Arbeitskräftemangel in der Zukunft? (Teil I)

Ein Artikel von Gerd Bosbach & Klaus Bingler

Über statistische Taschenspielertricks (oder Denkfehler) in der Demografie-Debatte und die „Demografisierung“ einer sozialpolitischen Diskussion
Demografische Gedankenspiele haben seit Beginn des neuen Jahrtausends Hochkonjunktur. Dabei wird vor allem die Angst vor der Alterung der Gesellschaft bewusst instrumentalisiert, um den Sozialstaat „umzubauen“ oder, wie gerne formuliert wird, „an die veränderten demografischen Bedingungen anzupassen“. Das schlägt sich in sinkenden realen Renten, längeren Wochen- und Lebensarbeitszeiten für Beschäftigte sowie einer zunehmenden privaten Vorsorge für Krankheit und Alter nieder. Sogar die Schuldenbremse wird häufig demografisch begründet.
Auch zurzeit wird wieder Angst geschürt. Diesmal nicht vor den vielen Alten, sondern vor einer Zukunft, in der es angeblich zu wenige Arbeitskräfte gebe, um unsere Volkswirtschaft aufrecht zu erhalten. Von Klaus Bingler und Gerd Bosbach.

So schreibt die Fraktion der CDU im NRW-Landtag: „Besonders stark betroffen von Einwohnerschwund und Altersverschiebung ist die Bevölkerung im Erwerbsalter zwischen 20 und 65 Jahren. Bei einer jährlichen Nettozuwanderung von durchschnittlich 100.000 Personen geht ihre Zahl deutschlandweit von heute knapp 50 Millionen zurück … auf 33 Millionen 2060.“ (Drucksache 16/2133, Landtag NRW) Dieser dramatische Rückgang des Arbeitskräftepotenzials von 34% – übrigens erstmals in dieser Form vom Präsidenten des Statistischen Bundesamtes 2009 bei der Präsentation der 12. Koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung öffentlich dargestellt (Roderich Egeler, Pressekonferenz 18.11.2009, Berlin), soll der NRW-CDU dazu dienen, die Notwendigkeit der Schuldenbremse zu untermauern. In ähnlicher demografischer Richtung wird oft argumentiert, wenn es um die angebliche Unbezahlbarkeit sozialer Leistungen geht, da es in Zukunft zu wenig junge Leute für die vielen zu versorgenden Alten gebe. Dabei wird nicht nur die immer noch hohe Zahl der Arbeitslosen ausgeblendet, sondern mit drei Taschenspielertricks (Denkfehler) wird aus eigentlich harmlosen Bevölkerungsschätzungen eine Bedrohung hergeleitet. Mit allen sozialpolitischen Folgen, wie länger arbeiten, weniger Rente, Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich. Bei einer genaueren Überprüfung lassen sich jedoch durch die vom Statistischen Bundesamt berechneten und von der CDU benutzten Daten lediglich ableiten, dass das Arbeitskräftepotenzial bis 2060 jährlich um 0,23% sinken werde. Und das wäre mit der Produktivitätsentwicklung einer Wettbewerbsgesellschaft leicht zu meistern, sogar ohne eine Reduzierung der Arbeitslosenzahlen.

Kann es tatsächlich sein, dass uns ständig Angst mit Zahlen gemacht wird, die bei vernünftiger Betrachtung überhaupt keinen Anlass zur Dramatik bieten? Sollte der Ausgangspunkt vieler sozialpolitischer Entscheidungen, die Modellrechnungen des Statistischen Bundesamtes über die Bevölkerung bis 2050 oder 2060, so kräftig fehlinterpretiert worden sein?

Wir glauben ja und sind davon überzeugt, dies nachvollziehbar belegen zu können. Dazu müssen wir allerdings etwas genauer in diese Modellrechnung des Statistischen Bundesamtes schauen.

  1. Aus 34% weniger Arbeitskräftepotenzial werden 0,23% jährlich

    Grundlage der oben zitierten Rechnungen und der daraus folgenden Befürchtungen ist die 2009 veröffentlichte 12. Koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes bis 2060. In ihrer meist zitierten Variante V1-W1, der sogenannten Untergrenze der mittleren Bevölkerungsentwicklung, wird angenommen:

    • die Lebenserwartung steigt um 7,2 Jahre bei den Mädchen und um 8,0 Jahre bei den Jungen
    • die Geburtenzahl bleibt bei 1,4 Kindern pro Frau und
    • im Schnitt wandern jährlich 100.000 Menschen mehr nach Deutschland zu als ab (Wanderungssaldo).

