Hartz von unten

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Seit 10 Jahren besteht die sog. Hartz-Gesetzgebung. Verbunden damit sind u.a. neue Strukturen und Prozesse – sie betreffen sowohl die Erwerbslosen als auch das Personal in den ehemaligen Arbeitsämtern, die zu Agenturen für Arbeit umgewandelt worden sind.
Der folgende Text schildert den Umgang mit diesen neuen Strukturen und Prozessen aus Perspektive einer erwerbslosen Person. Erfahrungsbericht eines Betroffenen.

Kurze Zusammenstellung von Erfahrungen mit einem Jobcenter

Jobcenter sind in zwei Bereiche geteilt:

  1. Geldleistung bzw. Leistungsgewährung
  2. Arbeitsvermittlung bzw. Markt & Integration.

So präsentieren sich beispielsweise die Jobcenter in Dortmund1, Flensburg2 und Oldenburg3.

Wer z.B. nach Verlust des Arbeitsplatzes auf Arbeitslosengeld II (das sog. Hartz IV-Geld) angewiesen ist, muss zunächst einen Antrag stellen, um in den „Genuss“ dieser Geldleistung zu gelangen. Dafür ist das Ausfüllen umfangreicher Formulare4, die je nach individueller oder „bedarfsgemeinschaftlicher“ Situation variieren können, notwendig. Ferner ist das persönliche Erscheinen für unabdingbar erklärt worden.

Nach einigen Tagen bzw. wenigen Wochen erfolgt meist eine Einladung zu einem persönlichen Gespräch über die berufliche Situation im zweiten Bereich (Arbeitsvermittlung).
Es wird über die letzte berufliche Situation gesprochen und hinterfragt, weshalb sie zu einem bisherigen Ende gekommen ist. Weiter wird über die erworbene oder erzielte Qualifikation, die bisherige berufliche Situation im Allgemeine und zukünftige Berufsperspektive und -wünsche gesprochen.

Ich persönlich habe dabei unterschiedliche Erfahrungen mit der jeweiligen Fall- bzw. Sachbearbeiterschaft gemacht:

Eine Sachbearbeiterin hat beabsichtigt, mich mit dem ersten Gespräch in die Zeitarbeit zu drängen. Obwohl sie mich erst mit dem Gesprächsbeginn kennengelernt und durch Mitbringen aktueller Bewerbungsunterlagen meine Qualifikation gekannt hat, übergab sie mir die Telefonnummer eines ihr offenbar bekannten Personalsachbearbeiters einer Zeitarbeitsfirma für eine, keine Qualifikation bedürftige, Helfertätigkeit.

Sofort zu Beginn meiner Erwerbslosigkeit habe ich also den Eindruck gewinnen dürfen, dass es der Jobcenter-Mitarbeiterschaft insbesondere um eine gute Bilanz gehen könnte und ein Geflecht von öffentlichen und privaten Strukturen existieren könnte, das nicht selten als „Sozialindustrie“ bezeichnet wird.

Mit einer anderen Sachbearbeiterin habe ich andere, bessere Erfahrungen gemacht. Im Gegensatz zu offensichtlich vielen anderen Erwerbslosen habe ich sie über einen relativ langen Zeitraum als Ansprechpartnerin gehabt. Während andere Betroffene sich bei mir über mehrere Personalwechsel in kurzer Zeit beklagt haben, ist diese Sachbearbeiterin für meinen Fall für viele Monate zuständig gewesen.

Zu jeder „Einladung“ zu einem persönlichen Gespräch über meine „aktuelle berufliche Situation“ hat es von allen Sachbearbeitern eine Rechtsfolgebelehrung gegeben. Verkürzt formuliert: Wer „ohne wichtigen Grund dieser Einladung nicht Folge leistet“, dem werde das Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld „um 10 Prozent des für Sie nach § 20 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) maßgebenden Regelbedarfs für die Dauer von drei Monaten gemindert“. Das mag auf den ersten Blick als nicht viel erscheinen, aber bei einem Regelbedarf von 391 € (20145) ist das nicht wenig, was gekürzt werden könnte.

Bedeutsam ist hier insbesondere § 309 SGB III6, in dem die „Allgemeine Meldepflicht“ geregelt ist.

