Rezension: Dieter Wellershoff, Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum

Ein Artikel von Petra Frerichs

Nur Eingeweihte wussten es: Dieter Wellershoff hat es sich im hohen Alter nicht nehmen lassen, nach Abschluss seiner neunbändigen Werkausgabe, deren letzte drei Bände 2011 erschienen sind, noch einmal ein großes Buch zu schreiben. Diesmal nicht in den bisher von ihm reichlich bedienten Genres Roman, Erzählung, Novelle oder Essay, sondern auf dem Gebiet der Malerei. Er folgt seiner Faszination für die Bildende Kunst, wenn er am Beispiel von über 230 Gemälden von fast 80 Künstlern den Bildern aus einer Zeitspanne von der Renaissance bis zur Gegenwart eine Stimme gibt. Von Petra Frerichs.

Dabei hält sich der Autor kaum an die Regeln der kunstgeschichtlichen Betrachtung; vielmehr folgt er auf unkonventionelle Weise seiner Intuition, wenn er manchmal nur einen Satz sagt, der es aber in sich hat, oder eine ganze Abhandlung über ein Kunstwerk und seinen Schöpfer schreibt. In jedem Fall möchte er die Wahrnehmung für die Rezeption von Bildern schulen und schärfen. Seinen Leserinnen und Lesern empfiehlt er im Vorwort:

Stellen Sie sich das Buch als ein Museum mit vielen aneinandergrenzenden Räumen voller Bilder vor und schlendern Sie, Ihren Interessen und Ihrer Neugier folgend, hindurch.

So ist auch die Rezensentin zunächst vorgegangen. Doch bald genügte ihr dieses Flanieren und sukzessive Vor-Gehen nicht mehr, und sie begann, das Buch von vorne nach hinten zu lesen. Und siehe da: Erst dieser Gangart verdankt man eine Aufklärung des Blicks und unerhört sympathische Lehrstunden über einzelne Bilder sowie die kunstgeschichtliche Entwicklung in einem Zeitraum von mehr als fünfhundert Jahren. Angesichts der Fülle an Bildern, Erläuterungen und Imaginationen fragt man sich zum Schluss: Wie war das möglich?! Staunend und bewundernd sollen hier nun einige Lese- und Seh-Erfahrungen aus diesem großen Kunstbuch mitgeteilt werden.

Da ist zunächst einmal die Auswahl an Malern und ihren Bildern zu erwähnen. Diese deutet – obwohl die kunstgeschichtliche Kontinuität gewahrt ist – auch auf gewisse Vorlieben und Wertschätzungen (etwa im Fall Adolph Menzels oder Lucian Freuds) ebenso wie auf kritische Distanzierungen (etwa von der Pop Art oder auch Gerhard Richter). Was die Bilderauswahl angeht, fiel angenehm auf, dass der Autor bei so weltberühmten Künstlern wie etwa van Gogh oder Beckmann auch auf weniger bekannte Werke zurückgegriffen hat.

Die Interpretationen variieren: von dem besagten „einen Satz“ (etwa bei Magrittes Zimmer des Lauschens: „Man kann den Apfel wachsen hören, bevor er explodiert“, S. 239) über die knappe Skizzierung des Eindrucks bis zur kunstgeschichtlichen und biographischen Kontextualisierung; von der genauen Bildbeschreibung bis zur Erzählung einer passenden Geschichte, erfunden aus der spontanen Wirkung des Bildes (etwa bei Leo Putz: Spätherbst). Auch einfühlsame Portraits von Malern wie Munch, Rothko oder Lucian Freud oder essayhafte Abhandlungen wie die über G. Richter bilden eine Gruppe unter den Interpretationen. Durch diese Bandbreite der Betrachtungen auf die Werke und ihre Schöpfer entsteht bei der Rezeption ein Gefühl von Freiheit (so oder aber auch anders kann man über Bilder sprechen) wie zugleich der Gewinn an ästhetischer Wahrnehmungsschärfe in Bild und Schrift.

Dass hier ein großer Schriftsteller mit all seiner Sprachmacht „Blicke ins Nachbarmedium“ wirft, sorgt für eine ästhetisch-poetische „Verdoppelung“, die in gewöhnlichen Kunstkatalogen nicht zu finden ist. Nicht das kunstgeschichtlich ausgebreitete Fachwissen steht hier an, sondern: die Poesie der Sprache trifft auf die der Bilder. Formulierungen wie „Seinsmacht“ (201); „Vorbeirasendes Farbgewitter. Verschwindende Totalität des Augenblicks“ (199); „monumentale Lakonie“ oder „Selbsttäuschung des Widerstands. Verrücktheit als imaginäres Verschwinden“ (218) sind Beispiele für die Poetisierung dieser Kunstbetrachtungen.

Hin und wieder geschieht die Einbeziehung des Lesers, der vom Interpreten direkt angesprochen wird; beispielsweise mit der Aufforderung, van Goghs Bild „Les Apilles“ erst genau anzuschauen und dann die Augen zu schließen, um das Tosen der riesigen Flutwelle zu vernehmen, die sich sogleich sintflutartig über die Landschaft ergießen wird – wo man doch überzeugt davon war, dass es sich um die Darstellung eine Gebirgszugs handelt, der die Landschaft schützend umschließt, und nicht um eine Art von Tsunami.

Im Großen und Ganzen erfolgt die Darstellung chronologisch. Aber es gibt auch thematisch-motivische Konfrontationen und Gruppenbildungen, mitunter sogar über die Epochen hinweg, wie z.B. beim Motiv des Streits unter Männern bei M. Larionow aus dem 20. Jahrhundert und A. Pollaiuolo aus dem 15. Jahrhundert (211).

Schließlich werden Entwicklungslinien aufgezeigt, besonders eindrucksvoll die von der gegenständlichen zur abstrakten Malerei. An zahlreichen Beispielen lernt man, diese Stufen oder Schritte nachzuvollziehen und deren kunstgeschichtliche Bedeutung einzuschätzen. Hier ist es sehr hilfreich, dass der Schriftsteller Wellershoff zugleich auch der Kunsthistoriker ist, der einem diese Linien erklären kann.

Nicht durchgängig, aber tendenziell werden die Interpretationen mit fortschreitender Abstraktheit der Bilder auch kürzer, aber nicht weniger substantiell in Aussage und Deutung. Man könnte sagen, der Interpret folgt der Abstraktion auch im Text, indem er einen minimalistischen Stil pflegt.

Bleibt noch zu erwähnen, dass dem Werk von Gerhard Richter ein ähnlich großer Platz eingeräumt wird wie etwa dem von Adolph Menzel. Aber das ist nur in quantitativer Hinsicht richtig beobachtet. Denn mit unbestechlich kritischem Blick lässt sich der Autor auf die Werkgeschichte Richters ein, würdigt hier die große Wirkung von Farbe und Fläche, kommt aber nicht umhin, den Themen- und Motivverlust als eine Entwicklung hin zur postmodernen Beliebigkeit zu deuten und Richters Kunstschaffen in die Nähe des Designs zu rücken.

Das Buch glänzt über seinen schriftstellerischen Gehalt hinaus auch mit der Qualität der farbigen Drucke und des gesamten liebevoll angefertigten, schönen Layouts. Hier hat der Verlag, der schließlich nicht auf die Kunstbuchproduktion spezialisiert ist, ganze Arbeit geleistet.

Dieter Wellershoff, Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum, Kiepenheuer & Witsch 2013, 368 S., 39,99 Euro.

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