Rezension: Hessischer Machiavellismus: Die Sterntaler-Verschwörung

Götz Eisenberg
Ein Artikel von Götz Eisenberg

Ich möchte den Leserinnen und Lesern der Nachdenkseiten einen Kriminalroman zur Lektüre empfehlen. Die Nachdenkseiten scheinen mir der richtige Ort für einen derartigen Hinweis, weil der Roman, um den es geht, um ein politisches Geschehen kreist. Im Zentrum von Jan Seghers‘ neuem Buch Die Sterntaler-Verschwörung stehen die Ereignisse nach der hessischen Landtagswahl im Jahr 2008. Von Götz Eisenberg.

„Zuerst trachtet man nach Gerechtigkeit und zum Schluss organisiert man eine Polizei.“

(Albert Camus)

Zur Erinnerung: Diese Landtagswahl endete für den damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch, der unter anderem wegen der als jüdische Vermächtnisse getarnten schwarzen Kassen der CDU in Misskredit geraten war, mit einem Fiasko. Seine Partei verlor 12 Prozent, die Christdemokraten büßten ihre absolute Mehrheit ein. Die Sozialdemokraten legten kräftig zu und verfügten über die gleiche Anzahl von Sitzen im Landtag. Eine Koalition aus SPD und Grünen unter Tolerierung der Linken wäre möglich gewesen, und eine knappe Landtagsmehrheit hätte die SPD-Kandidatin Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin wählen können. CDU und FDP starteten mit massiver medialer Unterstützung umgehend eine Kampagne gegen diese Option und nannten Ypsilanti gebetsmühlenartig eine Lügnerin, weil sie vor der Wahl eine Zusammenarbeit mit den Linken ausgeschlossen hatte.

Die amtierende Landesregierung hatte den Ausbau des Frankfurter Flughafens zu ihrer Sache gemacht und ihn als „Job-Maschine“ gepriesen. Den Menschen wurde mit einem Verlust von Arbeitsplätzen für den Fall gedroht, dass Frau Ypsilanti Ministerpräsidentin würde und der Ausbau des Flughafens sich verzögere oder gar scheitere. Ypsilanti wollte den SPD-Linken Hermann Scheer zum neuen Wirtschafts- und Umweltminister machen, und im Hintergrund fürchteten manche Leute, er könne diese Position nutzen, um Hessen zu einem Probierstand für die Möglichkeit eines radikalen Umstiegs auf erneuerbare Energien machen. In dem Dokumentarfilm Let’s Make Money aus dem Jahr 2008 kommt Hermann Scheer ausführlich zu Wort und erläutert seine Ideen. Wenn man diesen Film gesehen hat, versteht man, warum gewisse Leute, vor allen aber die großen Energiekonzerne, eine solche politische Option fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Widerstand gegen Ypsilanti und Scheer gab es auch innerhalb der SPD selbst. So hatte Wolfgang Clement eine Woche vor der Landtagswahl wegen ihrer energie- und industriepolitischen Positionen von der Wahl Ypsilantis abgeraten. Auch das Vorhaben, nach der Wahl eine rot-grüne Regierung unter Tolerierung durch die Linke anzustreben, war in der Bundes-SPD umstritten und stieß parteiintern auf Widerstand.

Die SPD entschloss sich nach vielen Konferenzen und Probeabstimmungen dennoch, eine solche Koalition zu wagen. Auf einem Sonderparteitag unterstützte die SPD Hessen mit großer Mehrheit der Stimmen Ypsilantis Kurs. Alle Mitglieder der SPD-Fraktion sicherten zu, sie zu wählen. Buchstäblich im letzten Moment entdeckten vier SPD-Mitglieder ihr Gewissen und verweigerten Frau Ypsilanti die Gefolgschaft. Ihre Wahl scheiterte und Roland Koch blieb geschäftsführender Ministerpräsident. Frau Ypsilanti zog sich in der Folge von der großen politischen Bühne zurück. Herr Koch wurde bei den Neuwahlen im Jahr 2009 wiedergewählt und wechselte im Jahr 2010 in den Vorstand des Baukonzern Bilfinger Berger, dessen Interessen beim Ausbau des Flughafens er bereits zuvor gut vertreten hatte. Hermann Scheer starb im selben Jahr „nach kurzer schwerer Krankheit“, wie man in solchen Fällen sagt. Krebs ist (auch) die Krankheit der um ihre Hoffnung Betrogenen.