Derartige Gespräche sind oftmals mit einhergehenden Vermittlungsvorschlägen verbunden. Diese sehen jedoch meist Vermittlungen zu Zeitarbeitsfirmen, Callcentern oder anderen ungelernten Helfertätigkeiten vor. Offenbar bestehen zu diesen Branchen strukturell gute Kontakte („Sozialindustrie“) ‒ Kontakte zu Arbeitgebern mit (hoch) qualifizierten Stellen bestehen offenbar nicht oder zu selten. Man soll sich dann jeweils umgehend – d.h. in wenigen Werktagen – um diese Stellen bewerben.

Diese Vorschläge sind in der Regel ebenfalls mit Rechtsfolgebelehrungen verbunden. Daraus zitiert: „Wenn Sie sich weigern, die Ihnen mit diesem Vermittlungsvorschlag angebotene Arbeit aufzunehmen oder fortzuführen, wird das Ihnen zustehende Arbeitslosengeld II um einen Betrag in Höhe von 30 Prozent (…) gemindert“. In diesem Zusammenhang wird auf die §§ 31 bis 31b SGB II7 verwiesen, in denen Pflichtverletzungen seitens erwerbsloser Personen geregelt sind. Nicht selten wird dieser Paragraph daher auch als „Sanktionsparagraph“ bezeichnet.

Generell sollte bzw. muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass sog. Fallmanager, also die Sachbearbeiterschaft für die berufliche Integration sich weniger an der bisherigen beruflichen Ausbildung und Qualifikation orientieren, sondern – entsprechend dem Gesetz – jede Arbeit bzw. Tätigkeit für ihre „Kundschaft“ als zumutbar begreifen.

Und hier liegt meiner Ansicht nach auch „der Hund begraben“: Die unter der rot-grünen Regierungszeit geänderten Zumutbarkeitsregeln haben jede Arbeit für sog. Langzeitarbeitslose (dazu zählen alle Personen, die länger als 12 Monate erwerbslos sind) für zumutbar erklärt, sofern sie nicht sittenwidrig bezahlt wird. Ungeachtet bleibt dabei auch die vorherige Qualifikation (Kenntnisse und Erfahrungen) der Betroffenen.

Nach verschiedenen Tätigkeiten – insbesondere für das Jugendamt einer Kommune – ist mir der Gang in die Selbständigkeit für den Bereich Politische Beratung mit den Schwerpunkten politische Bildung junger Menschen und Sozialpolitik empfohlen worden. Auch seitens des Jobcenters bin ich dahingehend unterstützt worden. Angeregt worden bin ich zur Teilnahme an einem Kurs mit dem Ziel einer Existenzgründung.

Die Teilnehmerschaft ist häufig heterogen (jemand möchte einen Imbiss gründen, eine andere Bestattungsreden halten), aber sich ihres generell identischen Schicksals bewusst gewesen.

Aber auch hier sind die Strukturen der „Sozialindustrie“ sichtbar geworden:
Die Kursteilnahme beschönigt die Statistik der Arbeitslosigkeit: Die Kursteilnehmerschaft ist während einer Fortbildungsmaßnahme offiziell nicht mehr arbeitslos.
Der Träger der sog. Fortbildung erhält vom Jobcenter Geld-Leistungen und kann so u.a. die nicht selten selbständig tätigen Dozenten von Kursen bezahlen. Diese Dozenten kennen jedoch oftmals nicht die konkrete, angestrebte Berufssituation der Kursteilnehmerschaft. Ziel eines solchen Kurses ist jedoch die Erstellung eines konkreten Unternehmensplans für die jeweils angestrebte Existenzgründung. Aber wie soll das realistisch funktionieren, wenn die Dozentenschaft offenbar lediglich an der Gewinnung von eigenen Einnahmen, aber kaum Kenntnis vom Berufsfeld der jeweiligen Teilnehmerschaft hat?

Es sind also vermutlich nicht selten völlig unrealistische Businesspläne erstellt worden. Und dafür sind Steuergelder verwendet worden.

