Die Sozialstaatsreformer vor der großen Weltwirtschaftskrise vertraten nicht nur dieselben Konzepte, sie trugen – Ironie der Geschichte – auch noch den gleichen Namen

Christoph Butterwegge
Ein Artikel von Christoph Butterwegge

Peter Hartz, früher Personalvorstand des größten Automobilkonzerns in Europa, Leiter der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ und Miturheber der nach ihm benannten vier Gesetze (Hartz I-IV), steht wegen seiner Verwicklung in den sog. VW-Skandal um „Lustreisen“ für Manager wie Betriebsräte vor Gericht und mit einem Bein im Gefängnis. Hier geht es allerdings weder um ihn als Person noch um sein Konzept, das die Arbeitslosigkeit nicht verringert, aber die Armut erhöht hat, sondern um einen Namensvetter von Peter Hartz, der bisher weitgehend unbekannt, aufgrund seiner Rolle als geistiger Vorläufer aktueller und Pionier während der Weimarer Republik entwickelter „Reformpläne“ jedoch sehr interessant ist. Es mutet wie ein Treppenwitz der Geschichte an, dass die „Sozialstaatsreformer“ damals und heute denselben Familiennamen hatten. Christoph Butterwegge hat uns die Langfassung seines heute in der FR veröffentlichten Beitrags zur Verfügung gestellt.

Hartz – ein historischer Rückblick

Von Christoph Butterwegge

Schon bevor die Weltwirtschaftskrise 1929/32 das Sozialsystem der Weimarer Republik bis ins Mark erschütterte, traten Kritiker des Wohlfahrtsstaates auf den Plan, die seine Leistungsfähigkeit in Zweifel zogen und – ganz ähnlich wie heute – statt öffentlicher Verantwortung für die Hilfesuchenden mehr Privatinitiative forderten. Einer davon hieß – man höre und staune – Gustav Hartz, gehörte der DNVP an und war 1924 für ein paar Monate Reichstagsabgeordneter. 1928 erschien sein Buch „Irrwege der deutschen Sozialpolitik und der Weg zur sozialen Freiheit“, in dem Hartz viele Fragen stellte, die heute neoliberalen Kritikern des Sozialstaates auf den Nägeln brennen, auch wenn er noch nicht dieselben Antworten (z.B. Einführung der Praxisgebühr) wie sie gab: „Geht man nicht bedenkenlos ein dutzendmal zum Arzt, wenn einmal genügte – nur weil es die Kasse bezahlt?“ Hartz sah überall „Faulenzer und Drückeberger“ den Sozialstaat plündern, für die „kein denkender Arbeiter einen Pfennig Arbeitslosenbeiträge bezahlen“ wolle. Überhaupt stelle der damals gerade erst geschaffene Versicherungszweig für die Lohnarbeiter „kein gutes Geschäft“ dar. Um „den Mißbrauch der ungerechten und unnötigen Inanspruchnahme“ unterbinden zu können bzw. „asoziale Elemente“ nicht mehr „auf allgemeine Unkosten reisen“ zu lassen, wollte Hartz die Hilfe auf Bedürftige konzentrieren, was er in seinem nächsten Buch „Neue Wege der Sozialpolitik“ sozialdarwinistisch begründete: „Eine soziale Politik darf nicht mit der Sorge um die Kranken, Invaliden, Witwen, Waisen und Arbeitslosen die Förderung der Lebenstüchtigen, Leistungsfähigen und Arbeitenden vergessen.“ Wer würde da nicht an die Parole „Leistung muss sich wieder lohnen“ denken, die Kurt Beck kürzlich erneut in die Debatte gebracht hat?

Wortreich klagte Gustav Hartz über „die Bleigewichte des Bürokratismus“, kritisierte angeblich viel zu hohe Verwaltungskosten der Sozialversicherung und forderte eine Abkehr von dem Glauben, „daß der Staat alles selber machen muß.“ Die damalige prekäre Situation der Sozialversicherung erschien ihm als Finanz-, mehr noch als Vertrauenskrise, welche alle Beteiligten erfasst habe. Einer der Lieblingsbegriffe, die Hartz ständig verwendete, hieß „Reform“. Manchmal sprach er allerdings von einer „Revolution“, um damit grundlegende Veränderungen des Systems zu kennzeichnen, die seiner Meinung nach unabdingbar waren.

