„Die Gewinne von gestern sind die großen Ersparnisse von heute und die Arbeitslosigkeit von morgen“ sagt Lîem Hoang-Ngoc in Le Monde

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Von Lîem Hoang-Ngoc, Le Monde vom 30. September 2005, von Gerhard Kilper aus dem Französischen übertragen.

Das angekündigte Ende des demokratisch-republikanisch begründeten Steuersystems in Frankreich – zusammenfassender Bericht eines Artikels von Liêm Hoang-Ngoc, Wirtschaftsprofessor an der Universität Paris-I, in der Pariser Tageszeitung Le Monde vom 30. September 2005 („La fin annoncée de l’impôt républicain“).

Als Antwort auf das „non“ der französischen Wähler zur EU-Verfassung war die Regierung de Villepin mit dem Ziel angetreten, die verbreitete Unzufriedenheit der Franzosen durch eine sozial ausgewogene Wirtschaftsankurbelung aufzufangen. Die jetzt von de Villepin angekündigte “Einkommensteuer-Reform zur Ankurbelung der Konjunktur“ wird diesem Anspruch in keinster Weise gerecht, da sie de facto einseitig die Reichen begünstigen wird. Demokratisch-republikanisch gerecht ist eine Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der Staatsbürger: jeder soll entsprechend seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ein gleich schwer empfundenes Opfer für das Gemeinwesen erbringen!

Um diesem demokratischen Grundanliegen gerecht zu werden, wurde die progressive Einkommensteuer parlamentarisch durchgesetzt, die heute die neoliberalen Angebotspropheten mit ihrer „flat tax“, einem einheitlichen Steuersatz für alle Einkommen, radikal abschaffen wollen.

Mit dem Argument, die besonderen Anstrengungen und Verdienste der Großverdiener für die Gesellschaft müssten belohnt werden, weil zu hohe Einkommensteuern zu Steuervermeidung und Steuerflucht führten, propagierte im bundesdeutschen Wahlkampf Angela Merkel einen gleichen Steuersatz von 25% für jeden Steuerpflichtigen. Gleichzeitig sollten öffentliche Subventionen radikal gestrichen werden, egal ob sie sozial ausgerichtet oder ob sie imstande waren, wirtschaftliche Aktivitäten anzuregen oder nicht.

Das französische Steuersystem ist aufgrund seines großen Anteils an proportionalen Einnahmen, bedingt durch unsere hohe Umsatzsteuer und durch unsere hohen und vielfältigen staatlichen Gebühren an sich schon schwach umverteilend, die Einkommensteuer bringt nur etwa 17% unserer Staatseinnahmen. Die von de Villepin jetzt angekündigte Steuerreform bringt zwar keine radikale „flat tax“ à la Merkel, aber sie reduziert unsere aktuelle Steuerprogression beträchtlich.

Schon die damalige konservative Regierung Balladur flachte die ursprünglich sehr ausgeprägte Progression der französischen Einkommensteuer von 11 Steuerstufen auf 6 Stufen ab, die Regierungen Jospin und Raffarin senkten den Grenzsteuersatz und die Regierung de Villepin will jetzt nicht nur die bisherigen 6 Steuerstufen auf 4, sondern auch den Einkommens-Spitzensteuersatz weiter auf 40% absenken, so dass sich nach Anrechnung der Vermögensteuer (deren Abschaffung ja auch vehement vorgeschlagen wird) für Spitzenverdiener eine Maximalbelastung von 60% ihres Einkommens ergibt. De Villepins Reformvorschlag vermindert zwar auch die Steuerlast mittlerer Einkommen, begünstigt jedoch besonders die hohen Spitzeneinkommen, die vermögensteuerpflichtig sind.

Die Absenkung des oberen Steuersatzes für Spitzenverdiener soll sozial durch die neu eingeführte Beschäftigungsprämie für vermittelte Arbeitslose ausgeglichen werden.

Schon der Begriff „Beschäftigungsprämie“ deutet auf typisch neoliberales Denken hin, weil mit der Beschäftigungsprämie als arbeitsunwillig hingestellte Arbeitslose dazu gebracht werden sollen, jede minderqualifizierte Arbeit anzunehmen. Dieser verfehlte, mikroökonomische Arbeitsmarkt-Denkansatz aber liefert dem Arbeitgeberlager gleichzeitig die ideologische Begründung dafür, makroökonomisch sinnvolle, produktivitätsorientierte Lohnerhöhungen als Teil einer aktiven Lohnpolitik generell und strikt als „wirtschaftlich unvernünftig“ abzulehnen.

