Wochenrückblick: Merkwürdiges, Bedrohliches, eine neue Scharlatanerie von Rifkin

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Die Europäische Union, ihre – des Kommissionspräsidenten – Personalpolitik zu Gunsten der Finanzwirtschaft und die EU-Sanktionen gegen Russland, die politische Beteiligung rutscht ab, sichtbar an den letzten drei Landtagswahlen, die SPD nähert sich dem früheren Wahlziel der FDP von oben kommend: 18 % im Schnitt, und Gabriel sieht den Grund dafür in mangelnder Geschlossenheit, Rifkin hat ein neues Buch geschrieben. – Ein paar Anmerkungen zu Gesagtem und zu Hintergründen. Zum anecken und nachdenken. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

  1. Kommissionspräsident Juncker zeigt sein vermutetes Gesicht
    Wolfgang Lieb hat vor vier Tagen beschrieben, dass „der langjährige Regierungschef der größten Finanzoase des Kontinents und erwiesenermaßen einer der geschicktesten Vertreter der Macht der Banken einen Bankenlobbyisten aus der Londoner City als Kommissar für Finanzmarktstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmärkte“ in die Kommission holt, den konservativen Briten Jonathan Hill.

    Das ist kein gutes Omen. Wir werden als Steuerzahler weiter für die Wettschulden und Supergewinne der Finanzwirtschaft Inklusive Spekulanten zahlen müssen. So wie – jetzt gerade bekannt geworden – im Falle der HRE. Siehe hier in den Hinweisen von heute „Milliardenfehler bei Bad Bank“.

    Für die Besetzung des Kommissionspräsidenten-Stuhls mit Juncker warben im vergangenen Juni in einem eigens inszenierten Aufruf so bekannte Persönlichkeiten wie Habermas, Gustav Horn, Claus Offe u.a.m.. Am 10. Juni 2014 schrieb ich dazu: „Wie Meinungsmache funktioniert. Oder: Wie man aus dem Vertreter einer Steueroase die Hoffnung Europas machen kann.

    Das mindeste, was man jetzt erwarten kann, ist, dass die genannten Unterzeichner dieses Aufrufs gegen die Personalpolitik Junckers protestieren und vom Europäischen Parlament verlangen, gegen diese Personalbesetzung anzugehen. Bisher war kein Laut dazu zu hören. Man muss leider davon ausgehen, dass Unterzeichner wie Hans-Werner Sinn oder Tony Giddens durchaus wussten, was sie taten.

  2. Waffenstillstand in der Ostukraine und Verschärfung der Sanktionen. Wie passt das zusammen?

    Die Europäische Union hat am vergangenen Freitag die Verschärfung der Sanktionen gegen Russland beschlossen – mit allen Konsequenzen für Wirtschaft, Arbeitsplätze und die Verschärfung des Konfliktes. Es geht zu wie in einem schlechten Kindergarten. ‚Nimmst du mir mein Spielzeug weg, dann hau ich Dir eine runter. Und wenn du zurückschlägst, dann hole ich meinen großen Bruder.‘

    Was erfolgreich war in Europa, vertrauensbildende Maßnahmen, Abbau der Konfrontation und Aufbau von Sicherheitsstrukturen, wird mutwillig der Erosion preisgegeben.

    Einen interessanten Artikel zum Gesamtkonflikt zwischen dem Westen und Russland fand sich gestern in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung:

    Der Westen und Russland
    Intermezzo
    Ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang des Sowjetimperiums endet ein politisches Zwischenspiel: Russland kehrt mit dem Selbstbewusstsein und mit den Methoden einer Großmacht zurück. Was sollte der Westen jetzt tun? Ein Kommentar von Volker Zastrow

    Ich würde nicht jeden Satz unterschreiben, insbesondere nicht das Lob für die Ausdehnung der NATO. Aber die Gesamtübersicht des Autors ist hilfreich, wenn man den Artikel mit kritischem Verstand liest.

  3. 49,9 % Wahlbeteiligung im Schnitt der Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen

    In Thüringen sank die Wahlbeteiligung von 56,2 auf 52,7 %, in Brandenburg von 67 % auf 47,9 %, in Sachsen lag sie vor 14 Tagen bei 49,1 %.

