Leserbriefe zu Steinmeier

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Ergänzungen zu “Steinmeier” und einem vergleichbaren Interview Steinbrücks mit der Süddeutschen. In den Mails unserer Leser gab es eine Reihe von weiterführenden Hinweisen. Danke vielmals. Ich gebe diese an Interessierte hiermit weiter. Albrecht Müller.

1. Anmerkung von A.T.

Zu Steinmeiers Aussage:

“Joschka Fischer und die Grünen haben rasch gelernt, wie wir in der Kosovo-Krise 1999 erlebt haben. Davon sind die Linken meilenweit entfernt, vor allem wegen ihrer beinahe nationalistischen Verengung.”

Hier wirft Steinmeier den Linken eine nationalistische Verengung vor, ohne auch nur einen kritischen Gedanken an die zur Normalität gewordenen Einsätze der Bundeswehr im Ausland zu verschwenden. Ist dieses militärische Engagement nicht eher die Folge eines neuen Deutschlands, dass sich nach dem Epochenbruch 1989/90 auf ein neues nationalistisches Selbstbewusstsein stützt? Ein Deutschland, das nach der Auflösung der deutsch-deutschen Teilung, die direkte Folge von Auschwitz, zu einer lang ersehnten Normalität tendierte? War es nicht Gerhard Schröder, der mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kein Wahrnehmungsproblem mehr hatte, der das Denkmal für die ermordeten Juden als Ort bezeichnete, „wo die Leute gern hingehen“? Anders als seine Vorgänger, konnte Schröder unbefangener reagieren und ein neues Selbstbewusstsein propagieren, das Deutschland in die Lage versetzen sollte, als souveräner Partner an den Verhandlungstischen der Weltmächte mitreden zu können.

Das stieß vor allem bei den Opfern des Nationalsozialismus auf Vorbehalte, die sich darin äußerten, Deutschland könne mit dem Ende der DDR, die NS-Geschichte als abgeschlossen betrachten. Es wurde sehr schnell klar, dass die Möglichkeit einer Verdrängung der einen deutschen Geschichte durch die andere in Betracht gezogen würde. In den nachfolgenden Deutungen der Ereignisse, gemeint sind die Ausbrüche rechter Gewalt im Osten unmittelbar nach dem Fall der Mauer und das offenbar viel schnellere Ausbreiten des Rechtsextremismus auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, ließen oberflächlich betrachtet nur den einen Schluss von der Nähe des DDR-Systems zu dem des Nationalsozialismus zu. Die Totalitarismusthese erfuhr nunmehr eine Renaissance. Doch das merkwürdige an der Diskussion ist, dass vor 1989 die DDR als linker Totalitarismus bezeichnet wurde und nach der Einheit rückblickend nur noch von der Ähnlichkeit bzw. Gleichartigkeit zum Nazi-Regime gesprochen wurde. [1] Damit entzog man der DDR und vor allem ihren Bürgern den gesellschaftlichen Kern und allen anderen die Möglichkeit über eine gesellschaftliche Differenz überhaupt nachzudenken.

Der Vergleich zwischen alter Bundesrepublik und der DDR wurde gar zu einem Tabu erklärt, da einer solchen Betrachtung die Anerkennung des DDR-Staates und der Gesellschaft vorausgehen müsste. „Tatsächlich werden die Ostdeutschen nur unter einer Bedingung vom Westen anerkannt: Sie müssen das Vergleichen zwischen der DDR und der Bundesrepublik unterlassen.“ [2] Auf der anderen Seite stand dem Vergleich zwischen der DDR und dem Nationalsozialismus auf der Basis des Diktaturenvergleichs nichts im Wege. Die neue Berliner Republik konnte sich daher mit dem neuen Bewusstsein schmücken, über zwei Diktaturen bzw. totalitäre Systeme hinweggekommen zu sein. [3] In dieser Konzeption avanciert der ganze DDR-Staat in der Wahrnehmung zu einem verbrecherischen Fehltritt der Geschichte, der zum einen diejenigen, die in ihm lebten, verunsichert bzw. mit dem Vorwurf konfrontiert, Teil eines Unrechtsstaates gewesen zu sein und die westdeutsche Gesellschaft gleichzeitig entlastet, wenn es darum geht, Aufarbeitung leisten zu müssen. „Die Bundesrepublik braucht die DDR, um sich über sie vom Nationalsozialismus abzustoßen.“ [4]

Die nationalistische Verengung, wie sie Steinmeier den Linken vorwirft, ist dann wohl eher im eigenen Haus zu finden, basierend auf einer neuen deutschen Staatsraison, die unkritisch gegenüber der eigenen verhängnisvollen Geschichte ist. Das Bekenntnis zu Verbrechen und Schuld wird dabei in eine bloße Floskel transformiert, um diese im Fokus der innerdeutschen Auseinandersetzung für eine bloße Aufwertung der SED-Diktatur im Vergleich zu benutzen.

Anmerkungen:

[«1] Franziska Augstein: Deutschland. Nationalsozialismus und zweiter Weltkrieg – Berichte zur Gegenwart der Erinnerung, in: Volkhard Knigge und Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern – Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, vgl., S.228

[«2] ebd.

