Jahresgutachten des „Sachverständigenrats“: „Wirtschaftswissenschaft“ als Arbeitgeberpropaganda

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“Es ist nicht ganz trivial zu verstehen, wie ein Beschluss, der noch nicht in Kraft ist, jetzt schon die konjunkturelle Dämpfung hervorrufen kann” sagte gestern Angela Merkel. Selbst die Kanzlerin kann auf das Jahresgutachten 2014/14 des Sachverständigenrats nur noch mit Spott reagieren. Da werden über 400 Seiten vollgeschrieben und am Ende kommen die „Wirtschaftsweisen“ zu dem Ergebnis, dass die von der deutschen Politik zu verantwortenden Hauptursachen für die „wirtschaftliche Eintrübung“ die abschlagfreie Rente ab 63, die Ausweitung der Mütterrente und der noch gar nicht eingeführte Mindestlohn seien. Um zu diesem Befund zu kommen, hätte es auch gereicht die Pressestellen der Arbeitgeberverbände, Herrn Henkel von der AfD oder die professoralen Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) anzurufen.
Da ist die Wirtschaft durch den Glauben an die „Märkte“ weltweit an die Wand gefahren, das hindert den „Sachverständigenrat“ nicht, als Titel für sein Jahresgutachten „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“ zu wählen. Das Credo der Mehrheit dieser „Ökonomen“ scheint zu sein: „Umso schlimmer für die Wirklichkeit, wenn sie unserer Ideologie“ nicht folgt. Von Wolfgang Lieb.

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„Mit Einführung der abschlagsfreien Rente ab 63 Jahren und der Ausweitung der Mütterrente hat die Bundesregierung ihre wirtschaftspolitischen Spielräume ausgiebig genutzt. Schneller als erwartet hat die Realität die Politik eingeholt. Daher sollte sie sich nun an den langfristigen Herausforderungen wie dem demografischen Wandel orientieren und mehr Vertrauen in Marktprozesse zeigen, statt zunehmend Marktergebnisse festlegen zu wollen, um Verteilungsziele zu erreichen.
Nach einem überraschend guten Start in das Jahr 2014 hat die deutsche Konjunktur einen deutlichen Dämpfer erhalten. Hierfür dürften die geopolitischen Risiken ebenso eine Rolle gespielt haben wie die ungünstige Entwicklung im Euro-Raum. Über Vertrauenseffekte könnte sich zudem der bislang von der Bundesregierung eingeschlagene wirtschaftspolitische Kurs negativ bemerkbar gemacht haben. Für das Jahr 2014 erwartet der Sachverständigenrat eine Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts von 1,2 %, für das Jahr 2015 von 1,0 %.“

So beginnt die Pressemitteilung zum diesjährigen Jahresgutachten.

Dass die „Weisen“ mit ihrer Wachstumsprognose im letzten Jahr mit 1,6% und danach von 1,9% für 2014 [PDF – 6.5 MB] mal wieder neben der Realität lagen ist nicht weiter erstaunlich; im Handelsblatt-Ranking der wirtschaftlichen „Hellseher“ liegt der Sachverständigenrat ohnehin abgeschlagen auf dem 18. Platz der beobachten Institute.

Dass die Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren und die Mütterrente nicht aus Steuermitteln, sondern aus der Rentenkasse finanziert werden, wird im Kampf gegen die„Verschwendung“ (so der Vorsitzende Christoph M. Schmidt) dank der ideologischen Scheuklappen einfach nicht zur Kenntnis genommen. Falls die Rentenreformen überhaupt eine Auswirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung haben sollten, so müssten sie nach der Logik des Sachverständigenrates sogar eher einen Wachstumsimpuls auslösen, sollen doch dank der gefüllten Rentenkasse die Rentenbeiträge von 18,9 auf 18,7% gesenkt werden. Der Bundeszuschuss kann angeblich um 370 Millionen gesenkt und die Wirtschaft soll damit um 2 Milliarden entlastet werden. Aber die gefüllte Rentenkasse und die Aussicht auf die Entlastung der Wirtschaft halten die „Weisen“ nicht davon ab, die Rentenreformen für die „wirtschaftliche Eintrübung“ verantwortlich zu machen. Die hat offenbar nicht „die Realität die Politik eingeholt“, sondern die neoliberale Ideologie die Realität aus den Augen verloren.