    Diese Entwicklung müsste als Alarmzeichen gewertet werden. Offensichtlich erwarten immer mehr Menschen nichts mehr von der Politik. Das hat auch damit zu tun, dass es keine klaren Alternativen gibt. Im konkreten Fall von Thüringen hat sich die SPD nicht eindeutig für eine rot-rot-grüne Koalition entschieden. Damit fiel diese Alternative weg. Vermutlich trat zusätzlich ein Effekt ein, den man schon bei der zweiten Präsidentenwahl von Reagan beobachten konnte: die Deklassierten, also jene, die nichts mehr zu erwarten haben im Leben und von der Politik, ziehen sich zurück. Das ist eine Entwicklung, die den Vermögenden und Gutverdienenden gefallen kann. Die Mehrheiten für ihre Interessen sind leichter zu beschaffen.

  4. SPD im Schnitt der drei Wahlen bei 18,9 % – das Ende als mehrheitsfähige Partei ist da und damit – ohne Öffnung für ein Linksbündnis – auch jegliche Chance auf die Kanzlerschaft

    18 % hatte die FDP einmal angepeilt, von unten her sozusagen. Die SPD hat sich in den drei letzten Landtagswahlen dieser Ziffer von oben her genähert. 18,9 % im Schnitt der drei Landtagswahlen ist eine Katastrophe.

    Die Bundes-SPD sieht die Gründe für das schlechte Abschneiden in Thüringen bei der Landes-SPD und der dortigen Zerstrittenheit. Da ist vermutlich etwas dran, aber bei weitem nicht alles. Schließlich war das Ergebnis in Sachsen vor zwei Wochen mit der gleichen Ziffer von 12,4 % nicht besser als in Thüringen, obwohl es in Sachsen keinen Streit gab, und auch das Ergebnis von Brandenburg ist mit 31,9 % ja nicht überragend. Dort hatte die SPD 1994 54,1 %, 1999 39,3 % und 2009 immerhin noch 33 %.

    Für die SPD gilt eine alte Erfahrung: der Weg in die nächste Niederlage ist mit falschen Analysen vergangener Wahlen gepflastert.

    Die SPD Führung sollte, falls sie die Lage dieser Partei verbessern will, endlich wahrnehmen, woran es wirklich mangelt: an einem klaren und unterscheidbaren Profil, an der Alternative zur herrschenden neo-konservativen Seite, auch an einer gewissen Kontinuität zu bisherigen erfolgreichen Positionen in der Sache. Wichtige Sozialdemokraten treten fortwährend Menschen, die an wichtige Erfahrungen und Leistungen der Sozialdemokraten glauben, „in den Hintern“.

    An ein paar über die Medien sichtbar gewordenen Ereignissen soll sichtbar werden, was damit gemeint ist:

    • Sympathisanten der Sozialdemokraten haben gelernt, dass sozialdemokratische Grundsätze und Empfehlungen sich als erfolgreich erwiesen. Sie haben gelernt, wir sollen ein Volk der guten Nachbarn sein, wir sollten uns mit dem Osten verständigen, wir sollen pfleglich mit diesen Völkern umgehen, auch mit den Russen. Dann hören, lesen und sehen sie im Vorfeld der Wahlen beispielsweise, wie der sozialdemokratische Präsident des Europäischen Parlaments bei Maybritt Illner am 4. September insinuiert, was wir bis heute nicht wissen, dass mit den Russen verbundene Kräfte in der Ukraine das malaysische (er spricht vom niederländischen) Flugzeug abgeschossen haben sollen.
    • Der sozialdemokratische Außenminister Steinmeier wird zum Scharfmacher für Sanktionen gegen Russland. So kann man es in einem Artikel über die Wirkung der Sanktionen auf die deutsche Wirtschaft in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 14. September auf Seite 3 nachlesen.
    • Auch der SPD-Vorsitzende und Wirtschaftsminister Gabriel wirbt für Sanktionen – ohne Rücksicht auf die gerade von Sozialdemokraten vermittelte Erfahrung, dass zur Vertrauensbildung auch der Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gehört.
    • Sozialdemokraten haben den Deutschen beigebracht, dass man mit Nachbarn, die einem nicht gefallen, weil sie nicht sonderlich demokratisch organisiert sind und Menschenrechte mit Füßen treten, sinnvollerweise dennoch kooperiert, um so die Änderung im Inneren möglich zu machen. Wandel durch Annäherung, so hieß diese von Sozialdemokraten erfundene Strategie. Auch mit dieser Erfahrung brechen die heutigen sozialdemokratischen Führungspersonen. Kein Wunder, dass die besten Sozialdemokraten von der Fahne gehen.
    • Sozialdemokraten haben gelernt, dass militärische Operationen allenfalls infrage kommen, wenn Verhandlungen gescheitert sind. Seit dem Kosovo-/Jugoslawien-Krieg von 1999 sind Sozialdemokraten wie Grüne zusammen mit den Christdemokraten und Christsozialen Vorreiter militärischer Einsätze. Jede und jeder Leser dieser Zeilen wird in seinem Umfeld politisch engagierte Menschen kennen, die deshalb der Sozialdemokratie den Rücken gekehrt haben.
    • Sozialdemokraten waren mal berühmt für ihre aktive Beschäftigungspolitik und auch dafür, dass sie den Anteil der Lohnabhängigen am Volkseinkommen erhöhen wollten und erhöht haben. Seit Monaten und Jahren regieren Sozialdemokraten mit oder stellen sogar wie 1999 bis 2005 den Bundeskanzler und haben es immer noch nicht geschafft, auf dem Arbeitsmarkt Waffengleichheit herzustellen und damit dafür zu sorgen, dass die Löhne und die Lohnquote steigen.
    • Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte sich die heutige Sozialdemokratie aus der Verschränkung mit der Agenda 2010 und mit Hartz IV und mit der Zerstörung wichtiger sozialstaatlicher Regelungen wie der gesetzlichen Rente lösen. Aber diese schmerzhaften Lösungsversuche sind abgebrochen worden. Die jetzt führenden Personen haben sich offenbar auf die Strategie verständigt: Augen zu und durch, die Agenda 2010 über den grünen Klee loben und behaupten, ihr verdankten wir unsere angeblich wunderbare ökonomische Lage.

