Interne Austeritätspolitik – Die Kürzung öffentlicher Ausgaben führt zu Mehrausgaben in der Zukunft

Ein Artikel von Christoph Habermann

Die Tatsache, dass eines der wirtschaftlich leistungsfähigsten Länder der Welt in immer mehr Bereichen und Regionen die öffentliche Infrastruktur verkommen lässt, ist bei nüchterner Betrachtung ein kaum erklärbares Phänomen. Tatsächlich handelt es sich hier um die einheimische Anwendung des Austeritätsprinzips, das seit Jahren auf Druck der deutschen Bundesregierung die Politik der Europäischen Union bestimmt.
Die Kürzung und Begrenzung öffentlicher Ausgaben wird zur obersten und wichtigsten Aufgabe erklärt. Koste es, was es wolle.
Niemand, auch kein Staat und keine Kommune, kann jedoch auf Dauer von der Substanz leben.
Zu geringe Ausgaben für die öffentliche Infrastruktur können die Zukunft für die große Mehrheit der Menschen, aber auch für viele Unternehmen mindestens genauso gefährden wie zu hohe Verschuldung. Zu geringe Ausgaben gehen zu Lasten heutiger und künftiger Generationen.
Investitionen in die gebaute Infrastruktur, die heute nicht gemacht werden, werden mit jedem Jahr, die sie in die Zukunft verschoben werden, immer teurer. Was für das private Haus gilt, das gilt auch für öffentliche Gebäude. So führt das sogenannte „Sparen“ von heute zu den steigenden öffentlichen Ausgaben von morgen. Von Christoph Habermann [*]

I „Rekorde“ bei den Steuereinnahmen

„Rekordjahre“ oder „Rekorde“ bei den Steuereinnahmen: Das war quer durch alle Medien die Botschaft nach der jüngsten Steuerschätzung Anfang Mai.

Es stimmt: Die Steuereinnahmen sollen bis 2018 jedes Jahr höher ausfallen als im Jahr davor, so wie in 58 der 63 Jahre seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Diese „Rekorde“ sind eine Selbstverständlichkeit, solange es keine Wirtschaftskrise gibt. Alle fünf Jahre, in denen die Steuereinnahmen zurückgegangen sind, lagen zwischen 1996 und 2009. Das hatte zu tun mit der wirtschaftlichen Entwicklung und mit der Senkung der Lohn- und Einkommensteuer zwischen 1999 und 2005, von der höhere Einkommen weit überdurchschnittlich profitiert haben.

Die Schlagzeilen von den „Rekordeinnahmen“ transportieren eine klare Botschaft:
Der Staat schwimmt im Geld. Die Steuern sollten sinken, nicht steigen. Noch nie mussten die Deutschen so viel Steuern zahlen. Wer wie viel und wer wie wenig bezahlt, darüber wird kaum berichtet.

Wie relativ „Rekorde“ sein können, zeigt sich, wenn man die Ergebnisse vom Mai 2008, der letzten Steuerschätzung vor Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, mit den tatsächlichen Zahlen vergleicht. Die Steuerschätzung vom Mai 2008 erwartete für das Jahr 2012 Steuereinnahmen von insgesamt 645,3 Milliarden Euro. Tatsächlich lagen die Steuereinnahmen 2012 bei genau 600 Milliarden Euro, ein Minus gegenüber der Schätzung von 45,3 Milliarden Euro.
Hier schlägt die Finanz- und Wirtschaftskrise voll durch.

Im Zeitraum zwischen 2008 und 2012 sind die öffentlichen Aufgaben und Ausgaben aber nicht zurückgegangen, sondern gewachsen, nicht zuletzt wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise.

Nach der Steuerschätzung vom Mai 2014 werden die Steuereinnahmen im Jahr 2014 noch unter dem Betrag liegen, der 2008 schon für 2012 erwartet worden war.
(639,9 Milliarden Euro zu 645,3 Milliarden Euro).

Diese Zahlen lehren zweierlei:

  1. Dass der Staat im Geld schwimmt, ist eine Mär, nein, es ist gezielte Propaganda.
  2. Steuerschätzungen sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie immer den status quo fortschreiben.