So wird die neue Beschäftigungsprämie mit dem Ziel gewährt, arbeitslose Arbeiter zur Aufnahme jeder Art von minder- und unqualifizierter Arbeit auf einem zunehmend deregulierten Arbeitsmarkt zu bewegen, für den das durch die Arbeiterbewegung erkämpfte, makroökonomische begründete Arbeits- und Tarifrecht mehr und mehr außer Kraft gesetzt wird.

Das neoliberale Arbeitsmarkt-Modell als einer der Dreh- und Angelpunkte der neoliberalen Ideologie stellt also die Arbeiter an den Pranger, ihnen wird die Schuld dafür zugeschoben, dass eine unkoordinierte und (seit Jahren) versagende Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht in der Lage ist, qualifizierte und reguläre Arbeitsplätze in ausreichender Zahl zu schaffen. Im Namen ökonomischer Effizienz billigten neoliberal gewendete Sozialdemokraten wie Tony Blair genau diese Art von „Reformen“. 1999 erklärten Blair und Schröder in einem gemeinsamen Manifest „Sozialdemokraten sind heute auch für Steuerreformen offen – wenn das sachlich notwendig erscheint – wobei Steuersenkungen eine herausragende Rolle spielen werden“. De Villepin begründet in Kontinuität mit diesen Vorgängern seine aktuelle Steuerreform ausdrücklich mit dem Ziel, die Wirtschaft anzukurbeln. Unsere heutige Wachstumsschwäche ist aber ganz wesentlich a) auf die mangelnde Kaufkraft unserer Konsumenten zurückzuführen und b) auf die Investitionsschwäche der Unternehmen, besonders auch derjenigen, die für den heimischen Markt produzieren.

Die geldpolitischen Fehler der europäischen Zentralbank und der dritte Ölschock hemmen heute sowohl die Investitionen der Unternehmen als auch die allgemeine Nachfrage nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. In diesem gesamtwirtschaftlichen Kontext stellt leider die geplante Progressionsabsenkung (in Verbindung mit der neoliberalen Arbeitsmarkt-Ideologie) einen klassischen ökonomischen Fehler dar! Denn die vorgeschlagene Einkommensteuersenkung erhöht die Massenkaufkraft überhaupt nicht, d.h. die Konsumnachfrage als Hauptmotor eines jeden Konjunkturaufschwungs wird überhaupt nicht angekurbelt. Im Ergebnis der geplanten Steuerreform werden potentiell mögliche, öffentliche Gelder in die Taschen schon reicher Bevölkerungsschichten mit einer prinzipiell hohen Sparneigung gelenkt.

Unsere schon hohe Sparquote wird weiter erhöht werden – und könnte via Börse eigentlich neue Investitionen anregen. Aber die absehbare Zunahme der Sparquote fällt mit hohen Profiten und Dividenden der Konzerne und einem gleichzeitigen, seit 10 Jahre anhaltenden Investitionsstau zusammen. Unternehmen investieren ganz grundsätzlich nicht deswegen, weil sie ihre Investitionen aus Eigenmitteln finanzieren könnten. Langfristig angelegte, strategische Investitionen werden in den Kapitalgesellschaften heute deswegen kaum mehr getätigt, weil die Aktionäre auf eine kurzfristig hohe Rentabilität und auf eine möglichst hohe Dividendenauszahlung pochen. In unserer heutigen volkswirtschaftlichen Realität muss Helmut Schmidts Theorem „Die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“ genau umkehrt werden in „Die Gewinne von gestern sind die großen Ersparnisse von heute und die Arbeitslosigkeit von morgen!“.

Auch die vom Sachverständigenrat zur Konjunkturankurbelung zusätzlich vorgeschlagene Senkung der Unternehmenssteuern geht als singuläre Maßnahme genau in die falsche Richtung, weil sie zu weiter sinkenden Staatseinnahmen führt. Die Zunahme der Staatsverschuldung geht ursächlich überhaupt nicht auf ein Übermaß an öffentlichen Ausgaben zurück – diese können nicht ohne größere soziale und wirtschaftliche Schäden und ohne gravierende konjunkturelle Einbrüche einfach beliebig zurückgefahren werden.

Unsere Wachstumsschwäche, verursacht durch eine konjunkturpolitisch völlig unkoordinierte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, sowie eine planlos aktionistische ad-hoc-Steuersenkungspolitik, die uns von 2003-2005 Mindereinnahmen von 22 Milliarden Euro bescherte – das sind die beiden zentralen Ursachen des französischen Haushaltsdefizits!

Die französische Rechte hat sich heute meilenweit vom sozial ausgerichteten Gaullismus der Nachkriegsjahre entfernt. Unter dem Deckmantel von Reformen betreiben die Neogaullisten heute offen eine Politik des Sozialabbaus, die dem neokonservativen angelsächsischen Vorbild in nichts nachsteht.