    Gerechnet wurde auf den Bevölkerungsstand des Jahres 2008.

    Damit ergibt sich rechnerisch für 2060 tatsächlich die oben genannte Zahl von knapp 33 Millionen 20- bis unter 65jährigen. Gegenüber den knapp 50 Millionen im Jahre 2008 ist das ein Minus von 34 %.

    So weit so richtig, wenn man über die Korrekturen des Bevölkerungsstandes durch den Zensus 2011 hinweg sieht.[1] Aber die Interpretation der Daten als dramatischer Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials ist völlig falsch.

    Denn diese Deutung übersieht bewusst oder unbewusst:

    1. Eine kleinere Bevölkerung braucht auch weniger Arbeitskräfte. Entscheidend ist also nicht die Anzahl, sondern der Anteil der Arbeitskräfte!
    2. Das Renteneintrittsalter wurde in der Rechnung konstant mit 65 Jahren angenommen, heute wie 2060! Damit wird die Rente ab 67, umgesetzt für den Großteil der Beschäftigten schon bis 2027, komplett ausgeblendet!
    3. Die Verringerung des Arbeitskräftepotenzials ist kein Problem von morgen, sondern eine Leistung, für die wir 52 Jahre Zeit haben (2008 bis 2060).

    Bauen wir diese schlichten Tatsachen in die Rechnung des Bundesamtes mit ein, so wird aus dem Minus von 34% ein jährliches Absinken von 0,23%.
    Die Einzelheiten zu den Denkfehlern, ergänzt mit ein paar interessanten Bemerkungen, folgen nach der tabellarischen Übersicht.

    • Aspekt 1:
      Eine kleinere Bevölkerung braucht auch weniger Arbeitskräfte

      An sich eine Binsenweisheit, aber trotzdem in der demografischen Debatte fast immer übersehen. Halbiert sich eine Bevölkerung, wird auch nur etwa die Hälfte der Arbeitenden zur Versorgung gebraucht, selbst ohne Berücksichtigung von Produktivitätssteigerungen und einem Abbau von Arbeitslosigkeit. In der oben zitierten Variante sinkt die Bevölkerung von 82 auf knapp 65 Millionen Menschen, also um mehr als 20%. Die Anzahl der Erwerbsfähigen kann also nicht die maßgebliche Größe sein. Der Anteil an der Gesamtbevölkerung ist entscheidend. Alleine die Berücksichtigung, dass 20% weniger Erwerbsfähige gebraucht werden, halbiert die Dramatik der Ausgangszahl von 34,4 auf 16,8 %![2]

    • Aspekt 2:
      7,5 Jahre länger leben und keinen Tag länger arbeiten?
      Die Rente ab 67 wird komplett ausgeblendet.

      Diese unglaubliche freche Annahme der dramatisierenden Publizistik soll im Folgenden etwas ausführlicher hinterfragt werden. Unsere Schwarzseher gehen tatsächlich 2008 wie 2060 vom gleichen Renteneintrittsalter aus. Und das, obwohl unterstellt wird, dass wir 7 bis 8 Jahre länger leben, Arbeitskräftemangel befürchtet wird und obwohl schon bis 2027 die Rente ab 67 umgesetzt sein wird.[3] Hier wird eine Notsituation konstruiert, die einer näheren Überprüfung nicht standhält. Immerhin werden so zwei Jahrgänge Arbeitsfähiger fast vollständig der Gruppe der zu versorgenden Rentner zugeschlagen. Zur Rechtfertigung für diese Annahme, wenn sie ausnahmsweise einmal erklärt werden muss, dient das Argument, dass ja nicht alle Menschen bis zur gesetzlichen Altersgrenze arbeiten und man ein durchschnittliches Eintrittsalter von 65 Jahren anstrebe. Das ist zwar nachvollziehbar, aber dann müsste heute auch der tatsächliche Renteneintritt im Schnitt mit 63 Jahren bei den Rechnungen unterstellt werden. So oder so, mit diesem Trick werden 2 ganze Jahrgänge Arbeitsfähiger einfach unterschlagen.
      Berücksichtigen wir bis 2060 nur einen zwei Jahre späteren Renteneintritt, ignorieren also alle weitergehenden Forderungen wie die nach Rente mit 70 oder 75, so beträgt die Reduktion des Arbeitskräftepotenzials nur noch 12,6 %. Jeder Achte müsste ersetzt werden.
      Das ist eine Größenordnung, die fast in der näheren Zukunft als realisierbar erscheint, aber nach den offiziellen Rechnungen haben wir dafür noch 52 Jahre Zeit!