II Zur Struktur der Steuereinnahmen

Über 70 Prozent der Steuereinnahmen stammen aus der Einkommensteuer und der Umsatzsteuer. Allein die Lohnsteuer, die die abhängig Beschäftigten zahlen, macht ein Viertel aller Steuereinnahmen aus.

Die vermögensbezogenen Steuern (auf Grundbesitz, Vermögen, Erbschaft) tragen in Deutschland sehr viel weniger zum Steueraufkommen bei als im Durchschnitt der alten EU-Länder oder auch in den USA. (2010 in D 0,8 % vom BIP; EU-15 ca. 2 % vom BIP). Die Vermögenssteuer wird nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts seit über 15 Jahren nicht mehr erhoben. Bei der Erbschaftssteuer wird Betriebsvermögen ohne Grund privilegiert. Einkünfte aus Kapitalvermögen werden durch die Abgeltungssteuer gegenüber Arbeitseinkommen erheblich privilegiert.

Insgesamt bezahlen die Arbeitnehmerinnen und die Konsumenten einen immer größeren Teil der Steuern.

Der deutsche Spitzensteuersatz ist im internationalen Vergleich niedrig. Die Steuern und Sozialversicherungsbeiträge für Niedrigverdiener und Durchschnittsverdienerinnen liegen dagegen im internationalen Vergleich an der Spitze.

III Gesamtausgaben der Länder mit und ohne Kommunen 2002-2011

Die Staatsquote, der Anteil der Ausgaben von Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen am Bruttoinlandsprodukt ist in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren deutlich zurückgegangen: Von 48,5 Prozent im Jahr 2003 auf 44,7 Prozent im Jahr 2013.

Trotzdem wird spiegelbildlich zu den „Einnahmerekorden“ immer wieder von der „Ausgabenwut“ der öffentlichen Haushalte gesprochen.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Das zeigen die Zahlen der Haushalte der Länder und der Kommunen:
Die Gesamtausgaben aller Länder haben sich von 2002 bis 2011 von 256,9 Milliarden Euro auf 296,6 Milliarden Euro erhöht.
Das ist eine Steigerung um 15,4 Prozent in neun Jahren, also weniger als 1,5 Prozent im Jahr und zwar nominal. Berücksichtigt man die Preissteigerungsrate, sind die Ausgaben real gesunken.

Nimmt man die Kommunen dazu, ergibt sich fast das gleiche Bild. Der Zuwachs zwischen 2002 und 2011 liegt dann bei 16,1 Prozent.

Bei diesen Zahlen muss man noch berücksichtigen, dass der Bund in den Jahren 2009 bis 2011 den Ländern und Kommunen viele Milliarden für ein Investitionsprogramm gegen die Folgen der Banken- und Wirtschaftskrise zur Verfügung gestellt hat. Ohne diese Gelder lägen die Steigerungsraten noch niedriger.

In Rheinland-Pfalz lag der Zuwachs der Ausgaben deutlich höher als im Durchschnitt der Länder: bei 26,3 Prozent und wenn man die Kommunen einbezieht, bei 25,6 Prozent.
Auch das ist aber nur ganz knapp über der Preissteigerungsrate.

Die Investitionsausgaben der Länder mit und ohne Kommunen haben sich wie folgt entwickelt:
Von 33,5 Milliarden Euro im Jahr 2002 auf 34,8 Milliarden Euro im Jahr 2011. Das entspricht einem Zuwachs von 3,8 Prozent in neun Jahren, mit Preissteigerung also ein dickes Minus.

Noch deutlicher ist die Situation, wenn man die Kommunen einbezieht.
Die Investitionen sind von 53 Milliarden Euro 2002 auf 52 Milliarden Euro im Jahr 2001 gefallen.

Für Rheinland-Pfalz lauten die entsprechenden Zahlen so:

Das Land hat seine Investitionen von 1,1 Milliarden Euro auf 1,3 Milliarden Euro erhöht, um 18,5 Prozent.
Bezieht man die Kommunen mit ein, sind die Investitionen von 2,07 Milliarden Euro auf 2,1 Milliarden Euro gestiegen, um 1,5 Prozent.
Die Kommunen in Rheinland-Pfalz haben ihre Investitionen also stark verringert, von 966 Millionen Euro auf 791 Millionen Euro.

