Leserbrief zum Nato-Gipfel Anfang September in Wales.

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Anmerkung: Wir halten den Brief für sehr interessant, d.h. allerdings nicht, dass wir alle Aussagen überprüft haben und uns Schlussfolgerungen und Bewertungen zu eigen machen.

den 14.10.2014

Sehr geehrter Herr Müller,
 
der Brief eines Lesers zur Position des NATO-Generalsekretärs, den Sie am 1.10.2014 in die NDS gestellt haben, veranlasst mich, Ihnen zu schreiben.
 
Eine job description für den Generalsekretär der NATO hätte ich schon lange gern eingesehen. Insbesondere möchte man wissen, welche Stufe der clearance die NATO ihm einräumt. Was uns Herr Rasmussen in letzter Zeit zu sagen hatte, war ja schnell gesagt und wurde uns monatelang vor Augen gehalten und in die Ohren geblasen.
 
Eine Stufe interessanter waren allerdings die seltener in Nato.int. veröffentlichten Ansprachen seines amerikanischen Stellvertreters, ehemaligem U.S. Botschafter in Moskau und Tokio, den man nicht anders als einen Top-Diplomaten sehen kann.
 

  1. Die NATO und die deutschen Medien
     
    Die Medien haben noch nicht einmal ansatzweise den Versuch gemacht, die Bündnisstruktur der Nato zu erklären. Ohne diese Struktur zu kennen, versteht man Zusammenhänge von Nachrichten nicht. (nato.int/cps/en/natolive/nato_countries)

    Kurz gefasst:

    1. Jedes Land schließt seinen eigenen Vertrag mit der NATO ab.
      –  Aus dieser Struktur ergibt sich, dass alle NATO-Einsätze nolens volens Koalitionen der Willigen sind. –
    2. Einschließlich der USA, Kanada und Island besteht das NATO-Bündnis, wie bekannt, aus 28 europäischen Mitgliedsländern. Sie bilden den Nordatlantikrat.
    3. Zu diesen Mitgliedsländen kommen die nur fallweise als solche bekannten 22 Partner. Diese sind: Armenien,  Aserbaidschan, Bosnien-Herzegowina, Finnland, Mazedonien, Georgien, Irland, Kasachstan, Kirgistan, Malta, Moldau, Montenegro, Österreich, Russland (derzeit suspendiert), Serbien, Schweden, Schweiz, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan, Weißrussland.
      Zusammen mit den NATO-Mitgliedsstaaten bilden sie den Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC).
    4. Im „Mittelmeer-Dialog“ (MD) der NATO sind Algerien, Ägypten, Israel, Jordanien, Marokko, Mauretanien, Tunesien vereint.
    5. Zur Instanbul Cooperative Initiative (ICI) gehören Bahrein, Katar, Kuwait, die Vereinigten Arabischen Emirate.
    6. Partners across the globe sind Afghanistan, Australien, Irak, Japan, Pakistan, Südkorea, Neuseeland, die Mongolei.
      – Als „Partner across the globe“ beteiligt sich Australien am Kampf gegen die IS. –
    7. Internationale Organisationen
      „In addition to its partnerships with countries, NATO cooperates with a range of international organizations.“
      Hier sind aufgeführt: Die UN, die EU und die OSCE.
      -Die NATO kooperiert also mit der EU nach Bedarf. –
       
      Die NATO-Botschafter in Brüssel treten wöchentlich miteinander in Kontakt.
      – oder vielleicht auch nicht, oder nicht immer alle… Auch Partnerländer sind bei der NATO Brüssel akkreditiert, z.B. die Ukraine. –

      Die NATO lädt die Außenminister der Mitglieder halbjährlich zu einem Treffen ein.

      Alle zwei Jahre findet auf Einladung der NATO ein Gipfel der Mitglieder des Nordatlantikrats auf Ebene der Staats- und Regierungschefs statt.

      – Der letzte dieser Gipfel war in Wales Anfang September 2014. –

     
    Vor diesem Gipfel haben sich die Medien weitgehend darauf beschränkt, das zu paraphrasieren, was der NATO-Generalsekretär unermüdlich verkündet hatte. Dadurch gab es vom Gipfel und über den Gipfel wenig Neues, auf das man nicht schon vorbereitet war. Die öffentliche Diskussion beschränkt sich weitgehend auf den deutschen Beitrag zur NATO. Die Pannen mit der Ausrüstung sind bekannt geworden, die Foltervideos aus deutschen Flüchtlingslagern nach Abu Graibh-Vorbild ebenso – eine Gemengelage mit Shitstormpotential. Im Bündniskreis wird die Bundesverteidigungsministerien jetzt vielleicht durch Empathie gestützt und man gibt ihr zu verstehen, dass man sie noch liebhat, und die Deutschen auch. Sie dankt es mit Schneid.

