Der verdrängte Verfassungsbruch

Stefan Korinth
Ein Artikel von Stefan Korinth

Die Ukraine ist ein europäisches Land. Diese geografische Selbstverständlichkeit beinhaltet für viele westlich orientierte Ukrainer auch ein Bekenntnis zum „europäischen Wertesystem“. Zu diesen Werten gehört nach allgemeiner Auffassung die Rechtsstaatlichkeit.[1] Doch dass die Geburt der neuen pro-europäischen Ukraine mit einem mehrfachen Verfassungsbruch bei der Absetzung Viktor Janukowitschs begann, wird gerade in diesem rechtsstaatlichen Europa bis heute verdrängt. Von Stefan Korinth.

Diese seit neun Monaten evidente Diagnose bestätigte sich zuletzt bei Anne Will in ihrer Talkshow am Mittwochabend.[2] Der russische Botschafter Wladimir Grinin erinnerte zu Beginn der Sendung an den „Staatsstreich“ vom 22. Februar. Die Moderatorin wirkte, als habe sie davon noch nie gehört. „Was meinen Sie damit? Die Ablösung Janukowitschs? Oder was meinen Sie mit ‚Staatsstreich‘?“ Nach einem kurzen kaum verständlichen Erklärungsversuch des Botschafters wechselte Anne Will dann zur „Annexion“ der Krim.

Bei einem weiteren Einwand Grinins etwas später in der Sendung antwortete Grünen-Politikerin Marieluise Beck: „Janukowitsch ist geflohen. Und das kann man nun wirklich nicht als Staatsstreich bezeichnen. Als der Präsident weg war, ist aus dem Parlament heraus ein neuer Übergangspräsident ernannt worden.“ Es seien „Propagandafiguren“, die Grinin aufbaue. Damit war das Thema erledigt.

Doch es hätte sich gelohnt, noch etwas länger über das von Will als „Ablösung“ bezeichnete Ereignis zu sprechen. Denn ein Blick auf die Ereignisse Ende Februar und in die ukrainische Verfassung ergeben ein eindeutiges Ergebnis: Janukowitschs Absetzung war verfassungswidrig. Dieses Resultat ist bis heute wichtig, weil es die Glaubwürdigkeit der Verfechter des „europäischen Wertesystems“ in der Ukraine und in der EU stark beschädigt.

Der Rechte Sektor droht mit Angriff, Janukowitsch flieht

Am Nachmittag des 21. Februar 2014, einem Freitag, einigten sich der amtierende Präsident Viktor Janukowitsch und Oppositionspolitiker auf eine „Vereinbarung über die Beilegung der Krise in der Ukraine“.[3] Es sollte eine Regierung der nationalen Einheit und vorgezogene Präsidentschaftswahlen geben. Die Polizeitruppen zogen sich in ihre Standorte zurück.

Auf dem Maidan kam die Einigung jedoch schlecht an. Die Oppositionspolitiker Jazenjuk, Klitschko und Tjagnibok wurden dafür ausgepfiffen. Direkt im Anschluss drohte Dmitro Jarosch vom Rechten Sektor mit der Erstürmung von Regierungsgebäuden. Janukowitsch musste durchaus um sein Leben fürchten und floh noch am selben Tag aus Kiew. In der Nacht besetzten bewaffnete „Maidan-Selbstverteidiger“ dann unter anderem seinen Amtssitz. Maidan-Unterstützerin Marieluise Beck hatte vergessen, das zu erwähnen.

Die Rada setzt Janukowitsch ab

Am 22. Februar enthob das nationale Parlament (Werchowna Rada) Viktor Janukowitsch mit einer einfachen Abstimmung vom Amt des Präsidenten. 328 von 450 Abgeordneten (72,9 Prozent) stimmten für die Absetzung. Die Rada begründete ihren Schritt damit, dass sich Janukowitsch selbst von seinem Amt zurückgezogen habe. Parlamentsvorsitzender Alexander Turtschinow wurde Übergangspräsident.

In einem TV-Interview aus der Ostukraine am selben Tag weigerte sich Janukowitsch jedoch zurückzutreten und bezeichnete die Vorgänge als „Staatsstreich“. Er sei weiter der rechtmäßige Präsident des Landes. Für Marieluise Beck ist das Propaganda. Doch um herauszufinden, wer Recht hat, ist ein Blick in die ukrainische Verfassung hilfreich:

Artikel 108. „Die Befugnisse des Präsidenten der Ukraine enden vorzeitig in folgenden Fällen:

  1. Rücktritt;
  2. Verhinderung der Amtsausübung aus gesundheitlichen Gründen:
  3. Amtsenthebung in einem Amtsenthebungsverfahren;
  4. Tod.

Da Janukowitsch seinen Rücktritt verneinte, blieb der Rada durch diese Verfassungsvorgaben als einzige realistische Möglichkeit nur das Amtsenthebungsverfahren. Dieses ist in Artikel 111 näher geregelt.