Die Ausgaben der Länder und Kommunen für Investitionen für die öffentliche Infrastruktur sind in den vergangenen Jahren also nominal und zum Teil sogar real zurückgegangen.
Das wäre dann unproblematisch, wenn die Infrastruktur in Deutschland in einem so guten Zustand wäre, dass mit geringeren Investitionen sowohl der Unterhalt, der Ersatzbedarf als auch der Neubau garantiert werden könnten.

Genau das ist aber nach übereinstimmender Auffassung nicht der Fall.

IV Deutschland lebt unter seinen Verhältnissen und zulasten künftiger Generationen

In Deutschland wird zu wenig investiert; vor allem die öffentliche Infrastruktur wird vernachlässigt. Das ist schlecht für Umweltentlastung und ökologische Erneuerung. Das ist schlecht für Innovation und sozialen Aufstieg. Das ist schlecht für soziale Gerechtigkeit und für die Wirtschaft.

Hier einige Zitate aus ganz unterschiedlichen Quellen:

IMK-Report 93 vom April 2014:

„Die öffentliche Hand hat viel zu lange wichtige staatliche Aufgaben – nicht zuletzt infolge einer durch wiederholte Steuersenkungen verursachten erheblichen Unterfinanzierung – vernachlässigt. Besonders deutlich tritt dies bei den öffentlichen Investitionen zu Tage, die seit 2003 netto, also nach Abzug der Abschreibungen, negativ sind. Mit anderen Worten: Der öffentliche Kapitalstock schrumpft. Am stärksten offenbart sich der Verfall der öffentlichen Infrastruktur auf der Gemeindeebene,…
Die wirtschaftlichen Folgen dieser Politik zeigen sich mittlerweile deutlich, unter anderem im Falle der wochenlangen Schließung des Nord-Ostsee-Kanals, eines der wichtigsten Schifffahrtswege der Welt, wegen maroder Schleusen.“

„Die äußerst unzureichenden öffentlichen Investitionen in Deutschland gefährden auch das längerfristige Wachstumspotenzial des Landes.“

DIW Wochenbericht, 26/2013

„Betrachtet man nur die öffentliche Investitionstätigkeit, so zeigt sich, dass in Deutschland seit Ende der 90er Jahre vor allem Investitionen in die Infrastruktur und in sonstige Bauwerke in Relation zum Bruttoinlandsprodukt sukzessive zurückgefahren wurden.“

„Statt in den Aufbau des inländischen Kapitalstocks wurde ein hoher Anteil der inländischen Ersparnisse jedoch im Ausland angelegt. Banken investierten einen Teil der Spareinlagen in den US-Subprime-Markt oder spanische Immobilien; private Anleger kauften mit ihrem Geld auf der ganzen Welt Wertpapiere oder transferierten es auf ausländische Konten (…)
Die Investitionen im Ausland haben sich aus gesamtwirtschaftlicher Sicht aber insgesamt nicht ausgezahlt.“

Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der Kreditanstalt für Wiederaufbau, FR, 2. März 2013

„(…) müsste Deutschland stärker investieren, ggf. auch über Schulden. Bei den momentanen Finanzierungsbedingungen des Staates, Zehnjahreszinsen unter zwei Prozent, rechnen sich zudem ganz viele Investitionen. Da würden Werte für künftige Generationen geschaffen.“

Institut der deutschen Wirtschaft:

„Infrastruktur zwischen Standortvorteil und Investitionsbedarf“ Umfrage unter Unternehmen, Februar 2014

„Die Höhe des Infrastrukturkapitals entscheidet somit auch darüber, in welchem Ausmaß andere Produktionsverfahren – vor allem privatwirtschaftliches Kapital – in einer Volkswirtschaft eingesetzt werden.“

„Zusammenfassend kann somit festgehalten werden: In Deutschland werden die Unternehmen derzeit mehrheitlich und in allen Wirtschaftsbereichen durch Infrastrukturmängel beeinträchtigt.“

„Ein besonderes Problem ist beispielsweise der Zustand der kommunalen Brücken, von denen immer mehr für den Schwerlastverkehr gesperrt werden.“

Substantielle Mängel gibt es aus Sicht der Unternehmen auch im Schienenverkehr und beim Ausbau des Glasfasernetzes für die schnelle Übertragung von Daten.