    Wenn die SPD Führung wollte, könnte sie die Position dieser Partei wieder ausbauen und auch eine Option für einen politischen Wechsel eröffnen. Das wäre nicht schwierig, weil für die meisten der von ihr verlassenen Positionen immer noch Mehrheiten zu mobilisieren wären: für die friedliche Lösung von Konflikten und entsprechende Distanz zu den USA und zu Großbritannien, für den neuerlichen Abbau der Konfrontation zwischen West und Ost, für ökonomische Vernunft und aktive Beschäftigungspolitik, für einen starken Staat und entsprechenden Ausbau der Infrastruktur, für soziale Sicherheit und Sozialstaatlichkeit, für die Beschränkung der Macht der Finanzwirtschaft und eine fairere Einkommens- und Vermögensverteilung.

  5. Jeremy Rifkin ist wieder einmal auf der Bühne – mit einem neuen Buch, ein bewundernswerter Scharlatan

    Ich bekenne freimütig, dass ich schon einmal ein Buch dieses Autors zu lesen versucht habe: „Das Ende der Arbeit“. Jetzt ist „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft: Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus“ auf dem Markt.

    Mit dem „Ende der Arbeit“ habe ich mir vor einigen Jahren einen Nachmittag meines Urlaubs verdorben, weil der Versuch des Autors, seine steile These mithilfe einer Abfolge von Assoziationen zu begründen auf den Nerv ging.

    Kaum ist bestätigt, dass die Arbeit entgegen seiner Prognose nicht ausgegangen ist und Deutschland zum Beispiel seinen industriellen Kern behalten hat, da kommt der Autor Rifkin mit einem neuen Roman und mit einer grandiosen, bewundernswerten Öffentlichkeitsarbeit. So zum Beispiel eine ganze Seite in der FAZ:

    Der Ökonom Jeremy Rifkin liebt große Thesen, jetzt verkündet er den Niedergang des Kapitalismus und den Beginn einer sozialen Gemeinschaft. Das klingt nach einer naiven Utopie. Aber ist es überhaupt eine?

    Rifkin war auch schon bei Maybrit Illner: “Bieten, mieten, tauschen”.

    „Den Rückzug des Kapitalismus“, den Rifkin vorhersagt, werden wir genauso wenig erleben wie den Beginn einer sozialen Gemeinschaft. Aber zugegeben, es lässt sich so wunderbar über Rifkins Ideen und Prognosen schwadronieren – immer vorausgesetzt, man hat etwas übrig für assoziative Argumentationsmuster. Und ein netter Herr ist er ja auch. Und sein Verlag in Deutschland, Campus, angesehen und insgesamt bewundernswert.

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