Zum Mitgliederentscheid – Die Resignation wird zunehmen

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Das Ergebnis der Mitgliederbefragung ist so, wie es die Parteiführung der SPD erwartet und sich ausgerechnet hat. Knapp 76 Prozent der 370.000 abstimmenden Mitglieder haben dem Koalitionsvertrag zugestimmt, rd. 24 Prozent haben ihn abgelehnt. Mit diesem Ergebnis können die Parteispitze und die SPD-Mitglieder im Kabinett jegliche Kritik an der Regierungspolitik in den kommenden Jahren abwehren, schließlich hat ja eine große Mehrheit der Parteimitglieder dem Koalitionsvertrag zugestimmt. Die SPD wird stolz auf ihre Regierungsbeteiligung sein und sie wird – wie schon in der rot-grünen Regierung und danach in der Großen Koalition – die Politik der Kanzlerin Merkel diszipliniert mittragen.
Der Mitgliederentscheid ist kein Aufbruch zu mehr Demokratie, sondern er wird vor allem in der Arbeitnehmerschaft die politischen Ohnmachtsgefühle noch steigern und zu noch mehr Resignation führen. Von Wolfgang Lieb

Wir haben auf den NachDenkSeiten mehrfach dargestellt, dass die Art dieser „Mitgliederbeteiligung“ vor allem ein taktisches Manöver der Parteiführung war, eine Analyse des zweitschlechtesten Wahlergebnisses und ggf. eine daraus abzuleitende personelle Erneuerung der Parteispitze und damit des politischen Kurses zu verhindern.

Unter dem Motto Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“, das für viele SPD-Mitglieder einen hohen Sympathiewert besitzt, haben die Parteiführung und die (über den Parteikonvent eingebundenen) Parteifunktionäre mit Unterstützung der allermeisten Medien geradezu eine Kampagne für eine Zustimmung zur Koalitionsvereinbarung zwischen CDU/CSU und SPD organisiert.

Es ist durchaus legitim, dass diejenigen, die einen Vertrag ausgehandelt haben, für das erzielte Verhandlungsergebnis werben, aber zu „Demokratie wagen“ hätte ein faire Information über Pro und Kontra und eine offene Debatte gehört. Sämtliche „Mitgliederbriefe“ oder auch die Durchführung der Regionalkonferenzen waren jedoch darauf angelegt, um eine Zustimmung zu werben. Die gesamte Parteiführung – und zwar nicht nur an der Spitze, sondern auch auf allen Funktionärsebenen – hat die Mitglieder nicht zu einer Abstimmung über die Inhalte des Koalitionsvertrages aufgerufen, sondern sie hat in guter alter Schröder-Manier die Mitglieder sozusagen vor eine „Vertrauensfrage“ gestellt.

Die Kritiker einer Großen Koalition oder an den Inhalten der Koalitionsvereinbarungen kamen in der innerparteilichen Kommunikationsstruktur kaum zu Wort und auf den Konferenzen vor Ort wurden kontroverse Debatten „von unten“ schon durch die Vorgabe des Verfahrens geradezu systematisch verhindert. So durften z.B. keine Diskussionsbeiträge abgegeben, sondern nur Fragen gestellt werden, die Wortmeldungen der Anwesenden wurden auf zwei oder drei Minuten begrenzt, während die Parteiführung oder Mitglieder der Verhandlungsdelegationen beliebig lange ihre Positionen darstellen und verteidigen konnten.
Teilweise mussten die Wortmeldungen inhaltlich vorher benannt werden und so konnten die Verhandlungsleitungen die Reihenfolge der Redner oder auch die anzusprechenden Themen beliebig bestimmen. So konnte die Debatte im Wesentlichen auf die angeblichen sozialdemokratischen Erfolge bei den Koalitionsverhandlungen, also den Mindestlohn, die abschlagsfreie Rente mit 63 oder die Mietpreisbremse eingeschränkt werden. Der Koalitionsvertrag insgesamt oder die anderen im SPD-„Regierungsprogramm“ auf einem Parteitag beschlossenen Ziele konnten gar nicht erst angesprochen oder kritisiert werden.
Und schon gar nicht konnte die Frage diskutiert werden, warum die SPD bei der letzten Wahl so schlecht abgeschnitten hat.