Wieder einmal wird der Arbeitsmarkt wie ein Kartoffelmarkt betrachtet; danach beseitigt sich die Arbeitslosigkeit von selbst, wenn nur der Preis für die Arbeit (= der Lohn) niedrig genug ist, damit er noch ein passendes Arbeitsangebot findet. Die „Sachverständigen“ setzen ihren nun schon seit Jahren andauernden Kampf gegen den Mindestlohn fort:

„Das Tarifautonomiestärkungsgesetz schränkt mit dem Mindestlohn die interne Flexibilität der Unternehmen ein, vor allem im Bereich einfacher Tätigkeiten. Die Möglichkeit, Löhne und Arbeitszeiten an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen, muss aber als ein wesentlicher Grund für den Arbeitsmarktaufschwung der Vergangenheit gesehen werden. Die nun geschaffene Lohnrigidität birgt erhebliche Gefahren für die zukünftige Beschäftigungsentwicklung, insbesondere in Krisenzeiten. Verteilungspolitische Ziele können im deutschen Institutionengeflecht wesentlich zielgenauer im Steuer- und Transfersystem als mit regulatorischen Markteingriffen erreicht werden.
Einschränkungen von Zeitarbeit und Werkverträgen bedeuten einen Verlust an externer Flexibilität für Unternehmen. Die Möglichkeiten, den Beschäftigungsstand an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen, sind in Deutschland ohnehin nicht sehr groß. Um Investitionen zu tätigen und Arbeitsplätze zu schaffen, also langfristig planen zu können, benötigen Unternehmen aber ein Mindestmaß an Flexibilität.“

(Jahresgutachten S. 18 Rdnr. 18 ff.)

Schon im letzten Jahr musste der „Sachverständigenrat“ vom Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch den vernichtenden wissenschaftlichen Vorwurf einstecken, dass er beim Mindestlohn die „neuesten Erkenntnisse ignoriert“ und „nicht ganz auf der Höhe“ sei [PDF – 27,8 MB].
Wirtschaftswissenschaftler, die an der Forschungsfront arbeiten, sagen, dass die „Sachverständigen“ mehrere Dekaden hinter dem Stand der internationalen Wissenschaft hinterherhinken. (Leider sagt das niemand laut und deswegen braucht man sich nicht zu wundern, dass die Wirtschaftswissenschaft immer mehr an Ansehen verliert.)

Dass der die „Wirtschaftsweisen“ in der Wissenschaftlichen Gemeinschaft eher „Waisenknaben“ sind, zeigt schon ein Blick auf „Google Scholar“. Da wird manche Masterarbeit, jedenfalls von Wissenschaftlern (und nicht nur von Verbänden) häufiger zitiert als die Jahresgutachten unserer „Sachverständigen“.

Da haben wir mit jedem fünften Arbeitnehmer den „einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut“ (Gerhard Schröder [PDF – 23,1 KB]), da arbeiten inzwischen fast ein Viertel (24 %) aller Erwerbstätigen in sog. atypischen Beschäftigungsverhältnissen – also in Teilzeit, befristet, als Leiharbeiter oder in einem Mini-Job –, da gibt es 1,3 Millionen erwerbstätige Menschen, die neben ihrem Lohn Hartz IV beziehen müssen, um zu überleben, das alles ist für die „Sachverständigen“ immer noch kein ausreichendes Maß an „Flexibilität“ auf dem Arbeitsmarkt! Wie „flexibel“ soll denn noch mit den Arbeitnehmern umgesprungen werden?

Den einzigen Ausbruch aus diesem erstarrten Dogmatismus leistet sich Peter Bofinger, der in seinem Minderheitenvotum zum Mindestlohn schreibt:

Die Mehrheit des Rates sieht das zentrale Problem der deutschen Wirtschaftspolitik in „fehlgeleiteten strukturellen Weichenstellungen“, insbesondere in einem Paradigmenwechsel in der Arbeitsmarktpolitik. Die Reformerfordernisse seien „beträchtlich“. Wie sich das insbesondere mit der bis zuletzt sehr positiven Entwicklung des deutschen Arbeitsmarkts vereinbaren lässt, die weltweit als vorbildlich angesehen wird, bleibtoffen. Unklar ist dabei zudem, warum der deutsche Arbeitsmarkt eine unzureichende Flexibilität auf-weisen soll, um künftige Krisen ähnlich erfolgreich zu meistern wie in der Vergangenheit. Das Instrument der Kurzarbeit, mit dem die Krise des Jahres 2009 überwiegend bewältigt werden konnte, steht auch in Zukunft zur Verfügung. Der demografische Wandel ist zwar in der Tat eine Herausforderung für die deutsche Wirtschaft, nicht jedoch für den Arbeitsmarkt. Er wird das Angebot an Arbeits-kräften reduzieren und somit aller Voraussicht nach zu einem weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit führen.