    Heute hat der Kampf gegen den IS-Terror Priorität, morgen wieder die Ukrainekrise. Die Medien helfen dabei, dass die Salamitaktik funktioniert: Die Deutschen werden sich nur scheibchenweise darüber klar, wie der Feuerbogen entlang der afrikanischen Mittelmeerküste und im Nahen Osten sich in Richtung Kaukasusländer – also in Partnerländer, die sie alle sind – ausweitet und Deutschland bereits gegen die IS und in der Ukraine mit steigendem Einsatz am Kampfgeschehen als williger Koalitionär beteiligt ist. –

  2. Deutschland und Polen am Tag der Deutschen Einheit 2014
     
    Die Eskalation im Ukrainekonflikt hat einen Riss in der Sichtweise – auch der Interessen – zwischen alten NATO-Ländern, insbesondere Deutschland, und den Ländern der Osterweiterung, insbesondere Polen, offengelegt. Die NATO verfolgt eine Intermarium-Strategie von Estland bis zur Krim. Wer hierzulande auch nur auf das historisch parallele Interesse Russlands am Zugang zu Ostsee und Schwarzmeer verweist, wird seither als „Putin-Versteher“ disqualifiziert.
     
    Weshalb schweigen die Medien den Riss innerhalb der europäischen NATO-Länder tot? Weil er geographisch zwar der Länge nach durch Europa verläuft, dies aber einer globalen Strategie untergeordnet wird?
     
    Es kann jeder von uns sich vorstellen, wie eng die historischen Bindungen Polens mit Litauen und der Ukraine über Jahrhunderte gewesen sind; jeder hat mehr oder weniger Kenntnisse über die unseligen „polnischen Teilungen“ – auch dies ein wertfreier historischer Begriff, wie „Landnahme“ ein juristischer – und auch darüber, welche Gefühle die grauenvollen Erinnerungen an Nazi-Deutschland und an die Sowjetunion bei der polnischen Bevölkerung lebendig sein müssen. Mit anderen Worten: Der politische Prozess hinkt hoffnungslos hinter den militärischen Entwicklungen her. Es wird noch lange dauern bis diese Wunden zu Narben geworden sind. An diesem hoffentlich friedenstiftenden Heilungsprozess sollte mittun, wer immer es ernst meint mit Europa. Militärischer Schulterschluss und die Interoperabilität der Waffensysteme bringt uns da nichts.
     
    Gerade bei Gedenkfeiern an die europäischen Befreiungsbewegungen von 25 Jahren muss man sich an Willy Brandts Worte erinnern, „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Er wusste, dass mit dem Fall der Mauer der Prozess der Vereinigung gerade erst begonnen hatte. Er ist es gewesen, der sich den „Eisernen Vorhang“ zwischen Kommunismus und Demokratie zuerst weggedacht und dann durch seine Ostpolitik gegen alle Widerstände durchgängig gemacht hat – auch für seinen Gang nach Warschau und den Kniefall am 7. Dezember 1970. Dazu z.B.: Richard von Weizsäcker „Es begann in Polen – Brandts Kniefall ermöglichte EU-Osterweiterung“ (zeit.de/2000/50/200050_kniefall).

    Die Revolution in Polen und die Ostpolitik Brandts werden bis heute in den beiden Ländern unterschiedlich gesehen, obwohl das Ziel das gleiche war, nämlich die Loslösung von der Diktatur der Sowjetunion. Nach dem Krieg umklammerte der Kommunismus Polen und die DDR weiterhin, die Deutschen im Westen befanden sich auf der Seite der Demokratien. Die BRD ist wegen des Ost-West-Konflikts bereits wiederbewaffnet worden, als wir erst damit begonnen hatten – eher aufgezwungen als aus eigenem Entsetzen – den Zivilisationsbruch der Nazijahre im eigenen Bewusstsein zuzulassen, dazu auch noch unter dem unsäglichen, distanzstiftenden Wort „Vergangenheitsbewältigung.“ In der DDR ist es unter anderen Vorzeichen gelaufen; ich war nicht dabei. Und die deutsch-polnischen Beziehungen nach 1989? Sicher haben sich viele darum bemüht, auch Politiker. Doch seit Jahren, gar Jahrzehnten, ist von einem gemeinsamen Deutsch-Polnischen Geschichtsbuch die Rede. Am 10. Dezember 2012 veröffentlichte die Kultusministerkonferenz den Abschluss eines Vertrags für die Herausgabe eines (dieses einen?) Buchs mit dem Universum-Verlag, das im Schuljahr 2014/15 eingeführt werden sollte (kmk.org/presse…) Im Netz habe ich keinen späteren Eintrag über das Projekt gefunden, auch nicht bei Universum.