Die Parteiführung und die führenden regionalen Funktionäre und Mandatsträger haben die Parteimitglieder eher erpresst, als dass sie eine freie Entscheidung zugelassen hätten. Hinter den meisten Einlassungen des Führungspersonals stand mehr oder weniger offen ausgesprochen die Drohung: Wehe ihr stimmt nicht zu, dann desavouiert ihr eure gesamte Führungsmannschaft, dann stürzt die Partei in ein Chaos und die Sozialdemokratie verliert jegliches Ansehen und jeden Einfluss.

Mitentscheidend für den Ausgang des Mitgliedervotums war auch, die Empfehlung nahezu aller Gewerkschaftsführungen dem Koalitionsvertrag zuzustimmen. Ich habe nach der Entscheidung der SPD, einen Mitgliederentscheid durchzuführen, auch mit vielen Gewerkschaftern und mit Vertrauensleuten in Betrieben gesprochen. Da gab es durchweg eine gehörige Skepsis nicht nur gegen eine Große Koalition als solche sondern auch gegenüber dem Koalitionsvertrag. Dennoch wollten die allermeisten meiner Gesprächspartner, die gleichzeitig SPD-Mitglieder waren, für die Vereinbarungen stimmen.

Die Verankerung des Mindestlohns hat für die aktiven Gewerkschafter eine hohe symbolische Bedeutung. Man hätte nun schließlich seit nahezu 10 Jahren dafür „gekämpft“, war der Tenor. Die schlichte Rückfrage, dass 8,50 Euro vor 10 Jahren heute und schon gar im Jahre 2015 schon längst nicht mehr die gleiche Kaufkraft ausmachten, wurde mit dem resignativen Eingeständnis hingenommen, dass die Gewerkschaften ohne die Politik, selbst diesen durch die Geldentwertung abgeschmolzenen Betrag eben nie hätte durchsetzen können. Ähnlich pessimistisch waren auch die Einschätzungen, dass die Gewerkschaften ohne die Politik gegen die ausufernde Leiharbeit ankämpfen könnten. Selbst die völlig unzureichende Regelung im Koalitionsvertrag mit einer Höchstüberlassungsdauer von 18 Monaten galt für die Gewerkschafter als ein hinnehmbarer Anfang. An eine Rückkehr zu einer armutsfesten gesetzlichen Rente oder ein Aussetzen der Rente mit 67 glaubten meine Gesprächspartner – obwohl sie das Thema Rente beängstigt – alle nicht mehr. Insoweit war für sie auch das Minimalergebnis einer abschlagsfreien Rente nach 45 Beitragsjahren ein kleiner Lichtblick.

(Die Gewerkschaftsfunktionäre mussten dabei natürlich einräumen, dass sie dabei vor allem von den gewerkschaftlich noch einigermaßen gut organisierten Stammbelegschaften gedrängt werden. Denn gerade diese Gruppe der Arbeitnehmer dürfte von dieser Regelung profitieren.)

Mit einem gewissen Erschrecken wurde mir bei diesen Gesprächen deutlich unter welchem Druck Arbeitnehmer in den Betrieben von Seiten der Arbeitgeber stehen. Die Drohung des Verlustes von Arbeitsplätzen und die permanente Erfahrung der Ohnmacht gegenüber den Betriebsführungen hat Mut und Kampfbereitschaft erlahmen lassen. Streiks für Mindestlöhne oder für die Einschränkung der Leiharbeit oder gar ein politischer Streik für eine bessere gesetzliche Altersvorsorge erscheinen als von vorneherein nicht mehr organisierbar und darüber hinaus zum Scheitern verurteilt. Auch in der Linkspartei wird keine politische Kraft gesehen, die auf absehbare Zeit die nötige politische Begleitung zur Durchsetzung von solchen Forderung bieten könnte.

Aus meinen Gesprächen habe ich mitgenommen, dass meine Kritik am Koalitionsvertrag in der Sache durchaus geteilt wurde und dass man im Grundsatz natürlich für eine viel weitergehende Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen und –rechten ist, dass sich aber die Arbeitnehmer mit ihren Gewerkschaften als viel zu schwach einschätzen, hier alleine Durchbrüche erzielen zu können. Deshalb setzen sie ihre letzte Hoffnung auf die Politik und lassen sich von den angeblichen „Erfolgen“ der SPD bei den Koalitionsverhandlungen beeindrucken. Der Koalitionsvertrag gilt angesichts der aussichtslos eingeschätzten Kräfteverhältnisse als der letzte Strohhalm.