Es trifft zu, dass der flächendeckende Mindestlohn für Deutschland einen Paradigmenwechsel darstellt. Aber er ist alles andere als ein „sozialpolitisches Experiment mit ungewissem Ausgang“. In fast allen hoch entwickelten Ländern ist der Mindestlohn seit Langem die gängige Praxis, sofern nicht – wie beispielsweise in Skandinavien – durch flächendeckende oder allgemeinverbindliche Tarifverträge für eine wirksame Lohnuntergrenze gesorgt wird. Von seiner Höhe her erscheint der deutsche Mindestlohn dabei als unproblematisch. Nach Berechnungen der OECD entspricht die Relation des deutschen Mindestlohns (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung) zum Medianlohn mit 58 % nahezu dem OECD-Durchschnitt mit 57 %.

Die Erfahrungen mit dem neu eingeführten branchenspezifischen Mindestlohn für das Friseurhandwerk, der seit dem 1. November 2013 gilt und seit dem 1. August 2014 einen Mindestlohn von 8,00 Euro je Stunde im Westen und von 7,50 Euro je Stunde im Osten (einschließlich Berlin) vorgibt, sprechen dafür, dass Mindestlöhne nicht zu Beschäftigungsproblemen führen müssen. Im Gegenteil: die Anzahl der Arbeitslosen bei Friseuren ist im Oktober 2014 geringer als vor einem Jahr. Der Rückgang ist zudem prozentual stärker ausgefallen als in der übergeordneten Berufsgruppe (nicht-medizinische Gesundheit, Körperpflege) und als in der Gesamtwirtschaft. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich für den Mindestlohn für die Fleischindustrie, der seit dem 1. August 2014 gilt. Auch hier ist Oktober 2014 ein überdurchschnittlicher Rückgang der Arbeitslosenzahlen zu beobachten. Diese Befunde decken sich mit den Erfahrungen, die in Deutschland mit der Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne in der Vergangenheit gemacht wurden (JG 2013 Ziffer 533), ebenso wie mit dem Großteil der empirischen Literatur zu den Beschäftigungseffekten von Mindestlöhnen (Bosch und Weinkopf, 2014).

(Rdnr. 75 ff., S. 44ff.)

Solche Fakten können die Mehrheit des „Sachverständigenrates“ nicht aus ihrem Trancezustand aufwecken und daran hindern, jedes Jahr immer wieder die gleiche Gebetsmühle zu drehen.

(Siehe dazu z.B. „Sachverständigenrat bleibt auf dem wirtschaftspolitischen „Holzweg“, „Die Glaubenskongregation Sachverständigenrat hat mal wieder getagt“, „Die alte Leier mit ein paar leisen Zwischentönen“, „2070: Rente erst ab Ableben“, „Mit Tunnelblick in die Rezession“ u.v.a.m.)

Wenn selbst die Kanzlerin nur noch Spott findet und der Wirtschaftsminister die Generalsekretärin seiner Partei sagen lässt, das Gutachten sei „ohne Sachverstand, geleitet von neoliberalen Ideen der Mehrheit“, dann müsste es doch eine große Koalition schaffen, diese „Wirtschaftsweisen“ in die Wüste zu schicken, dort könnten sie dann ungestört und ohne zu stören weiter meditieren.

p.s.: Auch die Kritik Bofingers an der Mehrheit seiner Kollegen auf dem Gebiet der Energiepolitik, der Effizienz der Märkte, der Wirkung der Einkommensverteilung auf das Wachstum, der Ursachen für die Investitionslücke oder der Austeritätspolitik in Europa ist lesenswert.
Zur Austeritätspolitik schreibt Bofinger:

„Von der Realität eingeholt“ wurden somit vor allem jene Ökonomen und Politiker, die geglaubt hatten, der Euro-Raum könne durch eine asymmetrische Anpassung, insbesondere einer restriktiven Fiskalpolitik im Verbund mit Strukturreformen den Weg aus der Krise finden. Die Tatsache, dass Länder wie Spanien und Portugal wieder ein bescheidenes Wachstum erzielen, ist dabei wesentlich darauf zurückzuführen, dass man ihnen – anders als im Fall Griechenlands – sehr viel Zeit für die Konsolidierung eingeräumt hat. So weist Spanien, das in diesem Jahresgutachten als Modell herausgestrichen wird, mit einem Budgetdefizit von 5,7% im Jahr 2014 nach Japan die zweithöchste Neuverschuldung aller hoch entwickelten Volkswirtschaften aus. (Rdnr. 83 S.47)

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