Kranke Menschen oder kranke Gesellschaft?

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Seit Langem wird das „Thema ADHS“ kontrovers diskutiert. Werden immer mehr Kinder in unserem Land „einfach krank“? Warum? Und was hat es damit auf sich, dass selbst der „Erfinder“ von ADHS, der amerikanische Psychiater Leon Eisenberg, auf dem Sterbebett nicht mehr an seine eigene Schöpfung glaubte, sondern diese als „ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung“ bezeichnet hat? Jens Wernicke sprach hierzu mit Dieter Mattner, Professor für Heil- und Sonderpädagogik im Ruhestand, der seit Längerem zum Thema arbeitet und forscht.

Herr Mattner, immer mehr Kindern wird ein so genanntes ADHS, ein Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom, diagnostiziert. Werden unsere Kinder immer kränker?

Tatsächlich steigt die Anzahl der ADHS-Diagnosen von Jahr zu Jahr kontinuierlich an. Auffällig dabei ist jedoch, dass, wie empirische Untersuchungen belegen, diese Diagnose in Verbindung mit der Behandlung des hochproblematischen Medikamentes Ritalin vermehrt bei Schuleintritt gestellt wird. Die Diagnose selbst geht dabei hypothetisch von einer hirnorganischen Wahrnehmungsverarbeitungsinsuffizienz betroffener Kinder aus, die sich bisher mit harten Fakten jedoch nicht hat belegen lassen. Das heißt, die Diagnose gründet im Sinne einer Summationsdiagnose, als so genanntes Syndrom also, primär auf Verhaltensbeobachtungen und Fragebögen, die aufgrund subjektiver Wertmaßstäbe der dazu legitimierten Personen wohl kaum objektiven Gütekriterien genügen. Insofern scheiden sich hier die Geister in der Einschätzung dieser anscheinend epidemisch um sich greifende „Krankheit“ ADHS, was seitens der jeweiligen Positionen inzwischen auch mit zunehmender Schärfe diskutiert wird.

Wie meinen Sie das, kontrovers diskutiert? Welche Positionen stehen sich denn gegenüber?

Diese so genannte Krankheit ADHS führte mittlerweile zu einer der größten Kontroversen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie überhaupt. So wird von einem Großteil der Seite der Befürworter dieses Konzepts allenthalben betont, die wahren Ausmaße dieser Krankheit seien – besonders im so genannten „Zwischenbereich zwischen Normalität und Erkrankung“ – noch längst nicht diagnostisch erfasst. Hier gäbe es noch eine hohe „Dunkelziffer“. Auf der Gegenseite mehren sich jedoch die warnenden Stimmen, die von einer „Krankheitskonstruktion“ bzw. einem „Krankheitsmythos“ sprechen und insbesondere auf die bisher unerforschten möglichen Nebenwirkungen von Ritalin auf das sich entwickelnde kindliche Gehirn hinweisen.

Die „Kontroverse ADHS“ vollzieht sich zudem in einer Zeit, in der recht allgemein immer mehr Kinder eine „Störung“ oder „Krankheit“ testiert wird, exemplarisch seien hier nur Legasthenie und Dyskalkulie genannt. In einem Appell wurde daher unlängst sogar im Ärzteblatt selbst vor einer “zunehmenden Pathologisierung und Psychiatrisierung der Kinder” gewarnt. Hierbei wird dann auch der Kern des Problems sofort deutlich. Er betrifft die Frage: Sind es wirklich unsere Kinder, die hier krank, in organischem Sinne also beeinträchtigt sind, oder sind es nicht vielmehr gesellschaftliche Norm- und Leistungsansprüche, denen Kinder immer weniger gewachsen sind?

Womit wir sehr unmittelbar bei Ihrer persönlichen Einschätzung angelangt sind. Die Frage lautet also: „Kranke Kinder oder kranke Gesellschaft?“, verstehe ich recht?

Nun, nach meiner Einschätzung müssen hier grundlegend verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. So scheint in Zeiten um sich greifender medizisch-psychiatrischer Krankheitskonstruktionen ein bisher selbstverständlich gelebtes Normalitätsempfinden schlicht mehr und mehr verloren zu gehen, wie auch der ehemalige Mitautor des amerikanisches Handbuchs zur Klassifizierung psychischer Störungen (DSM), Allen Frances, in seinem kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ konstatiert.