Diese resignative Haltung der Gewerkschafter an der Basis entspricht wohl der allgemeinen Stimmungslage innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Es ist geradezu tragisch, dass sie auf die Politik keine größeren Hoffnungen mehr setzen, als das was in den Koalitionsvereinbarungen erreicht worden ist. Und mit der nun kommenden Großen Koalition werden vermutlich selbst diese Hoffnungsschimmer noch dunkler werden.

Und hier noch zur Dokumentation die Erfolgsmeldung von Sigmar Gabriel und Andrea Nahles:

369.680 Mitglieder unserer SPD haben heute gemeinsam Demokratiegeschichte geschrieben. Zum ersten Mal hat eine Partei in Deutschland einen ausgehandelten Koalitionsvertrag und damit die Entscheidung über die Bildung einer Bundesregierung ihren Mitgliedern zur Abstimmung vorlegt. Jedes SPD-Mitglied hatte eine Stimme und damit die gleiche Verantwortung.

77,86 Prozent haben ihre Abstimmungsunterlagen zurückgesandt. Das entspricht nahezu einer Wahlbeteiligung in Höhe der Bundestagswahl vom 22. September diesen Jahres. Tausende Genossinnen und Genossen haben auf den Regionalkonferenzen oder vor Ort über den Koalitionsvertrag mitdiskutiert. Und darüber hinaus sind im Rahmen des Mitgliedervotums über 5.000 neue Mitglieder unserer Partei beigetreten. Wir haben mit diesem Mitgliederentscheid gemeinsam neue Maßstäbe gesetzt. Und wir haben damit gezeigt: Die Volksparteien haben eine Zukunft, wenn Mitglieder nicht nur Beitragszahler, sondern auch Mitentscheiderinnen und Mitentscheider sind. Bei uns sind sie das!

75,96 Prozent der Mitglieder haben dem Koalitionsvertrag zugestimmt, 23,95 konnten dies nicht. Für beide Haltungen gibt es nachvollziehbare Argumente, die jeweils zu respektieren sind. Dieses Mitgliedervotum hat deshalb auch keine Verlierer, gewonnen hat unsere SPD, weil es uns auch gelungen ist, mehr innerparteiliche Demokratie zu wagen. Die meisten von uns sind nicht zuletzt auch deswegen in die SPD eingetreten, weil wir eben kein Wahl-Verein sind, sondern eine diskussionsfreudige Mitgliederpartei. Das wollen wir auch bleiben. Und so weiter Maßstäbe für Mitgliederbeteiligung setzen. Darum brauchen wir jede und jeden von Euch für den Weg, der jetzt vor uns liegt. Bringt Euch also weiter so intensiv ein, wie wir das gerade in den letzten Wochen erlebt haben.

Mit dem positiven Mitgliedervotum vom heutigen Tage werden wir in der kommenden Woche mit der Union eine Bundesregierung bilden. Es bleibt dabei: Wir machen nicht Politik, weil wir regieren wollen, sondern wir wollen regieren, um bessere Politik für so viele wie möglich zu machen. Wir haben den Menschen in unserem Koalitionsvertrag eine konkrete Verbesserung ihrer persönlichen Lebenssituation versprochen: einen flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro, die abschlagsfreie Rente ab 63 mit 45 Beitragsjahren, die Mietpreisbremse und vieles mehr. Diese Zusagen werden wir jetzt Schritt für Schritt auf den Weg bringen.

Dabei ist klar: Auch in der Bundesregierung behält die SPD als Volks- und Mitgliederpartei ihre eigenständige und wichtige Rolle. Wir werden die Regierungspolitik eng mit der Partei rückkoppeln und diskutieren. Es wird keine Politik von oben, sondern eine Politik auf Augenhöhe geben. Wir wollen als SPD auch künftig wichtige Zukunftsdiskussionen führen, wie die Fortentwicklung unseres Programms, die weitere Öffnung der Partei sowie die Stärkung der Beteiligungsmöglichkeiten für Euch als die wichtigsten Botschafter unserer Politik. Dafür brauchen wir Engagement, Ideen und Kritik von jeder und jedem einzelnen von Euch. Nur so bleibt die SPD stark und attraktiv.

Für alles, was Du in den letzten Monaten und Jahren an Zeit und Engagement für unsere gemeinsamen Anliegen eingebracht und getan hast, möchten wir Dir herzlich danken. Dir und Deiner Familie wünschen wir jetzt eine ruhige Weihnachtszeit und erholsame Feiertage. Lasst uns alle Kraft schöpfen für die Zeit, die vor uns liegt, sie wird mindestens genauso spannend.

Herzliche Grüße

Sigmar Gabriel
Andrea Nahles

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