Brief von Uli Maurer an den SPD-Vorstand

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Wir dokumentieren einen interessanten Brief des ehemaligen Fraktionsvorsitzenden der baden-württembergischen SPD und Vorstandsmitglied Ulrich Maurer.

Liebe Genossinnen, liebe Genossen,

ich schreibe Euch diesen Brief in Wut und Verzweiflung. Da ich viele von Euch aus meiner langjährigen Mitgliedschaft der SPD persönlich gut kenne, vermag ich mir nicht vorzustellen, wie ihr tolerierend verantworten könnt, was derzeit mit der sozialdemokratischen Partei Deutschlands geschieht.

So sieht es also aus: der „heroische“ Abgang eines Kanzlers und „Parteiführers“, der erst sich selbst und dann seinen Willen der deutschen Sozialdemokratie aufgezwungen hat und sie nun ein letztes Mal vergewaltigt. Was für eine Bilanz: Fast alle Länder an die Union verloren, 40 % der Wählerschaft von 1998 ins Abseits getrieben, ein Viertel der Mitglieder verloren.

Die Konsequenz: Nicht die Spur von Selbstkritik, keine Übernahme von Verantwortung, kein Gedanke an den eigentlich selbstverständlichen Rücktritt, keine Korrektur der politischen Linie. Nein, weiter so mit der Agenda 2010: Für die Partei in die Niederlage und für ihre Verführer in die saturierte 3. Lebensphase. Das Ganze als zweiter Putsch von oben.

Und Ihr, die Ihr als gewählte Führung die demokratische Substanz dieser Partei verteidigen müsstet, lasst zu, dass aus der ältesten und größten demokratischen Partei Deutschlands ein billiges Gefolgschaftsverhältnis geworden ist.

Es gibt keine Ewigkeitsgarantie für die Volksparteien und schon gar nicht für solche, die die Teile des Volkes, die sie am dringendsten brauchen nicht mehr vertreten.

Wer vertritt die Kassiererin bei Aldi und Lidl, wer vertritt die Ungelernten, wer vertritt die „falsch“ qualifizierten Akademikerinnen, wer vertritt die 800 € Rentner, wer vertritt die Empfänger sinkender Reallöhne, wer vertritt die Arbeitslosen, die am Ende ihres Berufslebens um ihre Beiträge betrogen werden, wer vertritt die Kinder ohne Markenklamotten? Die derzeitige Antwort in dieser Republik heißt: Niemand vertritt sie und folgerichtig wählen sie auch niemand. Noch folgen sie auch keinem falschen Propheten, noch werden sie nur geringfügig gewalttätiger, noch lassen sie sich einreden, selbst Schuld zu sein, weil sie die „ungeheuren“ Chancen ihrer „ungeheuren“ Freiheit nicht genutzt haben. Noch werden sie depressiv statt wütend, noch lassen sie sich von rot/grün und rot/schwarz und schwarz/rot und schwarz/gelb und bald schwarz/grün verwalten. Noch ertragen sie die Selbstbedienung der Machteliten, noch lauschen sie deren gegenseitigen Bezichtigungen, wer die größten Raub- und Spesenritter in den eigenen Reihen hat. Noch hören sie sich an, dass es der Lauf der globalisierten Welt sei, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, noch hören sie sich an, dass sie zu unproduktiv sind beim Arbeiten und beim Kinder in die Welt setzen.

Doch dieser Tage wurde Ihnen mitgeteilt, dass profitgierige Heuschrecken das Land überfallen haben. Manche haben vielleicht erstaunt aufgehorcht und die waren dann noch erstaunter, dass angesichts dieser Plage die Agenda 2010 richtig, Hartz IV richtig, die Senkung der Spitzensteuersätze richtig, die nochmalige Senkung der Unternehmenssteuer notwendig, die Zulassung der Hedge Fonds auch notwendig, der Fortbestand von Clement und Eicher überlebenswendig sei und der 4 mal angekündigte Aufschwung sie im 5. Jahr von allem Elend erlösen werde.

Was soll das Franz Müntefering?

Glaubst Du, dass Du die Zeit hast, über eine Grundsatzprogrammdebatte die Partei auf eine Oppositionszeit vorzubereiten, in der dann plötzlich wieder alles gilt, was jetzt sieben Jahre lang nicht gegolten hat. Und das im Schatten eines Kanzlers, dem Du ein so treuer Diener warst und bist. Oder bist Du am Ende ein so platter Stratege, dass Du glaubst, man kann Wahlen gewinnen, indem mal links blickt und rechts weiterfährt.

Glaubt Ihr, man kann eine Summe von Fehlentscheidungen aus neoliberalem Geiste treffen und permanent rechtfertigen und dann einen Wahlkampf gegen die bösen Marktliberalen von schwarz und gelb führen.

Ist das alles gerechtfertigt, weil rot/grün halt doch noch das kleinere Übel ist? Wer zum Teufel soll sich für ein kleines Übel begeistern?

Und wer ist eigentlich das kleinere Übel? In der Aussenpolitik sind wir es erkennbar. Wir intervenierten zwar auch weltweit aber nur ein bisschen. Und wir machen nicht immer das, was die USA wollen.

In der Umweltfrage erkennbar: Wir haben 2 Reaktoren abgeschaltet und fördern Wind und Sonne.

Aber sonst: Dieser Tage lesen die staunenden Menschen, das Hans Eichel noch mal die Unternehmenssteuern senkt und der bayerische Ministerpräsident lehnt ab, weil das Vorhaben zum Teil nicht gegenfinanziert ist, und Hans Eichel will die Erbschaftssteuer für Unternehmensnachfolger abschaffen und die CSU verlangt die Gegenfinanzierung durch die höhere Besteuerung der Dividenden.