Gemäß dieser Tendenz sind Kinder heute eben nicht mehr einfach schlecht in Mathematik oder in Deutsch, sondern sie leiden tendenziell an der bereits erwähnten „Dyskalkulie“ oder eben einer „Legasthenie“ mit der Vermutung einer wie auch immer gearteten zugrundeliegenden cerebralen Fehlfunktion. Nach diesem neuropathologischen Erklärungsmuster wird kindlicher Ungehorsam dann zum „oppositionellen Trotzverhalten“ und wird Schuleschwänzen zum „Eskapismus“ umetikettiert. Das Entscheidende dabei ist, dass das „erkrankte“ Kind und sein soziales Umfeld, Eltern, Schule und andere also, der Verantwortung für das auftretende Problem damit ganz grundsätzlich enthoben sind…

Wäre das Kind einfach nur „schlecht“, stünde beispielsweise die Frage nach den Bedingungen, die hierzu führen, jene etwa nach gutem oder schlechtem Unterricht, sofort im Raum. Anders verhält es sich jedoch, wenn das Kind unter einem testierten organisch-neuronalen Defekt leidet. Die Frage danach, was die individuelle Ursache dieses gegen die institutionellen Normalitätserwartungen verstoßenden kindlichen „Eigen-Sinns“ sein könnte, stellt sich nicht mehr. So wurde sukzessive aus einem ehemaligen pädagogisch-sozialen Problem ein medizinisch-psychiatrischer Sachverhalt, der pharmazeutischer Intervention bedarf.


Prof. Gerald Hüther: ADHS ist keine Störung

Wenn die Kinder aber nicht krank sein sollen – woran oder worunter „leiden“ sie denn dann? Warum sind sie sozusagen „so anders“ als die anderen?

Zunächst möchte ich voranstellen, dass es, selbst wenn auch dies nicht eindeutig zu diagnostizieren ist, natürlich durchaus Kinder auch geben kann, deren auffälliges Verhalten auf hirnorganische Störungen zurückzuführen ist. Das allerdings nur dann, wenn diese Auffälligkeiten von Geburt an – und eben nicht erst ab Schul- beziehungsweise Vorschuleintritt – situationsunabhängig und persistierend auftreten. Da dies jedoch, wie ein österreichischer Kinder- und Jugendpsychiater einmal betonte, lediglich im Promillebereich der Fall ist, muss man wohl davon ausgehen, dass die überwiegende Mehrzahl von mit ADHS diagnostizierten Kindern und Jugendlicher wohl kaum an einer ADHS-Erkrankung leidet. Ihr Vergehen besteht vielmehr darin, dass sie nicht bereit sind oder bereit sein können, den institutionellen Normalitäts- und Leistungserwartungen zu entsprechen.

Wenn das aber der Fall ist, müsste statt der Suche nach den Krankheitsursachen das jeweilige Kind im Sinne des Fallverstehens im Fokus des Interesses sowie im Vordergrund stehen. Das heißt, nicht die Frage nach irgendwelchen organischen Beeinträchtigungen sollte von primärem Interesse sein, sondern es sollte darum gehen, zu fragen, warum dieses eine, ganz konkrete Kind in welchen Lebenssituationen so ist, wie es ist, und was es mit seinem So-Sein bedeutungsvoll mitzuteilen versucht. Das so genannte Symptom hat hier nämlich vor allem die Bedeutung einer Selbstmitteilung des betroffenen Kindes, die in ihrer impliziten Bedeutsamkeit auch verstanden werden muss. Dieser hermeneutische Zugang zum jeweiligen Verhaltensphänomen unterscheidet sich gegenüber der defektorientierten, monokausalen Blickreduzierung dadurch, dass hier ein so genanntes Symptom, beispielsweise also eine Aufmerksamkeitsschwäche, nicht als Krankheitssymptom des Symptomkatalogs einer Krankheitskonstruktion wie etwa ADHS zugeordnet wird, sondern dass stattdessen nach der impliziten Bedeutsamkeit sowie möglichen psychosozialen Ursachen des individuellen Problems gefragt wird.

Lassen Sie es mich ein wenig platt ausdrücken und Ihre Frage wie folgt beantworten: Wenn ich mich nicht konzentrieren kann, muss ich nicht krank, sondern kann ebenso auch müde oder gelangweilt sein. Wenn ich nervös bin, muss dies nicht für eine Krankheit, sondern kann dies beispielsweise ebenso gut als Ausdruck von Verunsicherung, von Bedürfnissen nach mehr Nähe und Geborgenheit und anderem interpretiert werden. Mit ziemlicher Sicherheit sind derlei Deutungen dabei näher an der Realität dran als der Krankheitsblick. Vor allem aber sind sie näher an den Kindern, um die es ja zu allererst einmal gehen sollte, und ihren Bedürfnissen dran.