Aus der Selbständigkeit ist also nichts geworden:

  1. Das hat u.a. an der kreativen Erstellung der Unternehmenspläne gelegen.
  2. Zum selben Zeitpunkt klagten sehr viele Kommunen über Geldsorgen. Zahlreiche Maßnahmen insbesondere im Bereich Jugendbildung sind offenbar gestrichen worden.

Nach einer weiteren Weile der Erwerbslosigkeit ergab sich die Möglichkeit eines Ein-Euro-Jobs in einem Altenpflegeheim. An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass dieses Heim für den Träger den Status eines „Vorzeige-Heims“ hat, denn – so hat mir die Mitarbeiterschaft des Heims mitgeteilt – die Bewohnerschaft stammt aus der sogenannten bürgerlichen Mitte unserer Gesellschaft.

Dieser „Job“ ist mit viel Verantwortung verbunden: Ich habe u.a. nach kurzer Einarbeitung, wenigen Tagen selbständig (ohne erkennbare Kontrolle) neu erhaltene Medikamente in die Bewohner/Patienten-Fächer gestellt sowie neue Rezepte und den Erhalt der Medikamente in die entprechenden Ordner für die jeweiligen Mitbewohner-/Patientenschaft einsortiert.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich mit dem Gesundheitssektor nicht mehr zu tun gehabt habe als vermutlich der allgemeine Durchschnitt der Bevölkerung. Mit anderen Worten: Ich bin nie zuvor beruflich in diesem Bereich tätig gewesen – und: Ich habe niemals entsprechende Berufswünsche zu erkennen gegeben.

Wer würde wohl die Verantwortung dafür übernehmen, wenn beispielsweise die Dokumentation über bestellte und erhaltene Medikamente fehlerhaft gewesen wäre oder die Heimbewohnerschaft ihre jeweiligen Medikamente nicht erhalten könnte, weil sie in falsche Bewohner-Fächer einsortiert worden wäre – das Altenpflegeheim, die Ein-Euro-Kraft oder das Jobcenter?

Dieser Ein-Euro-Job ist von kurzer Dauer gewesen, denn ein Bereichsleiter hat von meiner Qualifikation erfahren und in einem persönlichen Gespräch eine erneute Weiterbildung angeregt. Ein Träger hat eine Kursteilnehmerschaft gesucht – für einen Kurs „Quereinstieg in die Wirtschaft für Akademiker“. Teilgenommen haben nicht lediglich Akademiker, sondern auch Studienabbrecher.

Die unterschiedlichen betriebswirtschaftlichen Inhalte sollten in einer oder wenigen Wochen vermittelt werden und in der Regel mit einer Klausur enden. Mit anderen Worten: Wofür Hochschulen ein oder mehrere Semester benötigen, soll das Wissen in derartigen Maßnahmen in viel kürzerer Zeit erlernt werden.

Als problematisch haben sich bei diesem Fortbildungskurs zudem einige Dozenten herausgestellt. Ein Dozent sollte allgemeine Betriebswirtschaft unterrichten, zeigte jedoch gerne Filme und Fotos von erfolgreichen, angeblich vorbildlichen Unternehmerpersönlichkeiten. Außerdem ist sehr oft die Rede von Wein gewesen.

Ein anderer Dozent sollte „Moderation und Rhetorik“ lehren, stellte sich persönlich jedoch wie einen „Halb-Gott“ dar. Er hat sich zu seinen sonstigen Tätigkeiten geäußert und u.a. erwähnt, dass er an einer Fachhochschule unterrichte. Das hat mich persönlich neugierig gemacht. Eine kurze Recherche auf der Homepage der genannten Hochschule ergab jedoch nichts: Der Name des Dozenten war unauffindbar. Ich habe mich daher direkt an die Fachhochschule gewandt. Das Ergebnis: Dieser Dozent hat nicht zum Lehrpersonal der Hochschule gehört; er hat – Jahre zuvor – offenbar lediglich für einige Wochen Kurse gegeben.

