Gezeter über den Mindestlohn

Lutz Hausstein
Ein Artikel von Lutz Hausstein

Schon lange vor der Verabschiedung des inzwischen beschlossenen, in der geplanten Umsetzung allerdings reichlich löchrigen, „allgemeinen“, gesetzlichen Mindestlohns verging kaum ein Tag, an dem nicht ein Wirtschaftslobbyist oder Politiker lauthals die angeblichen Folgen des Mindestlohns anprangerte: „Mindestlohn kostet Hunderttausende Arbeitsplätze!“, „Arbeitsplätze durch Mindestlohn in Gefahr!“, Mindestlohn vernichtet Arbeitsplätze!“. Diese medienübergreifend teils sogar wortidentisch formulierten Schlagzeilen durchziehen regelmäßig die Aufmacher fast aller großen Medien und erzeugen so den Eindruck, dass es sich bei diesem Szenario um eine unwidersprochene und unumstößliche Wahrheit handeln würde. Doch es ist vielmehr nur das beständige, öffentliche Wiederkäuen von Phrasen, die nicht nur durch schon angefertigte Studien nicht empirisch belegt werden können, sondern die auch verschiedene makroökonomische Logiken und Zusammenhänge außer Acht lassen. Von Lutz Hausstein[*].

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Regelmäßig trommeln Wirtschaftsverbände gegen die seit vielen Jahren erhobene Forderung nach einem allgemeinen Mindestlohn, der der permanenten Abwärtsbewegung in den unteren Lohngruppen wirksam Einhalt gebieten könnte. Gern wird dabei auch mit besonders großen Zahlen hantiert, um dem einerseits durch diese Bezifferung den Anschein von harten Fakten zu verleihen, aber auch um mithilfe der enormen Größe das Schreckensszenario besonders drastisch zu inszenieren. So wird dann schon einmal der Verlust von 200.000 Jobs als gesichert vorausgesetzt, während man an anderen Stellen gar eine Mio. weniger Arbeitsplätze und noch darüber prognostiziert. Wirtschaftsforschungsinstitute wie das ifo-Institut des Prof. Sinn mischen bei diesen Prognosen ebenso mit wie Mitglieder der sogenannten Wirtschaftsweisen, die als Vertreter weiterer Konjunkturforschungsinstitute ihre materielle Basis nicht unerheblich aus Industrie und Wirtschaft beziehen und so auch von deren Interessen beeinflusst sind. In den kurzen Pausen dazwischen stimmen in diesen Kanon Unternehmerverbände und die Vertreter von Unternehmervereinigungen in den politischen Parteien ein.

Doch völlig unabhängig von den reichlich unterschiedlich vorhergesagten Arbeitsplatzverlusten muss prinzipiell hinterfragt werden, auf welchen Grundlagen diese Annahmen beruhen und ob die behaupteten Zusammenhänge einer logischen Überprüfung überhaupt standhalten. Die angebotsorientierten Ökonomen berufen sich in steter Regelmäßigkeit darauf, dass die – aufgrund eines Mindestlohns – höheren Lohnkosten die betreffenden Unternehmen dieser Branchen zwingen würden, sich einen anderen Standort mit entsprechend niedrigeren Löhnen – im Ausland – zu suchen. Die Niedriglohnsektoren, deren Beschäftige von einem Mindestlohn profitieren würden, sind jedoch fast durchgängig in den Wirtschaftsbereichen angesiedelt, die eine Standortverlagerung schlicht unmöglich machen. Denn es ist einfach hanebüchen, behaupten zu wollen, dass Pflegeheime, Bäckereien, Restaurants und Friseurgeschäfte in Deutschland geschlossen würden, um sie anschließend im billigeren Ausland, aber selbstverständlich auch weiterhin mit ihrer hiesigen Kundschaft, neu zu eröffnen. Ungeachtet dieser einfachen Logik werden seit Jahren bis hin zum heutigen Tag Standortverlagerungen samt Arbeitsplatzverlusten als Folge eines Mindestlohns beschworen. Kritische Nachfragen zu diesen behaupteten Zusammenhängen durch die Medien unterbleiben fast vollständig. Stattdessen werden die Argumentationen, bis hin zu den phrasenhaften Formulierungen („soziale Wohltaten“), übernommen und damit gezielt Stimmung gegen den Mindestlohn gemacht.