Gustav Hartz tat, was damals eher ungewöhnlich war: Er fragte, welche Rendite die Zahlungen der Arbeitnehmer in die Sozialversicherung abwarfen und ob eine selbst angesparte, kapitalgedeckte Rente nicht mehr Gewinn verspreche. Außerdem machte sich Hartz – hiermit gleichfalls modern wirkend – für „eigenverantwortliche Selbsthilfe“ der Arbeitnehmer stark. In den Vordergrund rückte Hartz die „Eigenverantwortung“, von der man heute wieder häufig spricht, um damit zu bemänteln, dass sich Ämter und Behörden immer mehr aus der Verantwortung stehlen, die ihnen das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes auferlegt. Die „staatliche Zwangsversicherung“ wollte Hartz abschaffen und ein System der privaten Vorsorge errichten, das auf Zwangssparen hinauslief. Hiervon versprach sich Hartz einen Mentalitätswandel, der die abhängig Beschäftigten mit dem bestehenden Wirtschaftssystem aussöhnen sollte: „Es erscheint mir fraglos, daß eine ganz andere Auffassung bei den Arbeitnehmern über den Wert des Kapitals und bezüglich der Verantwortung für seinen Verbrauch und seine Mehrung entstehen muß, wenn jeder das Wachsen seines Kapitals täglich bzw. wöchentlich vor Augen hat.“ Hier liegt eine Hauptgemeinsamkeit zwischen Gustav und Peter Hartz: Beide wollten die Arbeiterschaft in das kapitalistische Gesellschaftssystem integrieren – sei es durch die Bildung von Eigentum, sei es durch relativ hohe Löhne für die Stammbelegschaften (VW-Haustarifvertrag) und eine bis zur Korruption reichende Privilegierung ihrer führenden Repräsentanten (Luxus- bzw. Lustreisen für Betriebsräte).

Klar war Gustav Hartz, dass Übergangsschwierigkeiten nicht zu vermeiden sein würden, was er aber in Kauf nehmen zu müssen glaubte – heute würde man in diesem Zusammenhang von „schmerzhaften Reformen“ sprechen und sie mit diesem Argument gerade als notwendige Radikalkur empfehlen. Die „grundstürzende Änderung“ benötige „eine gehörige Portion Mut beim Gesetzgeber“, damit dieser nicht vor den vielen zu erwartenden „Wenns“ und „Abers“ zurückschrecke, befand Gustav Hartz. 75 Jahre später bildete „Mut zur Veränderung“ das Motto der Agenda 2010. Warum es zwangsläufig zu „sozialen Härten“ komme, erläuterte Hartz anhand des folgenden Beispiels, das bei der Einführung der kapitalgedeckten Riester-Rente gleichfalls zu hören war: „Einem im vorgeschrittenen Alter von etwa 40 bis 50 Jahren stehenden Arbeitnehmer bleibt nicht mehr Zeit genug, um mit der Ersparung seiner Sozialbeiträge ein für Alter und Krankheit ausreichendes Sparkapital zusammenzubringen.“

An die Stelle der Sozialversicherung wollte Gustav Hartz „soziale Gemeinschaften“ (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Genossenschaften, Religionsgemeinschaften usw.) mit von ihnen betriebenen „Sozialsparkassen“ treten lassen. Die einen Zankapfel der Politik bildenden Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung sollten dem Bruttolohn zugeschlagen, davon 15 Prozent als Sparbetrag abgeführt werden. Hartz hoffte, dies würde zur Folge haben, dass der ständige Streit über die „soziale Belastung der Wirtschaft“ (heute hieße es: die Explosion der Lohnnebenkosten) unterbliebe. Unklar blieb, wie ein Wegfall der Arbeitgeberbeiträge angesichts des Machtvorsprungs der Unternehmer durch Lohn- und Gehaltssteigerungen kompensiert werden sollte. Auch würde sich der durch die Hinweise auf überhöhte, im Weltmaßstab nicht „konkurrenzfähige“ Lohnnebenkosten entfachte Druck des Kapitals nur andere Kanäle zur Entladung suchen. Statt der Personalzusatz- stünden vermutlich die Lohnkosten dann selbst noch stärker als bisher im Brennpunkt von Kampagnen.

Für die Ende der 20er-/Anfang der 30er-Jahre drastisch wachsende Arbeitslosigkeit machte Gustav Hartz die Weimarer Republik, ihr „unfähiges politisches System“ und das Ausland verantwortlich. Durch all seine Schriften zogen sich rassistische Klischees, antisemitische Stereotypen und ein für die damalige Zeit typischer Kulturpessimismus, wie folgendes Beispiel aus dem 1932 erschienenen Buch „Die national-soziale Revolution“ zeigt: „In den Konzertkaffees der Großstädte spielen Nigger- und andere Auslandskapellen, während der deutsche Musiker verhungert; polnische Bergarbeiter nehmen unseren deutschen Arbeitern die Arbeit weg, während die Polen unsere deutschen Brüder in Oberschlesien zu Tode prügeln.“ Von den Erwerbslosen sprach Gustav Hartz – in gewisser Weise entsprechende Gedanken seines berühmten Namensvetters vorwegnehmend – als „Kunden“ (noch in Anführungszeichen), die sich nach ihrer Entlassung „sofort bei der Arbeitsvermittlung zu melden“ hätten, damit diese sie kennen lerne und „die beste Kontrolle“ habe.