Diese Darstellung ließe sich fast endlos erweitern um Darstellungen und Bewertungen von Instituten, Kommissionen und Interessengruppen, die sonst oft ganz unterschiedlicher Auffassung sind, aber gemeinsam zu dem Ergebnis kommen:

In Deutschland wird die öffentliche Infrastruktur vernachlässigt.
Wir leben von der Substanz.
Das wird, je länger es weitergeht, zu immer stärkeren negativen Folgen für Unternehmen und Gesellschaft führen.

V Die öffentliche Infrastruktur aus Sicht der Kommunen

Alle zwei Jahre veröffentlicht die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Förderbank des Bundes und der Länder, eine Umfrage unter Kommunen zur finanziellen Situation der Haushalte und zum Bedarf an Investitionen in die kommunale Infrastruktur.

Das „KfW-Kommunalpanel 2014“ vom Mai kommt zu folgenden zentralen Ergebnissen:

„Der Investitionsrückstand der deutschen Kommunen für das Jahr 2013 wird von den kommunalen Experten aus Städten, Gemeinden und Landkreisen auf 118 Milliarden Euro geschätzt; dies bedeutet einen Rückgang um 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.“

Das ist „der zweithöchste Wert seit Beginn der Befragung.“

Besondere Mängel gibt es

  • bei Straßen und Verkehrsinfrastruktur und
  • bei Schulen,
  • große Mängel aber auch bei Sportstätten, Bädern, im Wohnungsbau, bei Anlagen der Versorgung und Entsorgung.

Nur bei der gesetzlich vorgeschriebenen Kinderbetreuung hat sich die Situation gegenüber dem Vorjahr verbessert.

Im Jahr 2013 hatten alle Kommunen zusammen einen Haushaltsüberschuss von 1,7 Milliarden Euro. Das geht zurück auf die finanzstarken Kommunen. Gleichzeitig ist 2013 aber der Anteil der Kommunen ohne ausgeglichenen Haushalt von 28 auf 34 Prozent gestiegen.
Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern. Kommunen aus Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland haben 82 % der Kassenkredite aller Kommunen bundesweit.

In vielen, vor allem größeren Städten, lägen die Ausgaben auch dann noch über den Einnahmen, wenn der Rat beschließen würde, auf alle freiwilligen Aufgaben zu verzichten.

Das zeigt: Viele Städte haben im Kern ein Einnahmeproblem und kein Ausgabenproblem.
Selbstverständlich müssen auf allen Ebenen öffentliche Ausgaben trotzdem immer wieder darauf überprüft werden, ob sie notwendig und sinnvoll sind, und ob die Aufgaben so effektiv wie möglich organisiert sind.

Trotz günstiger Finanzierungsbedingungen sind viele Kommunen nicht in der Lage Investitionen über Kredite zu finanzieren.

Die KfW fasst die Situation so zusammen:

„Verschiedene empirische Indizien weisen darauf hin, dass Haushaltskonsolidierung zu häufig auf Kosten von Zukunftsinvestitionen geht. Wenn der Schuldenabbau dazu führt, dass zu wenig in die Infrastruktur investiert wird, Schulen nicht saniert werden, die Folgekosten bei den Straßen immer höher werden, Energie verschwendet und an überkommenen Infrastrukturen festgehalten wird, dann fällt das gerade den notleidenden Kommunen auf die Füße. Wenn so am Personal gespart wird, dass sinnvolle und strategisch notwendige Maßnahmen gar nicht mehr geplant und umgesetzt werden können, dann ist das zweifellos der falsche Weg.“

„Solange kreditfinanzierte Investitionen nur in der Privatwirtschaft ein Zeichen für den Aufschwung und für Prosperität sind und in den Kommunen ausschließlich der Schuldenabbau zum Maßstab der Zukunftsfähigkeit gemacht wird, so lange wird es nicht gelingen, den Investitionsstau ab- und die kommunale Infrastruktur bedarfsgerecht umzubauen.“

Jörg Zeuner, Chefvolkswirt der KfW, weist auf die Folgen der gegenwärtigen Situation hin:

„Vor allem für die schwächeren Kommunen entsteht eine Art Teufelskreislauf: Einerseits müssen sie Schuldenabbau betreiben, andererseits für die Zukunft investieren, wozu ihnen die Mittelaufnahme oftmals verwehrt wird. Besonders Investitionen mit hohem Nutzen – wie z.B. Straßen und Brücken – oder hohem Sparpotenzial – wie z.B. die energetische Sanierung – können nicht bzw. nur unzureichend getätigt werden.“

VI Die Meinung der Bürgerinnen und Bürger zum Zustand der Infrastruktur

Um das Bild vom Zustand der Infrastruktur und von den Erwartungen abzurunden, hier die wichtigsten Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage vom Oktober 2013:

„Die Mehrheit der Bevölkerung ist überzeugt, dass in Deutschland zu wenig in die Infrastruktur investiert wird. 56 Prozent der Bürger sind der Meinung, dass es Defizite bei Infrastrukturmaßnahmen gibt.“

Noch interessanter sind die Antworten auf die Frage, wo die Befragten allgemein großen Bedarf oder wenig Bedarf für eine Verbesserung bzw. einen Ausbau der Infrastruktur sehen:

Den größten Bedarf sehen die Bürgerinnen und Bürger bei

  • Renovierung, Bau oder Ausbau von Kindergärten, Schulen usw. (85 zu 13 %)
  • Bau von Energieversorgungsanlagen für erneuerbare Energien, z.B. Windparks, Solaranlagen, Wasserkraftwerke (73 zu 23 %)
  • Bau bzw. Modernisierung von Krankenhäusern, Gesundheitszentren usw. (69 zu 27 %)
  • Erneuerung bzw. Ausbau des Straßennetzes (58 zu 39 %)

Den geringsten Bedarf sehen die Bürgerinnen und Bürger beim

  • Flughafenbau bzw. -erweiterung ( 11 zu 81 %) und beim
  • Bau von Kohlekraftwerken (6 zu 81 %)

VII Zum politischen Umgang mit den Mängeln der öffentlichen Infrastruktur

Im Bundestagswahlkampf traten SPD, Grüne und Linke mit unterschiedlichen Schwerpunkten dafür ein, die Einnahmen des Staates zu erhöhen, u.a. mit dem Ziel, dringend notwendige Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und in öffentliche Dienstleistungen möglich zu machen.

Zentrale Instrumente: Höherer Spitzensteuersatz und Vermögenssteuer bzw. Vermögensabgabe.

Im Koalitionsvertrag von CDU, SPD und CSU werden Steuererhöhungen ausgeschlossen und zusätzliche Mittel für Investitionen von Ländern und Kommunen vereinbart.
Von Anfang an musste misstrauisch machen, dass es kein Finanztableau gab, aus dem hervorgeht, welche staatliche Ebene, wann, wie viel bekommt.
Deshalb ist es nicht erstaunlich, dass bis heute keine einzige konkrete Entscheidung gefallen ist.

Klar ist bisher nur, dass der Bund die Entlastung der Kommunen um 5 Milliarden Euro durch Einführung eines Bundesteilhabegeldes in die nächste Legislaturperiode verschieben wird. (Die Verständigung in dem Treffen der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel mit CSU-Chef Horst Seehofer und SPD-Chef Sigmar Gabriel am Montagabend über die Verteilung der zugesagten sechs Milliarden für Bildung, Kitas und Forschung war zum Zeitpunkt des Referats noch nicht bekannt (WL))

Das heißt, dass nicht einmal die völlig unzureichenden Vereinbarungen in der Koalitionsvereinbarung in den kommenden Jahren wirksam werden.

In der Diskussion über höhere öffentliche Investitionen werden vor dem Hintergrund von „Schuldenbremse“ und der Tabuisierung von höheren Steuern für hohe Einkommen und große Vermögen folgende Vorschläge vertreten:

Kürzung bei Personal und Sozialleistungen zugunsten von Investitionen. Besonders deutlich vertritt das der Präsident des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Christian Schramm, CDU. Auf dieser Linie liegen aber auch viele andere in unterschiedlichen Parteien.

DIW, IMK und auch die KfW plädieren in unterschiedlicher Form dafür, die im Rahmen der „Schuldenbremse“ möglichen Spielräume zu nutzen für zusätzliche Investitionen.