  3. NATO/EU/EU-Parlament/Medien

    Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine regelt die wirtschaftlichen Belange der Integration des Landes in die EU, und die EU hat damit alle Hände voll zu tun. Die Medien berichteten über das Hin und Her. Die gleichzeitige Entwicklung der Ukraine in die NATO vom Status der Partners zu dem eines Bündnismitglieds findet mit Begleitung der bekannten politischen Eskalationen statt. Von der Außenbeauftragten der EU haben die Medien im Ukrainekonflikt bei NATO-Terminen Schulterschluss und zustimmendes Händeschütteln übertragen und vermutlich ist ihnen dabei noch nicht einmal ein Versäumnis anzulasten. Aus dem Straßburger Parlament allerdings haben die Öffentlichen sich darauf beschränkt, der Grünen-Abgeordneten Rebecca Harms, Mitglied der EU-Ukraine Delegation, das Mikrofon hinzuhalten. Auch das war alles andere als ausgewogen. Falls es Kommentare zu den dünnen Fäden der Beziehungen zwischen NATO/EU/EU-Parlament gegeben hat, habe ich sie verpasst. Der politische Prozess der Koordinierung zwischen EU und NATO erfährt kaum Öffentlichkeit. Und was immer der politische Einfluss von EU-Mitgliedsstaaten auf die NATO-Strategie sein mag, ist unbekannt und a priori zersplittert.
     
    – In Wales hat nun der Nordatlantikrat erklärt, die Zusammenarbeit mit der EU „auszubauen.“ (Siehe D. Punkt 99)

    ­Nachbemerkung: Der ARD-Programmbeirat hat kürzlich die einseitige Ukraine-Berichterstattung der Öffentlichen gerügt, auch bezüglich der OSZE-Beobachtermission. Der im Netz vorliegende Text führt zahlreiche Kritikpunkte auf, enthält sich aber einer Definition der möglichen Gründe. Hypothese: Indem die Ukraine sich anmaß, die von ihr selbst ins Leben gerufene und von Deutschland geführte ersten Beobachtergruppe unzutreffend als OSZE-Beobachtermission zu bezeichnen, hat sie versucht, die OSZE für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Um diesen Makel zu verschleiern, der auch nicht ins Bild der allgemeinen Berichterstattung gepasst hätte, haben die Medien den Tatbestand verballhornt. Erst als diese Beobachter von den ukrainischen Aufständischen gefangen genommen worden waren, ist die OSZE ihrem Auftrag gemäß bei der Befreiung tätig geworden.

  4.  

  5. Die Gipfelerklärung von Wales
     
    Treffen des Nordatlantikrats auf Ebene der Staats- und Regierungschefs in Wales – veröffentlicht am 5. September 2014 von der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Nordatlantikvertrags-Organisation Brüssel (nato.diplo.de). Englisch:(nato.int/cps/en/natohq/official_texts_112964).
     
    Diese „transatlantische Erklärung“ definiert Übungspläne mit den dazugehörigen Waffensystemen für die Bündnispartner des Nato-Bündnisses im gegenwärtigen Kontext der kollektiven Verteidigung, der Krisenbewältigung und der kooperativen Sicherheit. Sie bestehen aus 113 Punkten; die Medien sind nur auf wenige eingegangen. Soweit ich in der Lage bin das zu überblicken, handelt es sich dabei vorwiegend um solche Punkte, die bereits vor dem Gipfel durch Herrn Rasmussen in Umlauf gebracht worden waren. Dabei wäre die Vermittlung des gesamten Inhalts, auch von Neuausrichtungen im Vergleich zu vorangehenden Gipfelerklärungen, den Schweiß der Fähigen wert. Ich kann nur auf wenige Punkte aufmerksam machen:

    Punkt 3)

    „…Wir bekräftigen unser starkes Bekenntnis zur kollektiven Verteidigung und dazu, Sicherheit für alle Bündnispartner zu gewährleisten und ihnen Zusicherung zu geben;…“

    – „Bekenntnis zur kollektiven Verteidigung“ – also auch zum Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags? Und nur für die Mitgliedsstaaten (A.2), wiewohl nicht erwähnt?

