Ein Faktenreicher Leserbrief an die WAZ zur Rente mit 67

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Der NDS-Leser und Statistikfachmann J.Voß schickt uns einen interessanten Leserbrief.

Zu: Was sich bei der Rente ändert in: WAZ v. 10.3.2007

Sehr geehrter Herr Abs,

Sie beginnen Ihren Rentenartikel mit folgendem Satz: “Derzeit müssen 100 Beschäftigte 32 Rentner mit ihren Beiträgen und Steuern finanzieren. 2050 werden es wegen der demografischen Entwicklung 60 – 64 Rentner sein, also doppelt so viele.”

Zu Ihrer Unterrichtung: Zum 31.12.2005 wurden laut VDR 24.483.745 Renten gezahlt. Da es besonders bei Frauen häufig zu einem Doppelrentenbezug kommt: (eigene (meist kleine) Rente plus Witwenrente); erklärt sich der Abstand zu der an sich viel kleineren Alterskohorte der Menschen über 65; es handelt sich nämlich nur um 15,5 Mio. Menschen. Lassen wir die vielen Rentenempfänger mit der Rente wegen Arbeitslosigkeit und Erwerbsunfähigkeit mal aus dem Spiel, so kann man grob von 20. Mio. Rentnern und Rentnerinnen sprechen. Nach Ihrer These werden diese 20 Mio. Rentner heute von 62,5 Mio. Erwerbstätigen “finanziert” (100/32=3,125X 20=62,5).

“Nanu!”, sprach der Papst, “da stimmt doch was nicht!”: 82,5 Mio. Bürger minus 60 Mio. Beschäftigte – 20 Mio. Rentner ergibt praktisch null. Wo bleiben denn die 15 Mio. Menschen unter 18?

Offensichtlich verwechseln sie ähnlich wie unser Volksschüler aus dem Sauerland in seiner glorreichen Rentenreformrede vom letzten Freitag erwerbsfähig mit erwerbstätig. Erwerbsfähig ist jeder Bürger zwischen 18 und 65 (nach SGB II sogar zwischen 15 und 65), erwerbstätig oder gar sozialversicherungspflichtig beschäftigt ist er damit noch lange nicht. Die Realität sieht so, dass heute schon nur 26,5 Mio. SV-Beschäftigte die 24,5 Mio. Renten finanzieren müssen. Und da sie das nicht vollends können, schießt der Bund 80 Mrd. hinzu, für DDR Renten, Aussiedlerrenten, Erziehungszeiten usw.

Das alles hat mit Demografie überhaupt nichts zu tun, sondern nur etwas mit dem Arbeitsmarkt, und den will man ja bekanntlich “flexibilisieren”, eine euphemistische Umschreibung für “Zerstören”.

Nun ist der offensichtliche Unfug, den sie da hingeschrieben haben, leider Methode. Alle argumentieren so, seit vielen Jahren. “Heute ernähren drei Erwerbstätige einen Rentner, morgen wird es nur noch einer sein!”. Dass diese These zu Ende gedacht, zu einer geometrischen Reihe führen würde (Denn wer ernährt morgen die drei? Im Idealfall doch neun, und die dann später 27?), bleibt wohl außen vor. Exzessives Bevölkerungswachstum als Grundbedingung für die Aufrechterhaltung der sozialen Sicherungssysteme? Malthus lässt grüßen.

Persönlich kann ich mir ein Wort zu Ihnen und all jenen Journalisten, die diesen Unsinn seit vielen Jahren nachplappern, nicht verkneifen. Es gibt nämlich nur drei Möglichkeiten:

  1. Sie wissen es nicht besser, also können sie es auch nicht besser hinschreiben.
  2. Sie wissen es besser, wollen es aber nicht besser hinschreiben, weil sie damit eine wichtige Säule der neoliberalen Ideologie in Frage stellen müßten. Und zuletzt:
  3. Sie wissen es besser, sie dürfen es aber nicht schreiben.

Im ersten Fall sind Sie der falsche Mann am falschen Platz.

Im zweiten Fall sind sie ein verantwortungsloser Demagoge, der seine grundgesetzlich geschützte journalistische Tätigkeit voll in den Dienst der neoliberalen Propagandamaschinerie stellt und damit ein Grundrecht missbraucht.

Im letzten Fall haben sie Angst um ihren Arbeitsplatz, dann gehört Ihnen meine ganze Sympathie. Auch Ihre Zeitung ist Bestandteil eines europaweit agierenden Konzerns, dessen Leader daran interessiert ist, ein Wirtschaftssystem nach angelsächsischem Bedingungen aufzubauen. Und dazu gehört nun mal die Zerstörung der solidarischen Sicherungssysteme, denn man will ja an der Alters- und Krankenversicherung sehr sehr viel Geld verdienen.

Denken Sie über sich nach und ordnen Sie sich selbst ein!

Mit freundlichen Grüßen

J. Voß

WAZ-Leser seit über 50 Jahren