Ohne politisch gewollte Korrekturen lässt man den Wolf in den Schafstall – die tieferen Gründe der Nein-Sager

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Bericht über einen Artikel von Daniel Cohen, Wirtschaftsprofessor an den beiden Pariser Universitäten École Normale Supérieure und Paris-I-Panthéon, in der französischen Tageszeitung Le Monde vom 03.05.2005.

Alte Debatten über die europäische Verfassung wiederholen sich zurzeit. Diejenigen, die die vorgeschlagene Verfassung in ihrer aktuellen Form ablehnen, halten insbesondere deren Teil III für eine zu neoliberale Festlegung Europas für die Zukunft, die nicht so schnell oder überhaupt nicht wieder korrigiert werden kann. Die Befürworter der Verfassung argumentieren dagegen, dieser Teil III wiederhole lediglich Teile des alten EU-Vertrags, die bei Vertragsablehnung sowieso fortbestehen werden.
Daniel Cohn-Bendit fasst dieses Ja-Argument wie folgt zusammen:
„In Wahrheit bedeutet die Ablehnung der vorgeschlagenen Verfassung gleichzeitig die Billigung des Vertrages von Nizza, durch den uneingeschränkter Freihandel garantiert ist“. Obwohl diese Antwort rein technisch nicht zu beanstanden ist, können sich die Nein-Sager damit nicht zufrieden geben. Sind etwa in der Vergangenheit EU-Regelungen beschlossen worden, die sich als schlimmes Ergebnis herausgestellt haben, das selbst die Ja-Sager heute so sehen?

Warum kann heute in Frankreich kein Politiker mehr diesen Teil III offensiv vertreten, der doch ein Erbstück aller bisherigen EU-Verträge von Rom bis Amsterdam ist? Eine Antwort muss an den ursprünglichen Wurzeln der europäischen Einigung ansetzen. In der Epoche der Teilung der Welt in zwei Machtblöcke war der Bezug auf den Markt noch ein allgemein als positiv anerkanntes Element der europäischen Einigung. Guy Debord meinte damals, das neue Europa muss sich negativ so definieren, wie es nicht sein will.

Mit dem Fall der Berliner Mauer änderte sich die Welt grundlegend, die Angst vor einem Sozialismus sowjetischer Spielart war verschwunden. Es begann eine zweite Phase der europäischen Einigung mit der Integration der osteuropäischen Länder in die EU. Doch schon während der Debatte über die EU-Ost-Erweiterung schürte die forcierte Globalisierung gleichzeitig neue Ängste. Unabhängig von diesen Ängsten, verstärkt durch die ersten innereuropäischen Delokalisierungen, muss heute klar festgestellt werden, dass die EU-Ost-Erweiterung der bisher nicht hinterfragten Marktdynamik eine neue Qualität gegeben hat. Die „Direktive Bolkestein“ zeigt anschaulich, wie eine Maßnahme, die im Europa der 15 vielleicht noch ohne größere Begleitschäden hätte „verdaut“ werden können, im Europa der 25 oder 27 zu einem problematischen Sprengsatz werden kann. Mit einer Erweiterung in diesem Umfang bekommt die EU insgesamt ein neues Gesicht und eine ganz neue innere Qualität, die allerdings erst langsam wahrgenommen wird. An Stelle des alten Hauses Europa, das Schutz bot und für das noch mit der Einführung des Euro überzeugend geworben werden konnte, tritt jetzt eine wesentlich vergrößerte europäische Gemeinschaft, die offensichtlich dabei ist, dem Wolf Eintritt in den Schafstall zu gewähren! Man kann natürlich immer noch die alten Argumente dafür vorbringen, dass die Erweiterungsstrategie am Ende doch allen nützen wird.

Aber: dann muss diese Erweiterung von Problem entschärfenden, politischen Maßnahmen und von entsprechendem Verhalten der politischen Akteure der Kommission begleitet werden, die dieser neuen Qualität des Erweiterungsprozesses gerecht werden und ihn für alle akzeptabel machen! Der Fall der Berliner Mauer belebte auch die alten Debatten über Segen und Mängel des Kapitalismus wieder. Der völlig deregulierte Markt als angebliches ökonomisches Allheilmittel aller gesellschaftlichen Probleme wird nicht nur vom Durchschnitts-Franzosen oder der Linken in Frage gestellt. Trotz Lionel Jospins Spruch vom „Ja zur Marktwirtschaft, aber nein zur Marktgesellschaft“, sind heute nur noch wenige Franzosen davon überzeugt, dass mit freien Märkten auch eine freiheitliche Gesellschaft möglich ist, die den Namen „human“ wirklich verdient. In der Nachfolge von Marc Bloch unterscheidet der Soziologe Philippe d’Iribane drei unterschiedliche Konzeptionen „gesellschaftlicher Freiheit“ in Europa:

  1. Die englische, auf John Locke zurück gehende Konzeption, nach der der Mensch gesellschaftlich frei lebt, wenn er in keinem unbezahlten Diener- oder Sklavenverhältnis steht. Im Zentrum dieses „Freiheits“-Konzepts steht die Ökonomie der freien Märkte, inklusive dem sogenannten „Arbeitsmarkt“ (weil in Großbritannien seit der „glorious revolution“ schon Grundrechte wie der habeas-corpus-act, Rechtsgleichheit und die Unabhängigkeit der Justiz realisiert waren).
  2. Die zweite, die französische Konzeption sieht Freiheit dann als gegeben an, wenn die Menschen niemandem untertan sind und in Würde miteinander umgehen können. Diese Würde hat etwa der Arbeiter, der im Bewusstsein erkämpfter Menschen- und Staatsbürgerrechte und gelebter Klassensolidarität dem Unternehmer auf gleicher Augenhöhe gegenübertreten kann.
  3. Das dritte, nach dem zweiten Weltkrieg entwickelte deutsche Konzept verbindet mit Freiheit, dass der Mensch ohne Einschränkungen am gesellschaftlichen Gemeinschaftsleben teilnehmen, sich dort einbringen kann und als gleichwertig akzeptiert wird (Habermas). Die Logik dieser drei Konzepte schließt sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzt sich, weil jedes der drei Konzepte einer der drei republikanischen Tugenden zugeordnet werden kann: das englische Konzept steht für die gesellschaftlich-wirtschaftliche Freiheit, das französische Konzept verkörpert schwerpunktmäßig das Ziel nicht nur rechtlicher, auch gesellschaftlicher Gleichheit/Gleichwertigkeit/Gleichberechtigung und das deutsche Konzept betont den Brüderlichkeitsaspekt. Alle drei europäischen Nationen haben unter Bezug auf ihre eigene Konzeption ihre spezifische Politik und als deren Ergebnis ihre gesellschaftlichen Traditionen und Rechtssysteme entwickelt. Daher gibt es auch sehr unterschiedliche Blickwinkel, von denen aus die Arbeit der EU-Kommission gesehen wird:
    Engländer etwa sehen in der Brüsseler Kommission hauptsächlich Bürokraten am Werk, Franzosen eher radikale Liberale. Franzosen wollen daher in Brüssel eher regulierende Maßnahmen durchsetzen, Engländer solche Maßnahmen erst dann, wenn sich tatsächlich offensichtliche Mängel ergeben, die abgestellt gehören – allerdings erst im Nachhinein. Die Kommission versucht in ihrer praktischen Arbeit beide Modelle miteinander zu verbinden. So verhindert die EU-Wettbewerbspolitik schon präventiv Monopolbildungen (allerdings auch ad-hoc-Staatshilfen an Unternehmen). Die von Iribarne beschriebenen Unterschiede der europäischen Konzeptionen machen verständlich, warum sich die Franzosen mit den Fortschritten im europäischen Einigungsprozess schwerer tun als Deutsche oder Engländer – weil nämlich der Kampf für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt und gegen eine weitere Verschärfung der Ungleichheiten nicht auf europäischer Ebene geführt wird, sondern Aufgabe der jeweils nationalen Politik geblieben ist.
    An diesem Punkt kann zur Debatte über die europäische Verfassung zurückgekehrt werden. Solange die Verfechter eines „Ja“ zur Verfassung ihre Argumentation darauf beschränken, den Leuten klar machen zu wollen, dass mit dem „Ja“ das französische Gleichheits-Modell auf europäische Ebene übertragen wird, werden sie in Frankreich niemand überzeugen können. Wenn die Ja-Sager glaubwürdig bleiben wollen, müssen sie den Leuten auch sagen, unter welchen Bedingungen die Erweiterung der EU und die Ausgestaltung des erweiterten, gemeinsamen Marktes vonstatten gehen soll. Nur wenn verbindlich er- und geklärt wird, wie ein politisch gewolltes Gleichgewicht unterschiedlicher Werte konkret aussehen soll, kann auch überzeugend dargelegt werden, dass die geplante EU-Verfassung nicht einfach einen Ist-Zustand festschreibt. Nur mit diesen politischen Klarstellungen kann einigermaßen glaubwürdig erklärt werden, dass diese EU-Verfassung nicht per se die Zukunft verbaut, sondern auch Möglichkeiten bietet, die Zukunft kreativ zu gestalten – weil, wie Habermas meint, „ein jeder weiß, dass politische Verfassungen die Geburtshelfer von Nationen sind“.