Rot/grün hat die Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen durchgesetzt und bekämpft jetzt verbal die Heuschrecken, die davon angelockt wurden. Und wer hat eigentlich das so genannte Finanzmarktförderungsgesetz gemacht?

Nein: In der Wirtschaftspolitik hat rot/grün alle Wünsche des großen Geldes erfüllt und manchmal sogar noch übertroffen.

Und in der Sozialpolitik? Ich rate Euch zu einem kurzen Traum. Träumt, CDU/CSU hätten Hartz IV gemacht und die Praxisgebühr eingeführt und die Renten gesenkt und die Reallöhne gekürzt, indem sie die Kosten der Krankenversicherung von den Arbeitgebern auf die Arbeitnehmer überwälzt hätten.
Hei, hätten da die roten Fahnen auf dem Parteitag geweht und Gerhard Schröder hätte für den Fall des Wahlsiegs die Abschaffung all dessen angekündigt, was er jetzt selbst eingeführt und mit Rücktritts-Drohungen durchgesetzt hat. Und Oscar Lafontaine wäre neben ihm gestanden und hätte sich eingeredet, dass der Gerhard das schon alles Ernst meint. Und die Netzwerker hätten rote Netze gewebt, weil man so ganz schnell Abgeordneter und Staatssekretär geworden wäre. Was für ein Traum.

Glaubt ihr im Ernst, das ach so dumme Volk weiß das nicht? Warum soll es Leute wählen, die zu jeder Wendung fähig sind, um an die Macht zu gelangen und zu jeder Unterwerfung bereit, um von den wirklich Mächtigen wohl gelitten zu sein?

Wer hat Euch erlaubt, alle intellektuelle Kompetenz außer der im Umgang mit den Medien abzugeben und die von der Verfassung vorgeschriebene Arbeit des Parlaments an die Beratungsindustrie zu delegieren.

Wer hat Euch erlaubt, Euch dem Meinungsmonopol des Neoliberalismus zu unterwerfen und das Land bei explodierenden Gewinnen der Exportindustrie in die Deflation zu führen? Wie kann man glauben, mit sinkender Kaufkraft, sinkender Binnennachfrage und damit steigender Arbeitslosigkeit die Staatsverschuldung abzubauen und Maastricht-Kriterien erfüllen zu können.

Wie kann man glauben, ein Volk zur Nachfrage zu animieren, indem man ihm jede Woche zweimal den angeblich demographisch begründeten Zusammenbruch der Alterssicherung ausmalt.

Ökonomismus ist an sich schon schlimm genug, eine Sozialdemokratie die die Unterordnung aller gesellschaftlicher Bezüge und aller Werte unter das globalisierte Kapitalverwertungsinteresse als notwendigen Anpassungsprozess deklariert, ist ein Horror.

Und eine Regierung, die den Ökonomismus sogar noch auf die Gewinninteressen der Exportindustrie und der Versicherungswirtschaft reduziert, das hätte vor einigen Jahren noch selbst mein Vorstellungsvermögen gesprengt.

An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen heißt es in der Heiligen Schrift.

Also: Nach fünf Jahren Unterwerfung unter die Dogmen des Neoliberalismus sind die Reichen reicher, die Armen ärmer, die Alten mehr, die Kinder weniger geworden. Die Arbeitslosigkeit ist auf Rekordniveau, die Staatsfinanzen ruiniert und hunderttausend kleiner mittelständischer Existenzen vernichtet.

Das alles soll jetzt durch ein bisschen Heuschrecken-Gezeter und Ackermann-Beschimpfung getüncht werden?
Erinnert Ihr Euch noch an die Ehrenerklärungen von Clement und Eichel für Herrn Ackermann beim Düsseldorfer Prozess?

Nein, so billig war die Absolution letztmals zu Zeiten von Tetzel und Luther zu erlangen.

Wer Glaubwürdigkeit erwerben will, muss die eigenen Fehler eingestehen und korrigieren. Und wer dazu nicht bereit ist, muss gehen.

Wenn die SPD überleben will, muss sie umkehren und der Beginn von Umkehr ist die ehrliche Bilanz und die Abwahl derer, die eine ganze Partei dem Denken des Neoliberalismus und der uniformierten Meinung des größten Teils der Medienindustrie unterworfen haben, weil man ja wie Gerhard Schröder so treffend bemerkte, zum regieren nur Bild und die Glotze braucht.

Wenn die SPD nicht überleben will, muss sie nur der Parole „Weiter so“ folgen. Für die derzeit handelnden Personen ist das kein Problem: Die deutsche Wirtschaft wird sich ihrer annehmen. Sie hat ja schon damit begonnen. Die gesellschaftlichen Folgen aber werden groß sein: Denn der Gegensatz zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, zwischen Macht und Ohnmacht bleibt. Wenn die Sozialdemokratie den sozialen Protest nicht mehr formuliert und die Abhängigen nicht mehr verteidigt, ist sie historisch obsolet. Es gibt keinen Bedarf für vier neoliberale Parteien in Deutschland. Wie gemäßigt fortschrittlich getüncht oder grün angestrichen sie auch sein mögen. Die Wut der Verlierer wird ihr Ventil suchen und finden bei braunen Rattenfängern oder in Selbstzerstörung und Gewalttätigkeit.

Wer das nicht will, muss die SPD zur Kursänderung zwingen, oder sie aufgeben und ersetzen.

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