Auch Erbarmen geht nicht ohne Coca Cola – Nun engagiert sich der Getränkekonzern auch in der Armutsökonomie der „Tafeln“

Ein Artikel von Stefan Selke

Angesichts eines Werbeplakats im öffentlichen Raum stellt sich mir die Frage, ob es eher gut oder schlecht ist, wenn die eigenen Thesen von der Wirklichkeit überholt werden. Es handelt sich dabei um eine Anzeige von Coca Cola Deutschland in einer Zeitschrift, auf dem die Unterstützung der „Tafeln“ erklärt wird, zu denen der Konzern nun eine „stolze Partnerschaft“ aufgenommen hat.

Tafeln? Das sind doch die inzwischen als äußerst ambivalent eingeschätzten „Lebensmittelretter“, die bundesweit immer mehr arme Hartz-IV-Empfänger, Langzeitarbeitslose, Rentner und mancherorts sogar Studierende versorgen. Regelmäßig werden die Tafeln kritisiert, weil sie dazu beitragen, das Problem der Armut zu entpolitisieren. Armut, so der Kern der Kritik, entwickele sich durch die stetige Präsenz der Almosensysteme in diesem Land von einem politischen Skandal zu einer gesellschaftlich arrangierten Bedürftigkeit. Und innerhalb der sich immer weiter ausdifferenzierenden neuen Armutsarrangements lassen sich auch Gewinne erwirtschaften. Armutsökonomie bedeutet, dass Armut zur (ver)handelbaren Ware wird. Von Stefan Selke[*].

Coca Cola Deutschland ist einer dieser Akteure, die mit Armut noch gute Geschäfte machen. Es stimmt nachdenklich, wenn ein Markenunternehmen (Coca Cola) öffentlich erläutert, warum es ein anderes Markenunternehmen (die „Tafeln“) unterstützt. Was also haben eine bekannte Zuckerbrause und ein bekanntes Almosensystem gemeinsam? Und warum wird für diese Gemeinsamkeit öffentlich geworben?

Betrachten wir zunächst das Plakat und die Werbebotschaft.

Das Bild zeigt eine kopflose Person, die einen Korb mit Lebensmitteln trägt oder hält. Nein, das ist wohl noch keine (un-)bewusste Symbolik, sondern vielleicht eher eine Art der Generalisierung von Helfern sowie der Tatsache geschuldet, dass unter dem Bild noch Platz für ungewöhnlich viel Text sein muss. Die Person ist mit einem grob karierten Hemd bekleidet, ein typischer „Macherlook“. Dieser Kleidungsstil signalisiert, dass bei „Tafeln“ Menschen anpacken können und wollen. Die Tafeln werden ja allein schon deshalb als Lösung des Armutsproblems angesehen, weil hier ad-hoc geholfen wird, anstatt „immer nur zu diskutieren“ (was den Kritikern gerne als Zynismus und Ferne zur Praxis unterstellt wird). Gleichwohl steht der pragmatische Aktionismus in einem merkwürdigen Kontrast zur tadellosen Sauberkeit des Hemdes und der Schürze. Diese ist mit dem Markennamen, dem Logo und dem Claim („Essen, wo es hingehört“) der Tafeln bedruckt. Markennamen, Logo und Claim – das sind Attribute aus der Welt der Wirtschaftsunternehmen. Und in der Tat haben es die „Tafeln“ geschafft, sich ihren Markennamen juristisch schützen zu lassen, als Basis für die Monopolisierung des Armutsmanagements im Land.

Übrigens zeigt z.B. die crossmediale Installation von Manuel Schroeder im Rahmen des Kunstprojekts „Erbarmen als soziale Form“, dass sich der Spruch „Essen, wo es hingehört“ auch anders interpretieren lässt. Der Künstler sprühte diesen Satz mittels einer Schablone an ganz tafeluntypische Orte im Kölner Stadtbild, um zum Nachdenken über Armut und die neuen Formen des Erbarmens anzuregen.

Zurück zum Plakat: Darauf sehen wir eine Kiste mit Lebensmitteln, die so nach Biss und Geschmack aussehen, dass man sich unwillkürlich fragt, warum man selbst eigentlich nicht zur Tafel geht. Der Wirklichkeitssinn des Betrachters wird hier überstrapaziert. In der einen Ecke der Kiste eine Flasche „Apollinaris Classic“, in der anderen eine Flasche „Coca-Cola“. „Weil zum Essen auch Trinken gehört“ lesen wir auf dem Plakat und dann erfahren wir die eigentlichen Zusammenhänge: „Tafeln“ würden eine „wichtige soziale Aufgabe“ erfüllen und das schon so lange und so gut, dass Coca Cola Deutschland „gerne Partner der Tafeln“ sei. Dies passt ganz gut ins eigene Werbeimage. Coca Cola „ist für alle da“ – diese Unternehmensphilosophie macht einerseits das Engagement für die „Tafeln“ möglich, aber auch eine Verbreiterung der Zielgruppe „nach unten“. Bei 3,8 Milliarden Litern Absatzvolumen (2013) der konzerneigenen Flüssigkeiten werden nicht nur ein paar Flaschen Cola für die Tafeln übrig bleiben, sondern es werden wohl noch ganz neue Zielgruppen niedrigschwellig erreicht.

