Anmerkungen zu einem Aufruf für eine „realitätsgeleitete“ Russlandpolitik

Kai Ehlers
Ein Artikel von Kai Ehlers

Nach zwei der Öffentlichkeit bereits vorliegenden Aufrufen zum Frieden, einem Aufruf der neu entstehenden Friedensbewegung zu Demonstrationen in verschiedenen Städten am 13. 12. 2014, sowie einem danach veröffentlichten Appell von 64 Prominenten an Parlament und Bundesregierung zur Entwicklung einer Erneuerung der Entspannungspolitik liegt jetzt ein dritter Aufruf vor.
Unter der Überschrift „Friedenssicherung statt Expansionsbelohnung“ wird dieser Text von seinen Verfassern als „Aufruf von über 100 deutschsprachigen OsteuropaexpertInnen zu einer realitätsbasierten statt illusionsgeleiteten Russlandpolitik“ vorgestellt. Initiator ist Andreas Umland, Dozent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Nationalen Universität „Kiew-Mohyla-Akademie“. Unterschrieben haben Personen, die sich mit diesem Aufruf eindeutig als Kritiker/innen  Russlands outen. Von Kai Ehlers [*]

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wird bei den Flugblättern der Friedensfreunde wie auch bei der Veröffentlichung der besorgten Prominenten ungeachtet tiefer gehender Differenzen, die zwischen ihnen bestehen, sehr schnell klar, worum es bei ihnen aktuell geht, nämlich Dialog statt Konfrontation, Ende der Sanktionen, Eindämmung der generellen Kriegsgefahr, so lebt der von Umland initiierte Aufruf  fast nur von Polemik. Er ist ein Anti-Aufruf. Seine Gegner sind die Unterzeichner des Prominenten-Appells. Die Aufrufe der Friedensbewegung bleiben ganz unerwähnt.

Nur mit Mühe dagegen lässt sich herausfiltern, was die Verfasser des Anti-Aufrufes sich unter einem „realitätsgeleiteten“ Einsatz für den Frieden vorstellen, was sie überhaupt wollen.
Aber schließlich sagen sie es doch und dann sehr deutlich: „Dem Export der illiberalen Gesellschaftsvorstellungen des Kreml in die EU“, schreiben sie zum Ende ihres Textes, „sollte in unserem eigenen Interesse entgegengewirkt werden.“ Diese Zielsetzung erinnert stark an die Feinderklärung, die unter der Leitung des Amerikaners Timothy Snyder von dem Kongress „Thinking Together“ ausging, der vom 15. – 19. 05 2014 in Kiew unter zahlreicher und aktiver Beteiligung etablierter westlicher Multiplikatoren stattfand.

Zu diesem Outing kommt der Aufruf  der OsteuropaepertInnen jedoch erst nach längeren Passagen, in denen seine Verfasser den Unterzeichner/innen des Prominenten-Aufrufers in Sachen Osteuropa oder Ukraine jegliche Kompetenz absprechen, für sich selbst dagegen den Status einer „überwältigenden Mehrheit“ in Anspruch nehmen, die „sich in ihrem Urteil einig“ sei, dass es „in diesem Krieg einen eindeutigen Aggressor“ und „ein klar identifizierbares Opfer“ gebe.

Zur Begründung werden Aussagen wie die folgenden angeführt:

„Wenn sich Moskau von der EU und/oder der NATO bedroht fühlt, sollte es diesen Streit mit Brüssel austragen.“ Dieser Spruch ist angesichts der Tatsache, dass die Ukraine seitens der USA/EU seit Jahrzehnten als Einfallstor für Interventionen betrachtet wurde, über die Russland  geschwächt werden könne, eine alberne Provokation. Nachzulesen sind diese Strategien bei Sbigniew Brzezinski und zudem erkennbar in der aktuellen „Hilfe“ des Westens für Kiew, bei denen wiederum Brzezinski eine aktive Rolle spielte. Sprachlos macht die Schamlosigkeit, mit der behauptet wird, Russland  führe „einen bereits tausende Todesopfer, Verstümmelte, Traumatisierte und Vertriebene fordernden ‚hybriden Krieg‘ im Donezbecken.“ Die Beschießung von Donezk, Lugansk und anderer mit Streubomben durch Kiewer Militär kommt im Weltbild dieser Erklärung nicht vor.

Weiter heißt es in dem Aufruf: „Frühere Erfahrungen sollten Berlin vorsichtig machen: Im Sommer 2008 entstand im Kaukasus eine ähnlich ‚verfahrene Situation‘ infolge Russlands faktischer Kündigung des EU-vermittelten russisch-georgischen Friedensabkommens.“

Tatsache ist, dass der Angriff Georgiens auf Südossetien und die dort stationierten russischen Friedenstruppen von der seitens der EU initiierten „Independent International Fact-Finding Mission On The Conflict In Georgia“ als Verstoß gegen internationales Recht eingestuft wurde. Die anfängliche russische Intervention zur Verteidigung der Friedenstruppen auf südossetischem Gebiet wurde als vom Völkerrecht gedeckt befunden. Als unverhältnismäßig wurde allein der Einmarsch russischer Truppen über Südossetien hinaus auf Georgisches Gebiet bezeichnet.