Aber es sieht doch so aus, als hätten immer mehr Kinder „Probleme“ im skizzierten Sinne. Wieso sind es immer mehr, immer mehr, die offenbar „anders“ sind als die Norm dies vorsieht?

Möglicherweise schlicht deshalb, weil die Lebensumstände der Kinder im Lande sich zunehmend verändert haben und immer weiter verändern, wobei die Engführung des ADHS-Konzeptes gegenüber älteren Erklärungsmodellen wie beispielsweise der Minimalen Cerebralen Dysfunktion oder dem Hyperkinetischen Syndrom zugleich auch noch all jene Kinder in die psycho-pathologische Blickperspektive genommen hat, die sich einfach nur zurückhaltend-unauffällig, als „Träumer“ also etwa, gerieren. Die mit ADHS diagnostizierten Kinder verweisen möglicherweise einfach symptomatisch auf die besondere Situation von „Kindheit heute“. Damit verbunden ist eine Kindheit im psychosozialen Veränderungsprozess der Post-Moderne. Stichworte wie „Medienkindheit“, „institutionelle Kindheit“ und das „Verschwinden der Kindheit“ mögen hier einen Hinweis geben.

Hinzu kommt, dass der Schule neben der Wissensvermittlung zunehmend ein Erziehungsauftrag zukommt, den diese aus den unterschiedlichen Gründen nicht umfassend zu leisten vermag. Für vermeintlich „normale“ Kinder, die allen Widrigkeiten zum Trotz dennoch keine oder kaum Probleme entwickeln, hat man inzwischen übrigens den Begriff „Resilienz“ erfunden. Dieser beschreibt die vermutete genetische Fähigkeit, trotz belastender Faktoren in der Lebenswelt Betroffener, den Verhaltens- und Leistungserfordernissen der Umwelt dennoch gewachsen zu sein. Auch das aber lenkt den Fokus wieder auf die weniger interessante Spur: Statt genetische Gründe zu erforschen, warum eine Minderzahl von Kindern noch immer „problemarm“ aufwächst, sollte die Frage danach, was pädagogisch und sozial für all die anderen getan werden kann und muss, im Vordergrund stehen.

Und wie ist das mit der Aufmerksamkeit? Ich bin sehr wohl der Meinung, dass, wer sich nie wirklich konzentrieren kann, etwas „Krankhaftes“ hat…

Bei der Betrachtung des Phänomens Aufmerksamkeit müssen wir zuerst einmal grundsätzlich zwischen einer interessegeleiteten Aufmerksamkeit der Alltagswelt, bei der uns Dinge und Situationen wirklich „auf-merken“ lassen und interessieren, und einer anderen Form der Aufmerksamkeit unterscheiden. Aufmerksamkeit ist in diesem Falle dann sehr wohl als „natürliche Eigenschaft“, sich in der Welt zurechtzufinden und sich ihr mit Interesse zuzuwenden, zu betrachten. In Bezug auf diese würde wohl auch kaum jemand von Erkrankung sprechen, wenn diese Aufmerksamkeit durch eintretende Müdigkeit oder etwas, das einem spontan in den Sinn kommt und jemand daran hindert, sich zu konzentrieren, nicht zum Zuge kommen kann.

Um etwas ganz anderes handelt es sich hingegen bei der im ADHS-Konzept gemeinten normierten, gewissermaßen zivilisatorisch herzustellenden Aufmerksamkeitsleistung, deren zeitlich-räumliche Bereitstellung in bestimmten sozialen Arrangements, also etwa in Schule oder Beruf, zur Leistungsbeurteilung herangezogen wird. Diese institutionell gefordert Aufmerksamkeit hat insbesondere die Schule als sekundäre Sozialisationsinstanz seitens ihrer Klientel überhaupt erst herzustellen. Das ist eine ihrer wesentlichen Aufgaben. Dabei obliegt es dann der jeweiligen Lehrerpersönlichkeit, mittels entsprechender motivationaler und methodischer Kniffe die curricularen Inhalte den ihr anvertrauten Schülerinnen und Schülern möglichst kindgerecht näher zu bringen. Dies gelingt offenbar nicht immer, was absolut verständlich ist – um das Kind selbst und seine Interessen geht es hierbei ja auch allerhöchstens mittelbar.

Und das Ritalin … hilft bei der Herstellung besserer Aufmerksamkeit?

Im Sinne der Logik des ADHS-Konzeptes liegt es nahe, das von der Normalitätserwartung abweichende Verhalten betroffener Kinder lediglich monokausal zu erfassen, womit sich eine medikamentöse Behandlung geradezu aufzudrängen scheint, um über die propagierte pharmakologische Korrektur einen wünschenswerten,, „adäquaten“ Verhaltenszustand zu errei­chen.

