Heute großes Staunen über einen Tiefstwert für die SPD. – Vergleichen Sie den FAZ-Beitrag Becks mit der Rede Lafontaines. Wundern Sie sich noch?

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Am 11.6. habe ich auf der Basis von Vorabmeldungen den Namensartikel von Kurt Beck in der FAZ einigermaßen freundlich kommentiert, allerdings nach den Konsequenzen gefragt. Nach intensiver Lektüre dieses mit Sicherheit nicht alleine von Kurt Beck, sondern im Zusammenspiel von Partei- und Fraktionsführung geschriebenen Grundsatzartikels komme ich zu einem bedrückenden Ergebnis: Dieser Beitrag enthält nahezu keinen eigenständigen Gedanken, logisch nachvollziehbare sowieso nicht, aber dafür eine Unzahl von geliehenen Gedanken, Versatzstücken und Klischees. Prüfen Sie selbst. Es folgen die Links zu Becks Beitrag und zur Lafontaine-Rede und einige kritische Anmerkungen. Albrecht Müller.

A. Hier zunächst Überschriften und Links zu den beiden Texten:

I. Kurt Beck
Das soziale Deutschland

F.A.Z. Gastbeitrag
11. Juni 2007
Vorspann der FAZ:
Der Gegensatz zwischen Staat und Freiheit ist nach Ansicht des SPD-Vorsitzenden Beck ein künstlicher. Der Neoliberalismus der Union hängt in der Luft. Er ist Ideologie ohne Erdung. Das Wegducken vor den sozialen Herausforderungen unserer Zeit ist symptomatisch für eine Schwundform des Liberalismus, die politische Freiheit mit Privatisierung verwechselt. Einen Beitrag leisten – das ist das erste Gesetz der Solidarität. Leistung ist daher ein ganz und gar solidarisches und egalitäres Prinzip.

Quelle: www.kurt-beck.de

II. Oskar Lafontaine
Wir dürfen die Hoffnung von Millionen Wählerinnen und Wählern nicht enttäuschen

Rede von Oskar Lafontaine, Kandidat für den Vorsitz der Partei DIE LINKE vom 16.6.2007
(…)
Quelle: die-linke.de

B. Und hier stichwortartig ein paar kritische Anmerkungen.

Zunächst vor allem zum Artikel von Kurt Beck in der FAZ:

  1. Wir lesen die üblichen Einlassungen: Demographie, Globalisierung, wir seien auf das gemeinsame Handeln von Staat und Bürgergesellschaft angewiesen, um die Globalisierung sozial zu gestalten, Investitionen in Bildung und Ausbildung, Wandel der Arbeitswelt, Stärkung der privaten Altersvorsorge, die klassische Industriegesellschaft werde zunehmend durch neue Wertschöpfung ergänzt, “Umbruch“ der ökonomischen Strukturen und schließlich noch die Polemik, dass Linkspopulisten dazu nichts beitrügen – lauter gängige und weder analytisch abgeleitete noch durchdachte Formeln. Eine Partei, deren Politiker im Wesentlichen die Formeln wiedergeben, die von anderen in die Welt gesetzt werden, stellt sich als hilfloses Anhängsel von interessengeleiteten Parolen dar und wird nicht mehr als eigenständige politische Kraft wahrgenommen. Sie wird unattraktiv für die Wähler, die hinter den Parolen eine andere Wirklichkeit erleben, und für den so wichtigen jungen Nachwuchs wird sie uninteressant.
  2. Die Leistungen dieser Partei in ihrer immerhin schon 144-jährigen Geschichte kommen bei Beck nicht vor, kein bisschen Stolz. Die SPD punktet nicht mit ihren Leistungen für den Ausbau des Sozialstaats und für ein bisschen mehr Gerechtigkeit vor allem in der Bildung in den sechziger und siebziger Jahren, weil sie inzwischen mit den Konservativen und Neoliberalen diese einigermaßen verlässliche Sozialstaatlichkeit für einen Fehler hält. Es werden nur wie in der üblichen neoliberalen Diskussion für einen Systemwechsel die gängigen Behauptungen von der veränderten demographischen Entwicklung und von der Globalisierung und von einer grundsätzlich gewandelten Arbeitswelt wiedergekaut. Das sind die Hebel, mit denen schon Schröder seine Agenda-Politik durchgesetzt hat.
  3. Es fehlt auch jeder Hinweis auf eine vernünftige Makropolitik oder eine Alternative zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, früher einmal von der SPD unter der Überschrift Globalsteuerung in die deutsche Politik eingeführt. Eine solche Politik wäre gerade jetzt, um den konjunkturellen Aufschwung zu stützen, genauso nötig. Von mehreren Ökonomen – interessanterweise vor allem aus dem Ausland – wurde gerade jüngst wieder auf die Defizite der deutschen Politik auf diesem Feld hingewiesen. So zum Beispiel vom amerikanischen Nobelpreisträger Robert Solow (vgl. NachDenkSeiten Hinweis Nr. 4) Klar, dass Beck – wiederum den gegenwärtigen Behauptungen folgend – von „einer kraftvollen Konjunktur des Jahres 2006 und 2007“ spricht. Würde die SPD-Spitze nachdenken, dann würde sie ein Wachstum von zwischen 2 und 3% nach einer so langen Stagnation nicht gerade als kraftvoll bezeichnen. Bei 4 Millionen registrierten und eine um vieles höhere Zahl von statistisch nicht erfassten Arbeitslosen von guter Konjunktur oder von Aufschwung zu sprechen, ist ohnehin Selbstbetrug und war schon einer der makroökonomischen Grundfehler beim Abbruch des kleinen Aufschwung von 1998 bis 2000. Auch hier das grundlegende Defizit: ohne eigene Gedanken, nur erpicht darauf, die Diagnosen und Sprüche anderer, in der Regel der Wirtschaft und der neoliberalen Ideologen, zu übernehmen, die daraus eine Fortsetzung der „Reform“-Politik ableiten und durchsetzen wollen.
  4. Der SPD-Vorsitzende betet die neoliberale „Grundwahrheit“ nach, wir hätten den Aufschwung den Reformen zu verdanken. Also: der Stolz auf die Vergangenheit tobt sich im Feiern dessen aus, was Gerhard Schröder hierzulande angerichtet hat. Dass damit angesichts der Millionen Menschen, die darunter konkret zu leiden haben oder Opfer ohne Gegenleistung bringen mussten, kein Blumentopf zu gewinnen ist, müssten Beck wenigstens die Umfragewerte für die SPD deutlich machen.
  5. Der Grundsatzartikel ist über weite Strecken bestenfalls beschönigend, wenn nicht gar ziemlich verlogen. Schon die Überschrift müsste irritieren. Da steht „Das soziale Deutschland“. Wo ist das denn in 7 Jahren Regierung Schröder geblieben? Und dann wird „der Schutz vor Willkür in der Wirtschaft und vor Diskriminierung am Arbeitsplatz“ gefordert. – Ja, wer hat denn Hartz IV eingeführt. Die Zerschlagung einer einigermaßen verlässlichen Arbeitslosenversicherung durch Hartz IV ist die Grundlage der heute üblichen Willkür im Umgang mit den Arbeitnehmern. – Ja, wer hat denn die Förderung der Minijobs nach der Ablösung von Lafontaine durch Eichel eingeführt? Zwischen 1990 und 2005 ist die Zahl der gesicherten und sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse von rund 30 Millionen auf knapp über 26 Millionen gesunken, auch und gerade in der Zeit von Schröder. Jetzt zu beklagen, dass die Post von Zustellern gebracht wird, die sich für einen Hungerlohn abstrampeln müssen, ist verlogen. Die SPD hat am Aufbau eines Niedriglohnsektor kräftig mitgestrickt und zum Beispiel auch die Entwicklung der Leiharbeit gefördert.
  6. Von Beck wird beklagt, wir würden uns auf eine Gesellschaft hin bewegen, die selbst nach dem Prinzip der Börse funktioniert. Und es wird auch hier die Globalisierung angeführt. Das ist unehrlich, denn hierzulande und von der eigenen Politik wurden die Weichen falsch gestellt, und hierzulande könnten sie auch richtig gestellt werden. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder hat die Auflösung der so genannten Deutschland AG propagiert und zur Erleichterung dieses Wahnsinns des Verschleuderns und Fledderns vieler Unternehmen die entsprechenden Steuerbefreiungen für die so genannten Heuschrecken geschaffen. Warum schlägt Beck nicht vor, diese falsche Politik zu korrigieren? Warum verlangt er in der Koalition nicht die Zurücknahme der Steuerbefreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen? Beck erkennt offenbar die eigenen Handlungsmöglichkeiten nicht. Oder die SPD-Führung will nichts tun gegen die Finanzindustrie.
  7. Im Vorschlag der Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenskapital könnte man bei wohlwollender Betrachtung einen eigenen Gedanken erkennen. Aber dieser hat die Qualität mangelnder Durchsetzbarkeit wie schon ein früheres Steckenpferd einiger Sozialdemokraten. Damals wurde von ihnen die Bürgerversicherung propagiert, statt Widerstand gegen die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme zu leisten. Wo ist denn die Bürgerversicherung geblieben? Schon damals war erkennbar, dass dies Spielmaterial ist. Und so ist das heute mit der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand.
  8. Und dann die Formel vom „vorsorgenden Sozialstaat“. Sie kommt gleich mehrmals vor. Das hat mich überrascht, weil ich Beck für so realistisch halte, dass ich ihm die Wiedergabe dieser in jeder Hinsicht enttäuschenden Formel nicht zugetraut hätte. Die Formel vom „vorsorgenden Sozialstaat“ ist ein Konstrukt ohne Realitätsgehalt und enthält im Übrigen die oben schon erwähnte Kritik an der eigenen Geschichte. Bisherige sozialdemokratische Sozial- und Gesellschaftspolitik war über weite Strecken auch vorsorgend und nicht nur fürsorgend. Zum Beispiel: Ist die 1975 von der SPD erreichte Einführung des gleichen Kindergeldes statt der ungerechten Kindersteuerfreibeträge ein Akt der Fürsorge gewesen? Sie hat die Familien fairer als bis dahin finanziell ausgestattet, um Kinder zu ernähren und aufzuziehen. – Waren die Investitionen der SPD-geführten Regierungen in Bund und Länder in den Hochschulbau und die Öffnung der Bildung für die Kinder von Arbeitnehmerfamilien „fürsorgende“ Akte? War die 1972 eingeführte flexible Altersgrenze oder die in der großen Koalition 1968 eingeführte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter (und nicht nur für Angestellte) ein Akt der Fürsorge? Waren das Abwasserabgabengesetzes und das Benzinbleigesetz und die Gründung des Bundesumweltamtes und die vielen anderen in der Zeit der Regierung Brandt begonnenen umweltpolitischen Maßnahmen Akte der Fürsorge oder der Vorsorge? Wer als Sozialdemokrat das Konstrukt vom vorsorgenden Sozialstaat für die eigene Grundsatzprogrammdebatte aufrechterhält, der meint es nicht gut mit der SPD.
  9. Der Grundsatzartikel zeigt leider, dass die SPD-Führung nicht willens ist zu einer Kurskorrektur der bisherigen Reformpolitik, sondern wie bei der letzten Bundestagswahl nur mit einer aufgesetzten Sozialrethorik ihrer weglaufenden Wählerschaft hinterherlaufen möchte.