Das habe ich dem Jobcenter und speziell dem Bereichsleiter mitgeteilt. Die Folge war ein Gespräch in den Räumen des Weiterbildungsträgers. Anwesend waren Personen des Trägers, der Jobcenter-Bereichsleiter sowie mein Beistand und ich. Anstatt jedoch dem offensichtlich kreativen Lebenslauf des Dozenten nachzugehen, ist folgendes geschehen (verkürzt):

  1. Mir ist vorgehalten worden, dass ich – auch wenn es während meiner Freizeit geschehen ist – derartige Recherchen vornehme;
  2. Ich solle mir ein Beispiel an dem Lebenslauf des Dozenten nehmen. Das hat ausgerechnet der Bereichsleiter gesagt und sinngemäß betont, dass er froh sei, wenn ich dann nicht mehr „seine“ Gelder in Anspruch nehmen müsste.
  3. Der Inhalt des Gespräches soll die Räumlichkeiten nicht verlassen.

Meiner Einschätzung nach entspricht b) einer Aufforderung zum Betrug, denn was wäre eine derart geschönte Biographie sonst? Sollen Erwerbslose tatsächlich auf diese Art ihre jeweiligen Lebensläufe kreativ gestalten – auch wenn die Angaben nachweislich unwahr sind, was sich bei persönlichen Vorstellungsgesprächen bei potentiellen Arbeitgebern herausstellen könnte?

Neben vielen Anderen habe auch ich das „Fördern und Fordern“ lediglich einseitig – zulasten der erwerbslosen Personen – kennengelernt. Die oben genannten Rechtsfolgebelehrungen sind beispielhaft. Viele andere erwerbslose Personen können sicherlich auf weitere „Belehrungen“ verweisen.

In all der Zeit der Arbeits- bzw. (korrekter!) Erwerbslosigkeit ist mir nicht eine Vorschrift begegnet, die die Sachbearbeiterschaft von Jobcentern in Haftung nimmt bzw. fordert, falls sie einen Fehler begehen sollte: Das könnte z.B. dann der Fall sein, wenn die Höhe der Geldleistung fehlerhaft berechnet sein sollte.

Meinem Eindruck nach hat die Hartz-Gesetzgebung viele Schwächen:

  1. Sie fordert einseitig und unverhältnismäßig die erwerbslosen Personen (Stichwort Sanktionen).
  2. Zuvor erworbene Kenntnisse und Erfahrungen seitens der erwerbslosen Personen spielen – im Gegensatz zu früherer Arbeitslosigkeit – keine Rolle mehr.
  3. Formale Förderung dient im Wesentlichen lediglich der Sachbearbeiterschaft bzw. deren oder/und der generellen Statistik.
  4. Die „normale“ Arbeitnehmerschaft befürchtet, auf das Hartz-Niveau herabzufallen.
  5. Strukturell hat sich offenbar eine „Sozialindustrie“ herausgebildet, die die Situationen auszunutzen weiß.

Insbesondere die strukturellen Kopplungen seit der Hartz-Gesetzgebung sollten dem politischen System von Interesse sein.

Es ist davon auszugehen, dass Arbeitgeber bzw. Personalsachbearbeiter der Branchen Callcentern, Leih- und Zeitarbeit und anderer vor allem ungelernter Helfertätigkeiten den (persönlichen) Kontakt zu Entscheidungsträgern (Fallmanager oder auch auf höherer Ebene) in Jobcentern suchen. Das könnte an und für sich als relativ normal angesehen werden. Kritisch wird es vor allem dann, wenn diese Entscheidungsträger empfänglich für derartige Botschaften werden – sich also (auf welchem genauen Wege auch immer) beeinflussen lassen.

Es besteht also dringender Bedarf einer Reform des der Arbeitsverwaltung und insbesondere seiner Strukturen.

Wohlgemerkt: Der Begriff „Reform“ steht – zumindest ursprünglich – für eine Verbesserung der Situation der Gesellschaft. Insbesondere seit den Kohl- und Schröder-Regierungen ist der Reformbegriff aber geradezu pervertiert und es sind Maßnahmen beschlossen worden, von denen lediglich eine kleine Minderheit profitiert hat. Dazu zählen leider auch die Veränderungen auf dem „Arbeitsmarkt“.
Notwendig sind jedoch Maßnahmen, von denen ‒ erstens – die Betroffenen wirklich profitieren und vor denen – zweitens – die Gesellschaft keine Furcht haben muss.

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