Hartz wandte sich sowohl gegen Forderungen der Freien Gewerkschaften nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit wie auch gegen (überhöhte) Sozialtransfers für Erwerbslose: „Es ist ein geradezu absurder Gedanke, der Arbeitslosigkeit mit Unterstützungsleistungen zu begegnen oder sie damit auch nur mildern zu wollen. Es ist ein absurder Gedanke, die noch vorhandene Arbeit durch Verkürzung der Arbeitszeit auf möglichst viele Menschen verteilen zu wollen, ein Gedanke, der sich würdig der vom Marxismus verbreiteten Meinung anschließt, dass der Einzelne möglichst wenig arbeite, damit er anderen die Arbeit nicht wegnähme.“ Um ihrer Sparpflicht nachkommen und genügend Kapital im Rahmen der Sozialkassen ansparen zu können, sollten die Arbeitnehmer/innen laut Hartz täglich mindestens 9 Stunden im Büro oder Betrieb verbringen: „Eine Stunde Mehrarbeit am Tage, als Sparstunde genützt, würde weit sozialer wirken, als der Achtstundentag je an sozialer Wirkung zeitigen kann.“

Wenn man den gegenwärtigen Demografie-Diskurs und das mit ihm verbundene Katastrophenszenario betrachtet, wirkt Gustav Hartz ebenfalls hochaktuell. Hartz führte Kostensteigerungen und Krisenerscheinungen des von ihm „kollektivistisch“ genannten Sozialversicherungssystems auf die demografische Alterung zurück: „Diese ‚Vergreisung‘ unseres Volkes hat eine dauernd steigende Zahl der Rentner und eine fortgesetzt steigende Rentenzahlungsdauer und absinkenden Beitragseingang im Gefolge.“ Man erlebe gerade das Vorspiel einer Tragödie, meinte Hartz weiter: „In einer Reihe von Jahren sind nicht mehr genug junge beitragszahlende Menschen da, die in der Lage sind, die Summen aufzubringen, die zur Ernährung einer immer größer werdenden Zahl von Alten und Invaliden nötig werden.“ Entweder müssten die Beiträge um nahezu das Doppelte steigen oder die Renten um etwa die Hälfte sinken. Als ein möglicher Ausweg erschien Hartz der systematische Aufbau individuell-familiärer Vorsorge, gekoppelt an die Pflicht zur Selbsthilfe und die persönliche Eigenverantwortung.

Zudem hielt Hartz eine „Höherbesteuerung der Ledigen und Kinderlosen“ für sinnvoll, die zu fordern man nicht wage, weil „der Mut zu einer positiven Bevölkerungspolitik“ fehle. Hans-Werner Sinn, Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung an der Universität München, setzt heute gleichfalls auf eine aktive Bevölkerungspolitik zur Problembewältigung: „Wenn es gelänge, die Geburtenraten auf ein Niveau anzuheben, wie es eine stationäre Bevölkerung kennzeichnet, dann ließe sich die Bevölkerung allmählich wieder verjüngen. Das Rentenproblem würde sich lösen, der Arbeitsmarkt würde stabilisiert, und unser Land würde wieder zu der Dynamik bei der Wirtschaft und Wissenschaft zurückkehren, die es einmal besaß.“ Um dieses Ziel zu erreichen, will Sinn die Fertilitätsrate mittels finanzieller Anreize für Familien, aber auch mittels gezielter Sanktionen für Kinderlose steigern. Sinn empfiehlt die Staffelung von Altersrenten nach der Kinderzahl und eine Rentenkürzung für Kinderlose auf die Hälfte der „normalen“ Höhe: „Wer keine Kinder hat und insofern zu wenig tut, um seine eigene Rente im Umlagesystem zu sichern, muss die Konsequenzen tragen und selbst auf dem Wege der Ersparnis für Ersatz sorgen.“ Damals schrieb Gustav Hartz ähnlich klingende Sätze, die jedoch noch mehr Pathos enthielten: „Mit aller Deutlichkeit muß jedem zum Bewußtsein gebracht werden, daß die Zukunft unseres Volkes und Reiches eine ausreichende und gesunde Kinderschar und daß der Mensch immer noch das wertvollste ‚Produkt‘ ist. Wer an der Zukunft unseres Volkes durch eigene Kinder keinen Anteil hat – oder haben kann –, der soll wenigstens die Gegenwart für die Kinderreichen materiell erträglich gestalten helfen.“

Mit der Zeit rückte Gustav Hartz politisch immer weiter nach rechts. Gleichermaßen den „sozialdemokratischen Marxismus“ wie das „bolschewistische Chaos“ fürchtend, suchte er nunmehr in einem „zum Kampfe auf Leben und Tod bereite(n) Nationalismus“ das Heil. Endziel des „völkischen Freiheitskampf(es)“ sollte der faschistische Ständestaat sein, wobei Italien unter Mussolini als Vorbild diente. „Den Weg aus dem jetzigen Chaos der Arbeitslosigkeit wird nur ein nationaler Staat finden, der Arbeit und Pflicht als Mittel zur nationalen Befreiung und zur Lösung der sozialen Frage dem Volke zum Bewusstsein zu bringen vermag.“ Gustav Hartz sprach nicht vom „Umbau“ des Sozialstaates, vielmehr vom „Abbau der Sozialversicherung“ und von einer staatlichen Neuordnung, die einen „Sozialstaat des Willens und der Tat“ hervorbringen sollte.