Insofern ist es eine logische Schlussfolgerung, dass die medikamentöse Behandlung zur Steuerung kindlichen Verhaltens heute eine immer breitere Anwendung findet. So wurde schon im Jahre 2010 mit größter Besorgnis darauf hingewiesen, dass die Verschreibung von Methylphenidat, also Ritalin, durch von 34 Kilogramm im Jahre 1993 auf 1.760 Kilogramm angestiegen sei, und dies trotz allseits bekannter hochproblematischer Nebenwirkungen.

Was für Nebenwirkungen denn?

Da gibt es vor allem Ein- und Durchschlafprobleme, was bedeutet, dass die Kinder zum Schlafen gewissermaßen medikamentös heruntergefahren werden müssen, um sie morgens dann wieder hochzufahren. Dann Beeinträchtigungen des Längenwachstums, mögliche spätere parkinsonartike Erkrankungen sowie teilweise schwere psychiatrische Erkrankungen wie Psychosen und anderes.

Und was der eigentliche Skandal ist: Die langfristigen Auswirkungen dieses Amphetaminderivates Methylphenidat, das mit Kokain beziehungsweise Pervitin, welches Soldaten gern in kriegerischen Auseinandersetzungen verabreicht wird, verwandt ist und unmittelbar auf das sich im Entwicklungsprozess befindliche kindliche Gehirn einwirkt, sind trotz 60jähriger Karriere und ungebremster Anwendung bislang überhaupt nicht erforscht.

Gibt es also gar keine Zunahme der ADHS zugeschriebenen Probleme bei Kinder und Jugendlichen – oder missverstehe ich Sie?

Eine Zunahme von Problemen mag es geben. Offenbar aber vor allem derjenigen, die aus einer Abnahme der Toleranz gegenüber dem Anders-Sein unter dem Eindruck eines zunehmend eingeengten Normalitätsverständnisses entstehen. Konkret: Wer oder was ist heute schon noch wirklich „normal“? Immer weniger und immer weniger von uns, meine ich. Und hierüber müssten wir einmal sprechen. Im Sinne der Frage danach beispielsweise, welche Interessen es – neben jenen der Pharmaindustrie, meine ich natürlich – denn wohl sind, die hier ein Festhalten an dieser höchst umstrittenen Krankheitskonstruktion forcieren?


Bayerischer Rundfunk: ADHS: Ruhig gestellt und angepasst

Gibt es hier möglicherweise ein „biopolitisches Interesse“ im Zusammenhang einer systemisch organisierten Gesellschaftsstruktur, wie man mit Foucault und seinen Forschungen zu „Bio-Politik“ und „Bio-Macht“ durch den Staat fragen kann? Zur Beantwortung dieser Frage lohnt dabei, wie so oft, ein Blick in die USA. Dort wurde Eltern nämlich bereits angedroht, ihnen das Sorgerecht zu entziehen, wenn sie sich weiterhin weigern sollten, ihren Kindern das verordnete Ritalin zu verabreichen. Vor dem Hintergrund eines nach wie vor vermuteten Zusammenhangs auch von ADHS und Jugendkriminalität scheint diese Maßnahme dabei nur konsequent und plausibel zu sein.

Was also wäre Ihrer Meinung nach zu tun? Für die Kinder und Jugendlichen, aber auch … die Gesamtsituation?

Sich zunehmend der Gesamtproblematik psychosozialer Probleme in seiner Multikausalität – und genau darum handelt es sich meiner Meinung nach – bewusst zu werden, sich den jeweiligen individuellen multifaktoriellen Problemlagen wirklich widmen und nach Möglichkeiten suchen, dem zu beobachtenden allumfassenden Biologisierungs- und Medizinisierungsprozess zur Verschleierung gesellschaftlicher und sozialer Not hierdurch entschieden entgegenzusteuern. Da dies offensichtlich ein gesellschaftspolitisches Problem ist, sind hier kurzfristig-griffige Lösungen aber kaum zu erwarten.

Im anderen Falle wird wohl alles ohnehin so bleiben müssen, wie es ist: Betroffenen Menschen sind krank – und die seit mehr als sechzig Jahre andauernde und stets vergebliche Suche nach den biologischen Ursachen sowie einem erfolgreichen Medikament zur Behandlung dieser konstruierten Krankheit ADHS, oder wie sie zukünftig im Wandel terminologischer Kürzel auch immer heißen wird, kann und muss also weitergehen.

Die Positionen des Interviewpartners geben nicht zwingend die Positionen der NachDenkSeiten-Redaktion wieder. Sehr wohl aber sollen sie Eines: …zum Nachdenken anregen.

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