Wirtschaftsverbände versuchen die Zwangslage, in die viele Länder und Kommunen durch fehlende Steuereinnahmen einerseits und das kommende Verbot der Kreditaufnahme durch die „Schuldenbremse“ kommen, zu nutzen für eine neuen Werbefeldzug für sogenannte ÖPP- oder PPP-Projekte, eine besondere Form der Privatisierung öffentlicher Aufgaben mit staatlich garantiertem Gewinn.

Keine der drei Strategien löst das grundsätzliche Problem.
Die erste Strategie führt dazu, dass an anderer Stelle neue Probleme geschaffen werden.
Die zweite Strategie ist nur zeitlich begrenzt möglich.
Der dritten Strategie, ÖPP, hat der Landesrechnungshof Rheinland-Pfalz in seinem Jahresbericht 2014 ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt. Die Wirtschaftlichkeit der ÖPP-Pilotprojekte des Landes sei nicht nachgewiesen.

“ÖPP-Modelle werden ohne hinreichende Prüfung der Eignung in Erwägung gezogen, weil die Finanzierung der Maßnahmen bei konventioneller Realisierung nicht gesichert war oder weil die kommunalen Gebietskörperschaften erwarteten, dass die Aufsichtsbehörde die Genehmigung der Kreditaufnahme im Fall einer konventionellen Finanzierung versagen würde.“ (Seite 89)

Der Bundesrechnungshof kam schon 2009 nach Prüfung der ersten vier PPP-Projekte beim Bau von Autobahnen zu dem Ergebnis, dass sich „für den Bund ein erheblicher Schaden“ ergebe.

Es handelt sich bei ÖPP und PPP nach Auffassung des Bundesrechnungshofs offenbar um die organisierte Veruntreuung öffentlicher Geldern zugunsten privater Investoren.

VIII Keine Besserung in Sicht !?

Die Tatsache, dass eines der wirtschaftlich leistungsfähigsten Länder Welt in immer mehr Bereichen und Regionen die öffentliche Infrastruktur verkommen lässt, ist bei nüchterner Betrachtung ein kaum erklärbares Phänomen.

Tatsächlich handelt es sich hier um die einheimische Anwendung des Austeritäts-Prinzips, das seit Jahren auf Druck der deutschen Bundesregierung die Politik der Europäischen Union bestimmt.
Die Kürzung und Begrenzung öffentlicher Ausgaben wird zur obersten und wichtigsten Aufgabe erklärt. Koste es, was es wolle.
Diese Überzeugung gewinnt bei vielen fast religiöse Züge, und so treten sie auch auf.

Der ehemalige EU-Kommissar und italienische Ministerpräsident, Mario Monti, bestimmt kein Linker, hat diese Haltung in einem Interview mit „Le Monde“ vom 18. Juni 2013 so beschrieben:

„Man muss sich immer daran erinnern, dass die Wirtschaft in Deutschland heute noch ein Teil der Moralphilosophie ist. Wachstum wird als das Ergebnis tugendhaften Verhaltens von Bürgern, Unternehmen und Staat gesehen. Es ist unmöglich, Frau Merkel, aber auch die deutsche Öffentlichkeit, davon zu überzeugen, dass Haushaltsdefizite eine gute Sache sein können.“

Diese Situation wird sich in den kommenden Jahren nicht zum Besseren verändern, sondern in vielen Ländern und Kommunen zum Schlechteren. Im Jahr 2020 tritt für die Länder das Verbot der Nettokreditaufnahme in Kraft, die sogenannte Schuldenbremse; um diese Verpflichtung zu erreichen, müssen viele Länder Jahr für Jahr gegenüber dem Vorjahr Ausgaben kürzen und streichen.

Als Bundestag und Bundesrat im Jahr 2009 die „Schuldenbremse“ ins Grundgesetz geschrieben haben, wurden sie von vielen gewarnt und auf die verheerenden Folgen einer solchen Politik hingewiesen.