Artikel 111. Der Präsident der Ukraine kann wegen des Begehens von Hochverrat oder eines anderen Verbrechens vom Parlament der Ukraine in einem Amtsenthebungsverfahren vorzeitig des Amtes enthoben werden. (…)[4]

Zur Durchführung der Untersuchung bildet das Parlament der Ukraine eine besondere nichtständige Untersuchungskommission, der ein Sonderstaatsanwalt und Sonderermittler angehören. (…)

Der Beschluss über die Amtsenthebung des Präsidenten der Ukraine im Amtsenthebungsverfahren wird vom Parlament der Ukraine mit der Mehrheit von mindestens drei Vierteln der durch die Verfassung bestimmten Anzahl seiner Mitglieder nach der Prüfung der Sache durch das Verfassungsgericht der Ukraine und nach Erhalt seines Gutachtens bzgl. der Einhaltung des verfassungsmäßigen Verfahrens der Untersuchung und Behandlung des Amtsenthebungsverfahrens und des Gutachtens des Obersten Gerichts darüber, dass die Handlungen, deren der Präsident der Ukraine angeklagt wird, den Tatbestand des Hochverrats oder eines anderen Verbrechens erfüllen, gefällt.

Die Verfassung beschreibt präzise die Vorgehensweise bei einer Amtsenthebung. Die politischen Sieger des Maidan-Aufstandes haben jedoch keine einzige dieser eindeutigen Vorgaben im Falle Janukowitschs eingehalten. Es gab keine Untersuchungskommission, es gab kein gerichtliches Urteil zur Bestätigung des Hochverrats oder eines anderen Verbrechens, es gab keine Prüfung durch das Verfassungsgericht und die parlamentarische Drei-Viertel-Mehrheit kam ebenfalls nicht zustande.[5]

Rechtsexperten bestätigen Verfassungswidrigkeit

Rechtswissenschaftler bestätigen diesen Befund[6]: In der Stuttgarter Zeitung bezeichnet Matthias Hartwig vom Heidelberger Max-Planck-Institut für Völkerrecht die Machtübernahme der Opposition als „Staatsstreich“. Der Bonner Rechtsprofessor Stefan Talmon spricht bei tagesschau.de von einer „rechtswidrigen Regierung“, die nach Janukowitschs Flucht Ansprechpartner der internationalen Gemeinschaft geworden sei. Selbst Spiegel-Online bestätigt den zumindest „rein juristisch“ unrechtmäßigen Präsidentschaftswechsel.

Die deutschen Rechtsexperten legitimieren den Machtwechsel aber häufig mit der „revolutionären Situation“ dieser Februartage. Auch hiesige Leitmedien schwenken in ihren wenigen Artikeln zum Thema auf diese Argumentationslinie. Allerdings gibt es hierbei mehrere Probleme: Zum einen ließen sich so auch gewalttätige Machtübernahmen wie in Donezk oder Lugansk rechtfertigen.[7] Zum anderen werden Verfassungen bei dieser Rechtfertigung ihrer grundsätzlichen Gültigkeit beraubt.

Revolutionäre Lage?

Und schließlich bleibt es sogar bei Annahme dieser Argumentation sehr fraglich, ob damals in Kiew tatsächlich eine „revolutionäre Lage“ herrschte. Im Wortsinn stehen Revolutionen für grundlegende Umwälzungen. Aber allein die ernüchternden Erfahrungen nach der letzten „Revolution“ – der wiederholten Präsidentschaftswahl 2004 („Orange Revolution“) – machten auch im Februar 2014 skeptisch.

Aber vor allem wegen des siegreichen Oligarchen- und Politpersonals waren auch diesmal keine tiefgreifenden innergesellschaftlichen oder gar weltgeschichtlichen Umbrüche zu erwarten. Bis heute hat lediglich der erwartbare Elitenwechsel stattgefunden. Die Praktiken in der ukrainischen Politik sind hingegen dieselben geblieben wie unter Janukowitsch.[8]

Staatsstreich?

Bis heute spricht wenig für eine Revolution und viel für einen Staatsstreich. Die Bundeszentrale für Politische Bildung versteht unter „Staatsstreich“ einen „verfassungswidrigen (gewaltsamen) Umsturz, mit dem es bereits an der Macht Beteiligten (z. B. Militärs) gelingt, die gesamte Staatsgewalt zu übernehmen“. Im ukrainischen Falle übernahmen zwar keine Offiziere die Macht, aber durchaus auch davor schon etablierte „pro-westliche“ Politeliten und milliardenschwere mächtige Wirtschaftsbarone. Letztlich liegt Wladimir Grinin also deutlich näher an der Wahrheit als Marieluise Beck.