Setzt man sich jedoch mit den wahrscheinlichen Folgen eines Mindestlohns aufgrund der makroökonomischen Zusammenhänge auseinander, kommt man zu einem ganz anders gelagerten Ergebnis. Löhne besitzen im Wirtschaftsleben eine doppelte Funktionalität, auch wenn dies von angebotsorientierten Wirtschaftswissenschaftlern gern ignoriert wird. So sind Löhne zwar ein Teil der betrieblichen Kostenstruktur, insbesondere im unter Niedriglöhnen leidenden Dienstleistungsbereich. Sie beeinflussen somit die Angebotsseite, da sie eine mehr oder minder wichtige Determinante für den Preis eines Produktes oder einer Leistung darstellen. Gleichzeitig sind Löhne aber auch Einkommen. Vor allem im unteren und mittleren Einkommensbereich stellen Löhne und Gehälter die Haupteinkommensquelle, zumeist sogar die einzige Einkommensquelle, dar. Mit der Einführung eines Mindestlohns steigen somit die Gesamteinkommen der unteren Einkommensbereiche signifikant. Gerade aber dieses Einkommen wird von deren Beziehern – aufgrund der geringen absoluten Höhe – vollständig für Konsumausgaben verauslagt. Die Konsumquote in den unteren Einkommensbereichen beträgt nämlich 100 Prozent.

Die Wirtschaft ist jedoch ein Kreislauf. Die Konsumausgaben der privaten Haushalte finden ihre Widerspiegelung in den Einnahmen der Wirtschaft, denn deren Produkte und Dienstleistungen werden von den Verbrauchern gekauft. Steigen die Einkommen derjenigen, die eine besonders hohe Konsumquote haben, steigen auch die Einnahmen der Wirtschaftsunternehmen deutlich. Im Ergebnis dessen bringt also die Einführung eines Mindestlohns sowohl steigende Lohnkosten für bestimmte, dem Mindestlohn unterliegende Unternehmen mit sich, er erhöht aber gleichzeitig die Einnahmen und damit in der Regel die Gewinne der Firmen. Es ist also mitnichten so, dass Mindestlöhne ausschließlich die Kosten für Unternehmen steigen ließen und deshalb aus Unternehmenssicht zwangsläufig Arbeitsplätze abgebaut werden müssten. Stattdessen würde ein Mindestlohn die Masseneinkommen deutlich erhöhen und so einen wirksamen Schub für den Binnenkonsum in Deutschland leisten. Die gesamteuropäisch schädliche Exportfixierung Deutschlands würde dadurch reduziert, das gesteigerte Nachfragevolumen aus Deutschland würde sich als wirkliche „Wachstumslokomotive“ erweisen.

Doch all diese Zusammenhänge finden sich in den Darstellungen von Wirtschaftsvertretern und Politikern nicht wider und sie werden auch von den Medien nicht angemahnt. So wird nun gerade ein weiteres Mal von Wirtschaftsforschungsinstituten der Mindestlohn als Jobkiller gegeißelt, der im aktuellen Szenario der Gemeinschaftsdiagnose 200.000 Arbeitsplätze kosten soll. Im sonntäglichen „berlin direkt“ vom 12. Oktober des ZDF beklagte die Redaktion die „Wahlgeschenke“ und „sozialen Wohltaten“ der schwarz-roten Bundesregierung wie „Mindestlohn, Rente mit 63 und Mütterrente“. Schon mit der pejorativ gemeinten Wortwahl wurde den Zuschauern eine Wertung ganz im Sinne der Wirtschaftsvertreter vermittelt, ohne sich dabei überhaupt nur den Zusammenhängen zu widmen. Dass sich hieran sofort die Behauptung anschloss, dass dies laut Meinung von „Experten“ – die also über jeden Zweifel erhaben sind – Milliarden Euro kosten und Arbeitsplätze vernichten würde, ist da schon beinahe zwangsläufig.

So bleibt alles wie es ist. Die angebotsorientierte Ökonomie bestimmt bei Wirtschaftsforschern, Politikern, Vertretern der Wirtschaft und maßgeblichen Medien den öffentlichen Diskurs und lässt keine abweichenden Argumentationslinien in ihre Filterblase eindringen. Die Öffentlichkeit wird beständig nur mit dem einseitigen Erklärungsmuster konfrontiert, dass der Mindestlohn Arbeitsplätze vernichten würde. Dass er, durch die Zunahme der inländischen Massenkaufkraft, stattdessen eher Arbeitsplätze sichern oder gar zusätzliche schaffen könnte, wird nicht thematisiert. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.


[«*] Lutz Hausstein (46), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.

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