Professor Peter Bofinger, einer der fünf „Wirtschaftsweisen“, hat mit vielen Kollegen und Kolleginnen am 25. Mai 2009 einen Aufruf veröffentlicht mit der Überschrift:
„Die Schuldenbremse gefährdet die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die Zukunft unserer Kinder“. Dort heißt es:

„Wenn die Länder durch das Grundgesetz in Zukunft daran gehindert werden, sich für Zukunftsinvestitionen zu verschulden, besteht bei anhaltenden und von vielen Politikern aktiv geförderten Forderungen nach Steuersenkungen die große Gefahr, dass die aktive Zukunftsvorsorge unter die Räder kommt. Es kann dann vielleicht erreicht werden, dass die Schulden nicht weiter ansteigen, aber um den Preis, dass zukünftige Generationen unzureichend ausgebildet sind, über eine abgewirtschaftete Infrastruktur verfügen und in einer schlechten Umwelt leben müssen.“

Genau auf diesem Wege sind wir. Das ist aber offenbar noch zu wenig spürbar. Das wird überlagert von Meldungen über die angeblich außerordentlich gute wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland. Die wirkt im Vergleich zu den meisten anderen europäischen Ländern – aber auch nur in diesem Vergleich – positiv.

IX Zu geringe Ausgaben für die öffentliche Infrastruktur gefährden eine gute Zukunft

Niemand, auch kein Staat und keine Kommune, kann auf Dauer von der Substanz leben.
Zu geringe Ausgaben für die öffentliche Infrastruktur können die Zukunft für die große Mehrheit der Menschen, aber auch für viele Unternehmen mindestens genauso gefährden wie zu hohe Verschuldung.

Zu geringe Ausgaben gehen zu Lasten heutiger und künftiger Generationen.
Investitionen in die gebaute Infrastruktur, die heute nicht gemacht werden, werden mit jedem Jahr, die sie in die Zukunft verschoben werden, immer teurer. Was für das private Haus gilt, das gilt auch für öffentliche Gebäude.

Investitionen in die soziale Infrastruktur, die heute nicht gemacht werden, können in vielen Fällen gar nicht mehr nachgeholt werden. Die Folge ist, dass junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen, dass sie keine Ausbildung und keine Arbeit haben.
Statt Steuern und Beiträge in die sozialen Sicherungssysteme zu zahlen, werden sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf öffentliche Leistungen angewiesen sein.
So führt das sogenannte Sparen von heute zu den steigenden öffentlichen Ausgaben von morgen.
Reparatur und Ausgrenzung an Stelle von Prävention und gesellschaftlicher Inklusion:
Das ist menschenfeindlich, asozial und teurer ist es noch dazu.

Wir brauchen einen Kurswechsel in der Steuer- und Finanzpolitik und bei den öffentlichen Investitionen.

Vor allem die Kommunen und die Länder brauchen mehr Einnahmen für ihre Aufgaben.

Dafür müssen große Vermögen und hohe Einkommen deutlich stärker beitragen als bisher.

Die Finanzierung von Investitionen muss wieder, wie das Jahrzehnte lang völlig unbestritten war, über Kredite finanziert werden können.
Dieser Vorschlag wirkt heute wie eine linke Forderung. Das zeigt, wie sich die politischen Linien verschoben haben.

Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, Professor Michael Hüther, antwortete in einem Interview mit der „Frankfurter Rundschau“ vom 20. Juli 2013 auf die Frage: „Was ist an Staatsschulden sinnvoll?“:

„Solange damit Investitionen des Staates finanziert werden, die eine höhere Rendite als den Zinssatz abwerfen, sind sie wohlstandssteigernd und generationengerecht.“

Diese Bedingung ist heute gegeben wie selten zuvor.
Das macht den Investitionsstau und den zunehmenden Verfall der öffentlichen Infrastruktur noch unbegreiflicher und noch unverantwortlicher.

Steuerpolitik und Schuldenbremse haben dazu geführt, dass auch die politisch Verantwortlichen, die tun wollen, was notwendig und sinnvoll ist, dazu nicht in der Lage oder sogar gezwungen sind, das Gegenteil zu tun.
Sie sind die Gefangenen früherer Entscheidungen, an denen sie oft selber mitgewirkt haben. Das werden wir in den kommenden Jahren auch in Rheinland-Pfalz erleben.
Leider.


[«*] Christoph Habermann war von 1999 bis 2004 stellvertretender Chef des Präsidialamtes in der Amtszeit von Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 war er Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz. Der Text war Grundlage für eine Rede bei den „Vordenkern und Nachdenkerinnen“ in Mainz am 26. Mai 2014.