Denn genau das leisten die „Tafeln“ ja ganz hervorragend: Für alle diejenigen, die sich an die Armen dieses Landes heranpirschen wollen, um ihnen auch noch den letzten Cent aus der Tasche zu ziehen oder eine der vielen kreativen Hilfsmaßnahmen zukommen zu lassen, ist das bestens institutionalisierte und vernetzte Almosensystem die perfekte Plattform und Zugangsmöglichkeit. „Tafeln“ sind einerseits ein moralisches Unternehmen, das Firmen wie z.B. Coca Cola gerne hilft, das Umverteilen ihrer Produkte als Teil ihrer „gelebten Verantwortung“ ausweisen zu können (z.B. in ihren sog. Nachhaltigkeitsberichten). Sie sind andererseits aber auch Teil einer Armutsökonomie, in der die Armen gnadenlos ausnutzt werden, weil Armut (wie auch das Soziale) nur noch nach ökonomischen Maßstäben behandelt und damit kommodifiziert (zur Ware (WL)) wird. Abgesehen davon, wird man sich trefflich darüber streiten können, ob die kostenlose Abgabe von Zuckerwasser an Arme eher eine Form der Verwirklichung von „sozialer Teilhabe“ darstellt, oder ob damit ungesunde Lebensverhältnisse und Erbarmen noch weiter zementiert werden.

So gesehen ist es nur konsequent, dass sich in Deutschland die erste „Initiative gegen Armutshandel“ gründet, die genau diese Warenwerdung von Armut anprangert. Beides, die perfekt inszenierte Partnerschaft eines Konzerns wie Coca Cola mit einem Sozialkonzern im Kontext einer wenig nachhaltigen „Goodwill-Industrie“ sowie die Proteste gegen die Umsätze mit und durch Armut bestätigen eine These, die ich in meinem Buch „Schamland“ aufstelle: Mittlerweile ist es zu einer perfekten Dauersynchronisation der Interessen von Politik, Wirtschaft und „Tafeln“ gekommen, die mit ihren Prämissen und Angeboten aufeinander verweisen, wobei sich die eigentlich angestrebte „gesellschaftliche Verantwortung“ verflüchtigt. Wenn Coca Cola die Lauf-App „Miles for Meals“ sponsert, einen Hilfsfond einrichtet oder als Groß-Caterer beim „Deutschen Tafel-Tag“ auftritt, dann zeigt sich einmal mehr, dass wir im Zeitalter der inszenierten Solidarität angekommen sind. Es ist heutzutage einfacher geworden, öffentliche Sympathie für rituelle Armutslinderung zu erhalten, als politische Legitimation für nachhaltige Armutsbekämpfung durch Realpolitik. Und es wird sicher nicht bei Coca Cola bleiben. Der Resonanzraum der Markentafeln sind die Markenfirmen dieses Landes. Dort wird die eigentliche Botschaft der „Tafeln“ sehr gut verstanden. Firma um Firma wird dazukommen, auf den Zug aufspringen und sich dem Reiz des „Social Washing“ mit einer inzwischen kaum mehr zu übertreffenden Perfektion hingeben. Und bei Coca Cola wird sie auch gleich im firmeneigenen Claim gespiegelt: „Mehr Wert für Sie“. Gemeint ist wohl eher Mehrwert im Sinne von mehr Umsatz.

Wertvoller wäre es, wenn in den Firmen selbst mehr soziale Verantwortung gelebt würde – dann gäbe es auch weniger Menschen, die als „Kunden“ die „Tafeln“ und ähnliche Almosensysteme aufsuchen müssen. Denn es gibt einen Zusammenhang zwischen dem eigentlich asozialen Verhalten in der neoliberalen Sphäre dieser Gesellschaft, den zahlreichen euphemistisch als „Freisetzungsprozessen“ titulierten Katastrophen unter dem Diktat vermeintlich ökonomischer Sachzwänge sowie dem Auftreten von „Tafeln“ und anderen eigentlich vormodernen armutslindernden Systemen zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Vielleicht sollte der Spruch „Weil zum Essen auch Trinken gehört“ einfach in „Weil zur Gerechtigkeit auch das Soziale gehört“ umgeändert werden. Aber das schafft wohl keinen Mehrwert mehr – zumindest glaubt (fast) niemand mehr daran. Und das ist die eigentliche Katastrophe – politisch, sozial und humanitär. So gesehen wäre es mir wirklich lieber, ich würde mich mit meinen Thesen irren, anstatt diese durch immer neue Projekte bestätigt zu sehen.


[«*] Autor:
Als öffentlicher Soziologe und Professor für „Gesellschaftlichen Wandel“ lehrt und forscht Stefan Selke an der Hochschule Furtwangen im Schwarzwald. 2013 gründete er das „Kritische Aktionsbündnis 20 Jahre Tafeln“.
Aktuelle Publikation zum Thema: Schamland. Die Armut mitten unter uns. ECON: Berlin, 2013.

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