jüngeren Arbeitslosen wegnehmen will, was er den älteren als kleine Verbesserung zugestehen will.
Ist es aber nicht eine noch viel größere Heuchelei, wenn Müntefering und Beck, um das Scheitern der Agenda-Politik nicht eingestehen und endlich einen Kurswechsel vorzunehmen zu müssen, sich nicht mehr an das erinnern lassen wollen, was sie vor nur einem Jahr und 5 Monaten selbst für notwendig gehalten haben?