Das Verhalten des Kreml 2008, wird von dem Aufruf der Russlandkritiker dann weiter angeführt, sei bereits eine „Wiederholungstat“ gewesen, nachdem Russland seinen „vertraglich zugesicherten Truppenrückzug aus der Moldauischen Region Transnistrien“ nicht umgesetzt habe. Das stimmt so weit, dass Russland seine 1992 übernommene Rolle als Friedenstruppe entgegen den Vereinbarungen auf dem OSZE-Gipfel von 1999 bis heute nicht aufgegeben hat. Dies aber unter dem Stichwort „Widerholungstat“ einfach als Aggression einzustufen, wird der Rolle nicht gerecht, die Russland dort als Friedenstruppe im Konflikt zwischen Transnistrien und Moldawien wahrnimmt und lässt auch die Rolle der EU als Bestandteil des Konfliktes außer Acht.

Scheinbar schlagend ist der Beweis, der in dem Umlandtext gegen die in dem Appell der Prominenten benannten „berechtigten Befürchtungen“ Russlands vor einer NATO-Einkreisung ins Feld geführt wird. Statistiken aus dem Jahr 2008, so die Kritik des Experten-Papiers, bewiesen angeblich, dass damals nicht mehr als „circa 3,8% der russischen Bevölkerung einen NATO-Betritt der Ukraine und Georgiens als Hauptgefahr für ihr Land ablehnten“.

Die Zahl stimmt, siehe dazu „Russland Analysen“ 167/08 vom 27.06. 2008; exakt sind es sogar nur 3%. Aber über dieser Angabe steht im Kopf derselben Statistik die Frage: „Militärische Bedrohung  durch die USA, die NATO und den Westen insgesamt?“ und diese Frage haben nicht 3%, sondern 11% der Befragten mit ‚Ja‘ beantwortet.  11% sind auch keine Mehrheit, aber 11% sind nicht 3%! – und im Übrigen stellt sich generell die Frage nach dem Wert solcher Statistiken.

Was nach solchen Argumenten noch folgt, sind Anwürfe an den Appell der Prominenten, er versammle „Halbwahrheiten“, „kaum kaschierte Verleumdungen“, „Fehlinformationen und tendenziöse Interpretationen“, „Pathos, Geschichtsvergessenheit und Pauschalurteile“. 
Kurz, was der Aufruf  der Experten anbietet, ist Konfrontation statt Dialog. Umso verblüffter liest sich dann die jetzt noch folgende Versicherung, niemand sei „auf militärische Konfrontation mit Russland aus oder möchte den Dialog mit dem Kreml abbrechen.“ Angesichts des Abbruchs des Petersburger Dialogs, der Gängelung des Deutsch-Russischen Forums, der Einschränkung diverser kultureller Foren, des Abbruchs von Konsultationen auf Regierungsebene, der Einstellung der Beratungen im Rahmen des NATO-Russland-Rates ist dieser Satz nur noch eine Floskel ohne Bezug zur Realität.

Was dann noch folgt, wurde vorn schon benannt: die Aufforderung den „illiberalen Gesellschaftsvorstellungen des Kreml“ entgegenzuwirken. Um dies zu bekräftigen, wird in den letzten Sätzen des Aufrufes noch die deutsche Erbschuld bemüht, die aus den Verbrechen des „Dritten Reiches“ (im Text ohne Anführungsstriche) resultiere. Millionen Ukrainer seien als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden, während etwa vier Millionen ukrainische Rotarmisten an der Niederschlagung des „Dritten Reiches“  teilgenommen hätten. Und so schließt der Aufruf mit dem Satz: „Gerade wir Deutschen können nicht abermals die Augen verschließen, wenn es um die Souveränität einer postsowjetischen  Republik, ja um das Überleben  des ukrainischen Staates geht“.

Richtig, kann man da nur sagen, aber die Souveränität der  Ukraine wird sicher nicht dadurch hergestellt, dass sie unter das Kommando der Europäischen Union, des IWF, von NATO-Beratern und in die Regierung importierten Ausländer mit amerikanische  Hintergrund gestellt wird, ganz zu schweigen davon, dass die Erbschuld, wenn sie denn schon beschworen wird, auch für die übrigen Teile der ehemaligen Sowjetunion, also auch für das heutige Russland gilt.


[«*] Kai Ehlers ist Journalist, Publizist und Schriftsteller. Sein Spezialgebiet ist die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des post-sowjetischen Raumes. Viele seiner Artikel sind auf der Seite Kai-Ehlers.de nachzulesen.

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