    • Aspekt 3:
      In 50 Jahren wirken selbst kleine jährliche Veränderungen groß
      Auch dies ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Eine nur einprozentige jährliche Steigerung bedeuten in 50 Jahren schon zwei Drittel mehr. Und „zwei Drittel mehr“ wirken wie große Veränderungen.[4] Bleiben wir also lieber bei den jährlichen Veränderungen. Und diese betragen bei Gültigkeit der angeblich dramatischen Ausgangsdaten gerade mal 0,23 %. Damit wird aus jeder achten zu ersetzenden Arbeitskraft in 52 Jahren ein jährlicher Ersatzbedarf von etwa jeder 400ten Stelle, welcher sicherlich locker aufgrund der Produktivitätsentwicklung zu meistern wäre. Konsequent weiter gedacht, erscheint auch eine Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 gar nicht nötig zu sein, wenn die offiziellen Prognosen zur Bevölkerung annähernd so eintreffen sollten. Denn auch bei gleichbleibendem Renteneintrittsalter ergibt sich nämlich lediglich eine jährliche Reduktion des Erwerbskräftepotenzials um 0,30%. Wenn eine Wettbewerbswirtschaft diesen Produktivitätseffekt nicht leistet, hat sie ganz andere Probleme als die gesellschaftliche Alterung!

      Auch wenn rechnerisch alles leicht nachvollziehbar ist, wirkt das Ergebnis doch sehr erstaunlich, fast wie Hexerei: Aus einer Schrumpfung der arbeitsfähigen Bevölkerung um gut ein Drittel bis 2060 wird ein Rückgang des Anteils der Erwerbsfähigen um nur 0,23% pro Jahr. Um das Ergebnis auch gefühlsmäßig begreifen zu können, blicken wir in die jüngere Vergangenheit und betrachten die Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitszeiten seit der Wiedervereinigung.

      Von 1991 bis 2013, den wahrlich wirtschaftlich nicht sehr erfolgreichen Jahren seit der Wiedervereinigung[5], wurde mit 4,4% weniger Arbeitsstunden das reale Bruttoinlandsprodukt um über 30% gesteigert. Wenn in 22 Jahren so eine Entwicklung möglich ist, warum sollte dann in über 50 Jahren nicht jede achte Arbeitskraft ersetzt werden können?

      Konfrontiert man die Dramatisierer mit diesen drei einfachen, verständlichen Aspekten, bleibt ihnen häufig nur noch die Flucht. Sie verweisen darauf, dass dies doch alles nur Zahlenspiele seien. Ja, das stimmt, aber diese „Zahlenspiele“ basieren ja gerade auf den Zahlen, mit denen sie uns ständig Angst einjagen, nur sind diese diesmal sachgerecht aufbereitet. Indem man die von uns dargestellten Ergebnisse leugnet, flieht man also quasi vor den wirklichen Konsequenzen, die sich aus den Zahlen ergeben, die ständig präsentiert werden, um die Öffentlichkeit zu verängstigen.


[«1] s. dazu „Deutschland ist weniger alt als gedacht“, Der Tagesspiegel 29.4.2014

[«2] Entsprechende Hinweise in Diskussionen mit Politikern werden meist nicht mit Freude, sondern mit Abwehr aufgenommen. Bemerkenswert, bei Reduzierung einer Schuldenlast um die Hälfte freut sich doch auch jeder.

[«3] Für eine Gruppe von langfristig Arbeitenden gilt ab 2027 noch das Renteneintrittsalter 65 nach der Regelung, die heute fälschlicherweise unter Rente mit 63 bekannt ist.

[«4] Stellen Sie sich nur vor, Sie würden 2/3 mehr Lohn fordern!
Weitere anschauliche Beispiele für dieses Bluffen mit 50-Jahresrechnungen finden Sie in Bosbach/Korff: “Lügen mit Zahlen”, Kap. 10. So ist der Bierpreis in Kölner Kneipen in den letzten 45 Jahren um über 400% gestiegen, ohne dass die Autoren auf das Getränk verzichten müssen!

[«5] Anfänglich bereitete, wie man der Grafik entnehmen kann, die Wiedervereinigung Probleme, ab 2001 gab es eine vierjährige wirtschaftliche Depression, um das Jahr 2009 bewirkte die Finanzkrise einen bisher nie gekannten Abschwung – als Höhepunkt mit einem Minus von 5,6% – und 2012 und 2013 herrschte mit Wachstumsraten von 0,4 und 0,1% fast schon wieder Stagnation.

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