Die Ereignisse des Jahres 2008 geben den hessischen Linken bis heute Rätsel auf, und ich kenne einige Leute, die sich bis heute von diesem Schock nicht erholt haben und regelrecht traumarisiert sind. Viele sind davon überzeugt, dass es bei dem sogenannten „Aufstand der Anständigen” nicht mit rechten Dingen zugegangen ist. Was ließ diese vier SPD-Abgeordneten plötzlich ihr Gewissen entdecken? Was ist damals geschehen im Machtzentrum der hessischen Landespolitik? Verschwörungstheorien schossen ins Kraut. Es war die Stunde der politischen Paranoiker, die finstere Machenschaften am Werk sahen und davon ausgingen, dass das Gewissen der vier Abtrünnigen in Wahrheit deren Geldbeutel war. Vielleicht waren diejenigen, die sich von der Paranoia nicht anstecken lassen wollten und sich mit solchen Erklärungsversuchen zurückhielten, aber auch politisch zu blauäugig und unterschätzten den Machiavellismus der herrschenden Klasse, die bereit ist, zur Verteidigung ihrer Macht und ihrer finanziellen Interessen jedes Mittel einzusetzen – unabhängig von Recht und Moral. Adorno hatte schon 1961 in seinem Aufsatz Meinung Wahn Gesellschaft gemutmaßt:

„Die objektive Welt nähert sich dem Bild, das der Verfolgungswahn von ihr entwirft.“

Auch der Frankfurter Autor Matthias Altenburg wird sich nach dem Ypsilanti-Debakel all diese Fragen gestellt haben und ist jahrelang mit diesem Stoff schwanger gegangen, bis er ihn in seiner Alias-Rolle als Jan Seghers zum Thema und Stoff eines Kriminalromans gemacht hat. Es war diesmal eine schwere und langwierige Geburt. Die Mühen des Autors und das Warten der Leserinnen und Leser haben sich gelohnt, denn herausgekommen ist ein ausgesprochen spannendes und schriftstellerisch gelungenes, gut geschriebenes Buch. Die Romanform eröffnet Seghers die Möglichkeit, eine denkbare Version des Geschehens durchzuspielen, die uns vor Augen führt, was in den Monaten nach jener Landtagswahl hinter den Kulissen geschehen sein könnte. Nirgends und nie wird die Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischt und der Eindruck erweckt, so und nicht anders sei es zugegangen und es handele sich um einen Tatsachenbericht. „Alle Ereignisse und Personen sind frei erfunden“, stellt Seghers dem Buch voran. Dann fügt er sibyllinisch hinzu: „Selbst der Vollmond scheint, wann er will.“

Auch wenn die Handlung der Sterntaler-Verschwörung, wie die der vorangegangenen vier Kriminalromane von Jan Seghers, in Frankfurt und der weiteren Umgebung angesiedelt ist, legt Seghers Wert darauf, dass seine Romane nicht der grassierenden Mode der Regionalkrimis angehören, die in seinen Augen „eine elende Fortsetzung der Fremdenverkehrswerbung mit anderen Mitteln“ darstellt und bestenfalls Parodien von Kriminalromanen hervorbringt. Seine Romane sind, wie alle wirklich guten Krimis, Gesellschaftsromane, die im Gewand von Kriminalromanen auftreten. Geschickt und gekonnt werden verschiedene Ebenen und Erzählstränge miteinander verflochten, scheinbar weit auseinanderliegende Kriminalfälle berühren sich plötzlich und lassen neue Muster und Zusammenhänge erkennen. Wir erfahren sowohl etwas über zeitgenössische Beziehungsverhältnisse und Lebensformen als auch über gewisse Praktiken im Milieu der organisierten Kriminalität und Techniken des politischen Machterhalts.