    – „…und dazu, Sicherheit für alle Bündnispartner zu gewährleisten“ – hier taucht zum ersten Mal das Wort „Bündnispartner“ auf. Damit sind auch die NATO-Partner des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats gemeint. Das wären dann die unter A.3) gelisteten Partner von Moldau (mit Transnistrien?) bis Kasachstan.

    – Welche Umstände, welche Ereignisse lösen diese Gewährleistung aus? Wer entscheidet darüber, ob der Gewährleistungsfall eingetreten ist? Diese Länder befinden sich in verschiedenen Stufen der Entwicklung vom Status des Partners zu dem des Mitglieds im Bündnis; die Kontakte werden gepflegt; die schlafenden Konflikte sind bekannt.

    – Frau von der Leyen fordert ebenfalls deutsche Zuverlässigkeit für die „Bündnispartner“ ein und man denkt, sie meint damit nur die Mitgliedsstaaten. –

    Punkt 4)

    Hier werden „all die mutigen Männer und Frauen aus den Bündnis- und Partnernationen, die in NATO-geführten Operationen und Mission gedient haben und weiter dienen“ gewürdigt.

    – Es ist klar, was hier gemeint ist. Als „Partnernationen“ bezeichnet die NATO hier alle Länder, die sich an Einsätzen beteiligt haben. Mutmaßlich bedeutet „Partnernationen“ daher sämtliche Länder in der NATO-Struktur.

    Punkt 5)

    Der Aktionsplan der NATO zur Reaktionsfähigkeit „enthält ein kohärentes und umfassendes Paket an erforderlichen Maßnahmen zur Reaktion auf die für die Bündnispartner belangreichen Veränderungen des Sicherheitsumfelds an den Grenzen der NATO und darüber hinaus. Damit wird auf die Herausforderungen durch Russland und auf ihre strategischen Auswirkungen eingegangen. Auch wird damit auf die Risiken und Bedrohungen aus unserer südlichen Nachbarschaft – dem Nahen Osten und Nordafrika – reagiert. …“

    – Besagt „an den Grenzen der NATO“ hier die Mitgliedsländer A.2), die Partnerländer A.3), die des „Mittelmeer-Dialogs“ A.4), die der „Istanbul Cooperative Initiative“ A.5)? Was besagt „und darüber hinaus“?

    „…ein kohärentes und umfassendes Paket…und darüber hinaus“ – das haben die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses hier in der Tat „gebilligt“ und abgezeichnet; und dieses Paket erscheint in unüberschaubarem Umfang zukunftsträchtig. –

    Punkt 8)

    „Die Anpassungsmaßnahmen beinhalten die erforderlichen Bestandteile, um zu gewährleisten, dass das Bündnis den Herausforderungen im Sicherheitsbereich, denen es entgegentreten könnte, in vollem Umfang begegnen kann… Als Teil dessen (nämlich der NATO-Reaktionsstreitkräfte NRF) werden wir eine streitkräftegemeinsame NRF-Einheit in höchster Bereitschaft (VJTF) aufstellen; dieser neue Verband der NATO wird in der Lage sein, innerhalb weniger Tage disloziert zu werden, um auf Herausforderungen zu reagieren, die insbesondere an der Peripherie der NATO entstehen…Wir werden mit Beiträgen der Bündnispartner auch ein angemessenes Hauptquartier und einige zu allen Zeiten feststehende Unterstützungselemente für Verstärkungskräfte in den Hoheitsgebieten der östlichen Bündnispartner auf Rotationsbasis schaffen,…Erforderlichenfalls werden die Elemente des VJTF es auch erleichtern, die Bündnispartner an der Peripherie der NATO im Hinblick auf Abschreckung und kollektive Verteidigung zu verstärken. Wir werden die Fähigkeit der NATO weiter ausbauen, diese Bündnispartner schnell und effektiv zu verstärken, auch über die Vorbereitung von Infrastruktur, die Vorauseinlagerung von Ausrüstung und Nachschub sowie die Bestimmung bestimmter Stützpunkte…Wir werden außerdem sicherstellen, dass die Streitkräfte unseres Bündnisses die angemessene Reaktionsfähigkeit und Kohärenz wahren, die erforderlich ist, um die ganze Bandbreite der Aufträge der NATO zu erfüllen, einschließlich der Abschreckung von Aggressionen gegenüber NATO-Bündnispartnern und der Demonstration von Bereitschaft zur Verteidigung des Bündnisgebiets.