Das waren nur einige von vielen möglichen kritischen Hinweisen.

Und jetzt ein paar knappe Anmerkungen zu Lafontaine:

  1. Die Rede Lafontaines zeigt, wie gefährlich Die Linke für die weitere Entwicklung der SPD wird, wenn diese zu der aus meiner Sicht notwendigen Kurskorrektur der Reformpolitik nicht bereit ist. Diese Rede war über weite Strecken geprägt von sozialdemokratischen Geist. Und vom Geist unserer Verfassung. Dort steht nämlich, wir sollten ein Sozialstaat sein. Deshalb ist die von Lafontaine geforderte Wiederherstellung der Sozialstaatlichkeit ein beachtliches Zeichen von Verfassungstreue, die man den anderen Parteien heute leider nicht mehr zuschreiben kann. Mit dem Gebot des Artikels 20 unseres Grundgesetzes gehen die herrschenden Kreise nämlich ausgesprochen großzügig bis feindselig um.
  2. Anders, als von den Meinungsmachern in Publizistik und Politik dargestellt, war die Rede nicht weit gehend populistisch. Es gab eher Teile, die Lafontaine in der Öffentlichkeit noch zu schaffen machen werden, zum Beispiel sein Bekenntnis zu Chavez in Venezuela. Sie steht im Widerstreit zu der mit Recht hochgehaltenen Pressefreiheit. Nur wenige erkennen das Spiel, das konservative Kreise über die Medien in Venezuela gegen den gewählten Präsidenten gespielt haben.
  3. Lafontaine setzte überraschend einen deutlichen programmatischen Akzent für Die Linke bei der ökologischen Erneuerung. Und er behauptet, die Systemfrage werde durch die Umweltfrage gestellt. Und Die Linke sei die einzige Partei, die die Systemfrage aufwirft. – Diesen Gedanken halte ich für ziemlich abwegig und nur auf dem Hintergrund der Beobachtung für verständlich, dass es bei der Linken wie in anderen Kreisen eine Reihe von Menschen gibt, die gerne die Systemfrage gestellt sehen. Das klingt gut. Aber was soll das denn heißen? Will man das Privateigentum abschaffen? Gut, dass die Bahn im öffentlichen Eigentum bleiben sollte und auch die Energiewirtschaft und eine Reihe anderer Produktionen und Dienstleistungen der Daseinsvorsorge besser öffentlich als privat organisiert werden, sehe ich sofort ein und werbe auch dafür. Aber damit ist doch noch keine Systemfrage gestellt. – Ökologisch vernünftige Politik verlangt ein stärkeres Engagement des Staates bei der Rahmensetzung. Mit Steuern und Abgaben, mit Geboten und Verboten muss dafür gesorgt werden, dass Markt und Wettbewerb in die richtige Richtung gelenkt werden. Das wissen Ökonomen seit Jahrzehnten So haben wir auch die Öko-Steuer begründet. So steht es im Steuerreformprogramm der SPD von 1971. Aber das ist doch keine Systemänderung. Was meint Lafontaine?
  4. Den Gebrauch des Begriffs Raubtierkapitalismus finde ich nicht sonderlich aufklärerisch. Aber das sei Lafontaine konzidiert: Auch Mitglieder von etablierten Parteien benutzen diesen Begriff.

Nutzen Sie die beiden Texte für Diskussionen mit anderen und zum Aufbau einer Gegenöffentlichkeit zum herrschenden geistlosen „Geist“.