Völkerrechtlich unerheblich

Juristisch gesehen hat Janukowitschs Absetzung allerdings nur staatsrechtliche Relevanz. Aus völkerrechtlicher Sicht spielt der ukrainische Verfassungsbruch keine Rolle. Am deutlichsten führt dies der Rechtswissenschaftler Jasper Finke am 5. März im Interview mit tagesschau.de aus:

„Es ist völlig unerheblich, ob Janukowitsch noch rechtmäßiger Präsident der Ukraine ist nach dem ukrainischen Verfassungsrecht. Denn hier greift der sogenannte Effektivitätsgrundsatz – das heißt, völkerrechtlich kommt es darauf an, ob die neue Regierung effektiv Herrschaftsgewalt in der Ukraine ausübt. Das heißt, selbst wenn der Umsturz verfassungswidrig war, dann sind wir doch zumindest jetzt an einem Punkt, an dem die neue Regierung eindeutig die Ukraine nach außen vertritt.“

Europäisches Wertesystem

Übernimmt also eine Bewegung verfassungswidrig die Macht in einem Land und verhindert dadurch auch ihre rechtmäßige Bestrafung durch nationale Rechtsinstitutionen – folgt dem eben keine ersatzweise Sanktionierung durch das internationale Rechtssystem, sondern im Gegenteil die juristische Anerkennung der neuen Machthaber. Von dieser praktizierten Rechtsstaatlichkeit, dürfe man sich als Jurist nie frustrieren lassen, erläutert der schon erwähnte Matthias Hartwig im Interview.

Dementsprechend erkannte die Europäische Union die Absetzung Janukowitschs umgehend an. Statt auf die Gültigkeit der Verfassung zu beharren, bezeichnete EU-Kommissionssprecher Olivier Bailly die Rada am Montag nach der Absetzung als „Garant von Demokratie und Gesetzlichkeit“. Ihre Entscheidung müsse respektiert werden.

Die Ukraine scheint im Europäischen Wertesystem angekommen zu sein.


[«1] So steht etwa in einem Beschluss der CDU vom 8. Februar 2014 [PDF – 40,9 KB] mit dem Titel „Für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine“: „Deutschland und die Europäische Union wollen, dass die Ukraine wieder einen Platz im Europa der gemeinsamen Werte einnehmen kann. Durch das ausgehandelte Assoziierungsabkommen im Rahmen der Östlichen Partnerschaft hat die Ukraine eine klare europäische Perspektive. Voraussetzung für dessen Unterzeichnung ist ein glaubwürdiges Bekenntnis der ukrainischen Führung zu Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.“ Wichtig bleibt hier noch zu erwähnen, dass dieses „Europa der gemeinsamen Werte“ i.d.R. als Abgrenzung zu Russland formuliert wird – obwohl auch Russland sowohl geografisch als auch ideengeschichtlich ein europäisches Land ist.

[«2] Anne Will, Sendung vom 26. November 2014: „Alles dreht sich um Putin – Bleibt die Ukraine auf der Strecke?“ Der Titel klingt erstmal wie Selbstkritik. Will die ARD nun weniger auf Putin-Personalisierung setzen und sich dafür mehr mit der Ukraine beschäftigen? Immerhin war sogar ein Gesandter der ukrainischen Botschaft eingeladen. Doch die tatsächliche Lage zwischen Karpaten und Donbass spielte auch in dieser Sendung kaum eine Rolle.

[«3] Teil der Abmachung war auch die Wiedereinführung der Verfassung von 2004. Noch am selben Tag realisierte die Rada die Rückkehr zu dieser Version. Die Verfassung von 2004 überträgt etwa dem Parlament das Recht auf die Wahl des Regierungschefs und schwächt damit die Position des Präsidenten. Außerdem bestimmt diese Version bei einer Amtsenthebung des Präsidenten den Vorsitzenden des Parlaments zum Übergangspräsidenten. In der Version von 2010 war hierfür noch der Regierungschef vorgesehen.

[«4] Die ausgesparten Passagen und alle restlichen Verfassungsartikel lassen sich hier auf Ukrainisch, Englisch und Deutsch nachlesen.

[«5] Und selbst die einfache Abstimmung am 22. Februar war unrechtmäßig. Zahlreiche Bewaffnete waren im Parlament und schufen die notwenige Drohkulisse für das „richtige“ Abstimmungsverhalten. Die Regierungskoalition hatte ja schließlich immer noch die Mehrheit im Parlament. Weitere Parlamentarier wurden vor der Rada verprügelt und erreichten die Abstimmung gar nicht erst.

[«6] Bezeichnend für diese Interviews ist, dass sie allesamt die „Annexion“ der Krim zum Thema hatten. Den verfassungswidrigen Machtwechsel in Kiew bestätigten die Experten nur am Rande. Gesondert wurde dazu in den Leitmedien kein Experte befragt.

[«7] Auch der Verweis der Maidan-Sieger auf die verfassungswidrige Unabhängigkeitserklärung der Krim wirkt unglaubwürdig.

[«8] So schreibt etwa Andreas Stein, freier wissenschaftlicher Mitarbeiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Kiew und Herausgeber des Internetmagazins Ukraine-Nachrichten, zur Durchsetzung des Lustrationsgesetzes im September: „Die gesetzeswidrige Verabschiedung und der offensichtlich verfassungswidrige Inhalt des Gesetzes zeugen zum wiederholten Male davon, dass auch die neuen Machthaber für den Machterhalt gewillt sind, sich über jegliche Regeln hinwegzusetzen. Auch nach den Opfern des Maidans und des Krieges im Osten hat somit kein generelles Umdenken in der politischen Klasse der Ukraine stattgefunden.“

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