    – Ich gehe davon aus, dass es die Staats- und Regierungschefs der 28 Mitglieder gewesen sind, die diese Gipfelerklärung unterschrieben haben, denn es ist eine Gipfelerklärung des Nordatlantikrats und dass die NATO zu diesem Gipfel auch Chefs aus Partnerländern des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats eingeladen hatten, die als noch-nicht-Mitglieder das Papier nicht unterschreiben konnten. Dass eine Einheit höchster Bereitschaft für die nördlichen NATO-Mitglieder aufgestellt werden soll, war bekannt. Doch hier beschlossenen Maßnahmen beziehen sich auch auf die „Hoheitsgebiete der östlichen Bündnispartner,“ also auf die Länder unter A.3), und daher auch nicht allein auf die Ukraine.

    – Zudem stößt die Konjunktivstruktur des ersten Satzes („könnte“) an die Grenze der Vorstellung. –

    Punkt 89)

    „Heute haben wir beschlossen, eine Initiative zum Aufbau von Verteidigungs- und zugehörigen Sicherheitskapazitäten bekannt zu geben, um unser Engagement gegenüber Partnernationen zu stärken und dem Bündnis dabei zu helfen, Stabilität ohne Dislozierung großer Kampftruppen über die Bündnisgrenzen hinaus zu tragen, und zwar als Teil des Gesamtbeitrages des Bündnisses zur Sicherheit und Stabilität auf der Welt sowie zur Konfliktprävention. Die Initiative stützt sich auf den umfangreichen Sachverstand der NATO bei der Unterstützung und Beratung von Nationen beim Aufbau von Verteidigungs- und zugehörigen Sicherheitskapazitäten. Aufbauend auf unserer engen Zusammenarbeit mit Georgien, Jordanien und der Republik Moldau haben wir nach deren Ersuchen vereinbart, diese Initiative auf diese Länder auszurichten. Wir sind auch bereit, Ersuche anderer interessierter Partner und Nichtpartner zu prüfen und mit internationalen und regionalen Organisationen in einen Dialog einzutreten, die ein Interesse an einem Aufbau ihrer Verteidigungs- und zugehörigen Sicherheitskapazitäten über diese nachfrageabhängige Initiative zeigen. Wir bekräftigen die Bereitschaft der NATO, beratende Unterstützung zu Verteidigungs- und zugehörigen Sicherheitskapazitäten für Libyen zu leisten, wenn die Umstände es erlauben. Wir werden diese Anstrengungen in angemessenem Maße ergänzend zu und in enger Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, unternehmen. Auch können manche Partnernationen selbst einzigartige Erkenntnisse und Beiträge zu den Anstrengungen der NATO beim Kapazitätenaufbau einbringen. Wir begrüßen die Ernennung des stellvertretenden Generalsekretärs der NATO zum Sonderkoordinator für den Aufbau von Verteidigungskapazitäten sowie die Schaffung einer militärischen Schaltstelle in der NATO-Kommandostruktur, mit der eine zeitnahe, kohärente und effektive Reaktion der NATO unter Berücksichtigung der freiwillig geleisteten Anstrengungen der Partner und einzelnen Bündnispartner gewährleistet werden kann.“
     
    – Dieses Zitat ist der gesamte Text von Punkt 89). –

    – Hier wird der Beschluss, „eine Initiative bekannt zu geben“ bekannt gegeben.

    – Die Bundeskanzlerin hat eine “Initiative zum Aufbau von Verteidigungs- und zugehörigen Sicherheitskapazitäten, um „unser Engagement gegenüber Partnernationen zu stärken… ” unterschrieben, die auf die Sicherheit Moldaus und Georgiens (beides Partnerländer) und Jordaniens (im “Mittelmeer-Dialog”) auszurichten ist. Frau von der Leyen kann sich, wann immer nötig, darauf berufen. Und für Libyen steht das Bündnis ebenfalls bereit, “wenn es die Umstände erlauben”.