Im Zentrum des Romans steht auch dieses Mal Kommissar Marthaler, der sich im Unterschied zu seinem Gegenspieler vom Landeskriminalamt, der als verlängerter Arm der politisch Mächtigen fungiert, als ein einem demokratischen Gemeinwesen verpflichteter Aufklärer versteht. Aufklärung besteht für ihn nicht nur im Dingfestmachen der jeweiligen Täter, sondern auch in der Aufhellung des gesellschaftlichen Umfelds, ohne das die in Rede stehenden Taten nicht möglich wären. Er weigert sich, „Haltet den Dieb!“ zu rufen und die wahren Diebe entkommen zu lassen. In Seghers Roman blitzt die Utopie einer demokratischen Polizei in einem demokratischen Gesellschaft auf, die einzig der Wahrheit und einem wohlverstandenen Gemeinwohl verpflichtet ist. Auch eine vom Terror der entfesselten Ökonomie befreite Gesellschaft, wenn es sie denn je geben sollte, wird nicht ohne Polizei (oder etwas ihr Ähnliches) und Justiz auskommen. Sie entlasten die zivile Gesellschaft wie die Individuen von zahlreichen Aufgaben, die sie nicht ohne Schaden für ihre sozialen und individuellen Beziehungen erfüllen könnten. „Die Polizei (deren Funktionen übrigens nicht als Vollzeit-Beruf ausgeübt zu werden brauchten)“, hat André Gorz bereits vor 35 Jahren geschrieben, „erspart jedem, sein eigener ‚Bulle‘ zu sein.“

„Gerechtigkeit gibt‘s im Jenseits, hier auf Erden gibt‘s das Recht“

heißt es lapidar in William Gaddis‘ Roman Letzte Instanz. Polizei und Justiz dienen der Aufrechterhaltung eines fragilen Gebildes, das wir etwas pathetisch Rechtsordnung nennen. Sie stellt den Versuch dar, die Regelung von Konflikten der Hitze von Näheverhältnissen zu entziehen, die Rachegelüste der unmittelbar Beteiligten zu zivilisieren und so ein leidliches Zusammenleben zu ermöglichen. „Zuerst trachtet man nach Gerechtigkeit und zum Schluss organisiert man eine Polizei“, fasst Albert Camus diesen Prozess zusammen. Marthaler und seine Kolleginnen und Kollegen begreifen sich, ganz im Einklang mit dem ursprünglichen Wortsinn von Polizei – von altgriechisch Polis, die Stadt – als Gemeinwesenarbeiter, die die Wahrheit ans Licht bringen wollen – auch gegen den entschlossenen Widerstand jener, denen an Verdunkelung gelegen ist, weil sie im Dunklen ihren mehr oder weniger schmutzigen Geschäften besser nachgehen können.

In Seghers’s Roman wohnen wir als Leserinnen und Leser einem mühsamen und verschlungenen Ermittlungsprozess bei, der am Ende dazu führt, dass eine Struktur im scheinbar Chaotischen erkennbar wird. Die zerstreut herumliegenden Puzzleteile fügen sich schließlich zu einem erkennbaren Bild. Das Freud-Zitat, das Jan Seghers seinem Buch vorangestellt hat, könnte es auch beschließen:

„Selbst wenn alle Teile eines Problems sich einzuordnen scheinen wie die Stücke eines Zusammenlegspieles, müsste man daran denken, dass die Wahrscheinlichkeit nicht notwenig das Wahre sei und die Wahrheit nicht immer wahrscheinlich.“

Jan Seghers: Die Sterntaler-Verschwörung ist im November 2014 bei Kindler erschienen und kostet 19,95 Euro

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