    – Als „militärische Schaltstelle“ in der NATO-Kommandostruktur hat der hier ernannte Sonderkoordinator Machtfülle erhalten. Ist er jetzt ausschließlich der Sonderkoordinator oder bleibt er auch der stellvertretende Generalsekretär?

    – Der derzeitige stellvertretende Generalsekretär ist der U.S.- Diplomat Alexander Vershkow (Wikipedia). In Ansprachen am 4.4.2014 in Krakau (nato.int/cps/en/natolive/opinions_108889.htm) und am 6.6.2014 in Warschau (nato.int/cps/en/natolive/opinions_110902.htm) führte er eine Reihe von Punkten an, die in der späteren Gipfelerklärung in Wales vom 5.9.2014 enthalten sind. Auf dem Global Forum in Warschau spricht er z.B. von „…enhancing our intelligence and awareness capabilities, pre-positioning equipment and supplies further East, and carrying out more high-intensity military exercises in more demanding scenarios.“ (Dem Text von Punkt 8) ist zu entnehmen, dass „pre-positioning equipment and supplies“ mit „Vorauseinlagerung von Ausrüstung und Nachschub“ übersetzt wird.)

    – Die in Punkt 89) bekannt gegebene „nachfrageabhängige Initiative“ der NATO erscheint wie das Antonym zu „Supply-side Economics“, der „angebotsorientierten Wirtschaftspolitik“ Amerikas seit den siebziger Jahren, die als Milton Friedmans Monetarismus die gesamte Finanz- und Weltwirtschaft auf den heutigen Stand gebracht hat und in deren Verlauf TTIP und CETA die vorerst letzten Glieder der Kette sind. Durch die gewählte Terminologie drängt sich dieser Gedanke auf.

    – Überdies kommt dem in solchen Dokumenten ungeübten Leser dieser Text vor wie aus „Mergers & Aquisitions“ eines Großunternehmens, wiewohl deren Unternehmensausblicke es nicht mit dem konkurrenzlosen Machtumfang der NATO aufnehmen könnten. Ob dieser Text noch der Überarbeitung eines linguistisch versierten Werbefachmanns bedarf, sei dahingestellt. Man stellt sich die Frage, bis zu welchem Grad dieses für den Einzelnen schier unüberschaubaren militärischen Kosmos sich die Unterzeichner der Erklärung von Wales, die Staats- und Regierungschefs, überhaupt kundig machen konnten. Vermittels vorzugsweise multidimensionaler Charts und Diagramme aus dem Fundus der Datenbanken wäre ein Überblick eher übersichtlich als in der hier eingesetzten “epischen” Sprachversion. Die Garde der 4. Gewalt im Staat und die Fachleute sind gefragt. –

    Punkt 92)

    Hier wird die Politik der offenen Tür nach Artikel 10 des Washingtoner Vertrags bekräftigt: „Wir bekräftigen unser starkes Bekenntnis zur euro-atlantischen Integration der Partner, die nach einer Mitgliedschaft im Bündnis streben“… „Beschlüsse über eine Erweiterung fasst die NATO selbst.“

    – Der letzte Satz ist vermutlich der kürzeste des gesamten Dokuments – aber wer ist die „NATO selbst?“ Für den Beitritt in die EU ist die Zustimmung aller Mitglieder erforderlich. Ist das auch für die Mitgliedschaft in der NATO der Fall? Das „starke Bekenntnis zur euro-atlantischen Integration der Partner“, das die Staats- und Regierungschefs in Wales unterschrieben haben, mag ausreichen. Länder, die jetzt den Status von Partnern haben (A.3), werden ja intensiv auf die Mitgliedschaft vorbereitet und in Punkt 3) wird bekräftigt, für sie Sicherheit zu gewährleisten. Also wird man sich vorher überlegen, ob man sie im Bündnis haben will. Es ist schwer vorstellbar, dass der Übertritt eines NATO-Partners in die Mitgliedschaft auf vergleichbare, öffentlich gemachte Schwierigkeiten stößt wie der Eintritt der Türkei in die EU.

    – Mit dem Wort „Erweiterung“ fühlt man sich auch nicht richtig wohl, da ja die Partner bereits Partner sind, denen auf dem Weg zur Mitgliedschaft – nicht nur militärisch sondern auch politisch und wirtschaftlich – geholfen wird. Mit der „offenen Tür“ sind auch die wenigen Länder gemeint, die noch keine Partner sind, beispielsweise Afghanistan.

    Punkt 99)

    „Im Lichte der operationellen Erfahrungen der NATO und des sich verändernden, komplexen Sicherheitsumfelds ist ein umfassender politischer, ziviler und militärischer Ansatz bei der Krisenbewältigung und der kooperativen Sicherheit von wesentlicher Bedeutung. … Der umfassende Ansatz fördert mehr Kohärenz innerhalb der eigenen Strukturen und Aktivitäten der NATO. Darüber hinaus hat die NATO eine bescheidene, aber angemessene zivile Fähigkeit im Einklang mit den Beschlüssen des Gipfeltreffens in Lissabon entwickelt. Als Teil des Beitrags der NATO zu einem umfassenden Ansatz der internationalen Gemeinschaft werden wir die Zusammenarbeit mit Partnernationen und mit anderen Akteuren, einschließlich anderer internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sowie mit nichtstaatlichen Organisationen im Einklang mit unseren gefassten Beschlüssen ausbauen. …“

    – Und was sagen „andere Akteure“, wie die EU, zu der von der NATO entwickelten „bescheidenen, aber angemessenen zivilen Fähigkeit“ und dem in Aussicht gestellten Ausbau der Zusammenarbeit? Fand die EU die Zusammenarbeit bisher zufriedenstellend? Und wenn nicht, dann hat man bisher auch dazu wenig gehört.

    – Siehe auch: (nato.diplo.de./Vertretung/nato/de/06/Gipfelerklärungen/wales-gipfel-2913.html)
    – Erklärung von Wales zu den Streitkräften
    – Erklärung von Wales zu Afghanistan
    – Erklärung von Wales zum transatlantischen Bund
    – Gemeinsame Erklärung der NATO-Ukraine-Kommission

    – Mit den Flüchtlingen aus den Krisengebieten hat sich der Gipfel nicht befasst. –

    Meine Überlegungen zu der Gipfelerklärung von Wales sind laienhaft. Mit militärischen Belangen bin ich nicht vertraut. Ich habe einen deutschen Personalausweis und wollte mich über Entscheidungen informieren, die auf dem Gipfel getroffen worden sind. Wenn die höchsten demokratisch gewählten Repräsentanten der Staaten des westlichen Bündnisses von den obersten Befehlshabern über alle Waffensysteme, die der NATO „selbst“ zur Verfügung stehen, zu einem Gipfel geladen werden, geht es gegenwärtig um alles, was für unsere Lebensumstände wichtig ist.

    Von dieser Gipfelerklärung habe ich nicht viel verstanden. Verschachtelte Sätze in Teile zu zerlegen, brachte wenig. Was die Begriffe beinhalten, kann ich nicht abschätzen. Von den Folgen derer Umsetzungen ganz zu schweigen. Selbst wenn diese definiert wären, wären sie nicht absehbar. Die Gefahren, die ich sehe und die Befürchtungen, die ich hege, haben sich nicht vermindert. Ich habe einen Eindruck gewonnen vom Kosmos des Militärischen Sektors.

    Überdies bin ich nicht in der Lage, mich mit allen 113 Punkten der Erklärung zu befassen. Daher ist die Auswahl der oben angeführten Zitate zufällig.

  6. Big Data und das Handy der Kanzlerin
     
    Die deutsche Öffentlichkeit ist überschwemmt von Trivia. So war das Abhören von Frau Merkels Handy zuvörderst Sensation. Durch die Enthüllungen Snowdens hat nun jeder einen Begriff von globalen Datenbanken. Der Staubsauger des Datensammelns kennt keine unzugänglichen Ecken. Datenbanken werden zusammengeführt, nach festgelegten Programmen gefiltert, wiederholt gefiltert, kategorisiert, sind variabel auf jeder Ebene abrufbar, usw. Auf den obersten Ebenen spucken sie wohl überschaubare Handlungsalternativen für Entscheidungsträger aus. Nach welchen Gesichtspunkten definiert, kategorisiert, programmiert, korrigiert, mehr oder weniger intelligent ausgewertet und mehr oder weniger objektiv überwacht wird, bleibt geheim. Auch Snowdens Enthüllungen werden wohl eher das breite Spektrum dessen darlegen, was alles gesammelt wird, weniger auf die Frage „für was?“ aussagen. Der staatlichen (und nicht-staatlichen) Sammelwut beizukommen, ist bis jetzt weder der Legislative mit parlamentarischem Untersuchungsausschuss noch Justitia gelungen. 
     
    – Dass Informationen aus dem Handy der Bundeskanzlerin der BRD in diesem System von hohem Interesse sind und nicht schon auf unteren Ebenen ausgefiltert werden, darf man annehmen. Die Frage nach Freundschaft gehört dabei ins Poesiealbum und auf die Boulevards. Aber dass das Handy der Kanzlerin für die NSA interessant sein sollte, ist nicht der Punkt, ist sie doch glaubhaft für die Prävention von Terrorismus zuständig. Und wenn es die NSA ist, die Staubsauger betätigt, was ich nicht weiß, so ist sie allerdings nicht die einzige Behörde der Exekutive, die Daten nutzt.
     
    Der amerikanische Technologievorsprung basiert vorwiegend auf militärischen Forschungen und die Informationstechnologie ist ein wichtiger Faktor im Führungsanspruch. Reagan verkündete Anfang der achtziger Jahre ein Raketenabwehrsystem, das auch „Krieg der Sterne“ genannt wurde und an dessen Realisierung viele damals nicht glaubten. Heute gehört Cyber- und Raketenabwehr zu jedem NATO-Manöver. Auch die 113 Punkte-Zusammenstellung des Wales Gipfels ist ohne Rechnerprogramm nicht denkbar. Dieses Dokument ist die Auswertung einer engmaschigen virtuellen Welt, die durch Einspeisungen up-to-date gehalten wird. Selbstverständlich haben hier die Äußerungen der deutschen Bundeskanzlerin einen Stellenwert. Nach Auswertungen und Strategieentscheidung an der Spitze gehen Handlungsanweisungen und -befugnisse auf den Weg der Umsetzung. Das Datennetz ist keine Einbahnstraße der Staubsauger, sondern ein Polymernetzwerk mit Zu- und Abgängen.  

    In diesem geschichtsträchtigen Jahr ist von klugen Köpfen viel über die Schlafwandler des vergangenen Jahrhunderts gesprochen und geschrieben worden. Man mag sich nicht vorstellen, was noch geschehen muss, bis die Foren der Öffentlichen – weder mit allgemein bekannten Köpfen und deren allgemein bekannten divergierenden Meinungen, noch auf Boulevardniveau – eine Enthüllung wie „Fuck the EU“ zum Anlass nehmen, dem Kontext vom Stand der Dinge in den atlantischen Beziehungen nachzugehen. Wo immer man in den atlantischen Netzwerken darüber spricht, wenn überhaupt, ist es wohl unter vorgehaltener Hand.

  7. Demokratie und der Primat der Politik

    Ohne den Primat der Politik ist Demokratie eine Chimäre.

    Wie schwach die Politik gegenüber Wirtschaft und Finanzwesen ist, haben wir im vergangenen Jahrzehnt gelernt und sehen es immer noch bei CETA, den Geheimverhandlungen TTIP in der EU, oder der Börsentransaktionsteuer. Die Frage ist letztlich, ob die Soziale Marktwirtschaft, unser „dritter Weg,“ überleben kann oder das Adjektiv „sozial“ gestrichen werden muss.

    Bei der Frage des Primats der Politik über den militärischen Sektor stehen wir noch am Anfang. Über militärische Einsätze der Bundesrepublik entscheidet die Exekutive. Der Legislative steht bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr einzig der Parlamentsvorbehalt als Kontrollfunktion zur Verfügung. Es wird jeweils öffentlich darüber gestritten, ob eine deutsche Beteiligung an NATO-Operationen unter den Parlamentsvorbehalt des Auslandseinsatzes fällt und daher mehrheitlich der Zustimmung des Bundestags bedarf oder nicht. Und es wird versucht, diese Hürde zu kippen. Die Erklärung von Wales wird die Diskussion darüber anheizen, hat sie sich doch bereits dieser Tage über die Drohnen für die Ostukraine entzündet.

    Ich bin überzeugt davon, dass der Primat der Politik über den militärischen Sektor essentieller Bestandteil der Demokratie ist. Aber ich sehe nicht klar, wo und auf welche Weise dieser Primat von der Bundesregierung ausgeübt wird, auch nicht als identifizierbarer Bestandteil in den 113 Punkten der Gipfelerklärung von Wales. Der Primat der Politik scheint offen bis hin zu der Frage der Souveränität.

Dabei möchte ich es belassen, Herr Müller.

Es grüßt Sie Ihre Leserin
M.S.-G.

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