[«3] ebd. vgl., S.229

[«4] ebd. S.230

2. Zur 35-Stunden-Woche und angeblich schnellen Frühverrentung bei leichten Rückenbeschwerden

2a. U.E.:

Ich habe gerade das Steinmeier-Interview mit Ihrer Kommentierung gelesen. Ich kann Ihnen da wirklich nur voll und ganz zustimmen! Das ist doch wirklich übel, wie dieser Mensch sich äußert. Am meisten in Wut geraten bin ich über diese Anmerkung Steinmeiers:

“Damals gab es die 35-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich, und bei leichten Rückenbeschwerden fand man einen Arzt, der einem die Papiere für die Frührente klarmachte.”

Solch menschenverachtende Propaganda wie die mit den »leichten Rückenbeschwerden« ist man eigentlich nur von Westerwelle-Liberalen gewohnt, die den Sozialstaat am liebsten schon gestern privatisiert hatten. In welcher Weise sich Steinbrück da an jenen Menschen vergeht, die ihren Beruf mit körperlichen Leiden verließen, die sie dann durch den restlichen Ruhestand begleitet haben… also da fehlen mir wirklich die Worte bei so viel Menschenverachtung! Ich glaube, Herr Steinmeier ist sich wirklich nicht im Klaren darüber, was es bedeutet, wenn jemand nach einem langen Arbeitsleben mit gesundheitlichen Schäden bereits in Frührente muss. Nur so kann man sich auch erklären, warum dieser Mensch für einen späteren Renteneintritt ist.

2b. J.B.: mehr als dreist finde ich folgende Aussagen Steinmeiers:

“Damals gab es die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich, und bei leichten Rückenbeschwerden fand man einen Arzt.”

  1. Dass Steinmeier die Aussage zur 35-Stunden-Woche in unmittelbaren Zusammenhang mit Oskar Lafontaine stellt, stellt die Tatsachen geradezu auf den Kopf. Denn Lafontaine war es, der seinerzeit als erster führender Sozialdemokrat vor der Einführung der 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich zu Recht warnte (der Produktivitätsfortschritt lässt sich nur einmal verteilen: entweder in Form von Lohnerhöhungen oder als Arbeitszeitverkürzung). Mit dieser Meinung, die er im übrigen auch heute noch teilt (wie er in einem Interview kürzlich mitteilte) stieß er damals einen notwendigen Umdenkungsprozess in SPD und Gewerkschaften an. Und entgegen der Behauptung Steinmeiers wurde die Arbeitszeitverkürzung, die im Übrigen durchaus nicht durchgängig auf das 35-Stunden Niveau erfolgte, durch Lohnverzicht der Arbeitnehmer umgesetzt.
  2. Der Hinweis auf eine früher angebliche Krankfeier-Mentalität deutscher Arbeitnehmer ist vor dem Hintergrund der heute historisch niedrigen Krankheitsquote der deutschen Arbeitnehmer zynisch. Sehr viele Arbeitnehmer haben heute Angst, trotz Krankheit sich krankschreiben zu lassen. So hat meines Wissens kürzlich selbst die Bertelsmann-Stiftung vor den negativen Folgen für die Unternehmen gewarnt, wenn sich Arbeitnehmer krank zur Arbeit schleppen (Ansteckungsgefahr etc.). Auch psychische Krankheiten unter den Beschäftigten sind in Folge der ständig steigenden Arbeitsbelastungen im Anwachsen.
  3. Auch die Arbeitsmarktlage wird von Steinmeier beschönigt. Er verschweigt, dass der weit überwiegende Teil der zusätzlichen Beschäftigung aus schlecht bezahlter Leiharbeit, Zeitarbeit, Minijobs und Teilzeitarbeit besteht. Auch gibt es eine Lücke zwischen der Reduzierung der Arbeitszeit in der Arbeitslosenstatistik und der Zunahme der Beschäftigung (2007 wird diese ca. 200 Tsd. Personen betragen): statistische “Bereinigungen (sprich: Arbeitslose werden nicht mehr als solche in der Arbeitsmarktstatistik geführt), Demografie-Effekt (lt. Bundesagentur für Arbeit im Jahresdurchschnitt ca. 100.000 Personen).

Ich würde es für sinnvoll erachten, diese Punkte in Ihre Analyse des Steinmeier-Interviews zu berücksichtigen.

Kommentar AM: Ich habe die Kritik Steinmeiers an den Missbräuchen sozialer Leistungen in meinem Text vom 13.7. nicht aufgenommen, weil ich annehme, dass diese bösartige Kritik von Missbräuchen sozialer Leistungen nicht dauernd Bestand der Strategie der Meinungsbildung sein wird. Aber ich akzeptiere, dass unsere Leser dies anders sehen und dass man in der Tat sogar befürchten muss, dass diese plumpe Sozialstaats-Gegnerschaft auch in den Führungsetagen der SPD heimisch wird.
Dass es Missbräuche sozialer Leistungen gibt, wussten wir auch schon vor Steinmeiers Tiraden. Aber viele Menschen werden eben zu Unrecht mit dem Verdacht des Missbrauchs behelligt. Das sieht er nicht.

3. G.R. mit dem Hinweis auf ein ähnliches Interview mit Steinbrück

Herzlichen Dank für die Analyse zu dem Spiegel-Interview mit Herrn Steinmeier in dem heutigen Tagebucheintrag der Nachdenkseiten. Ich finde Ihre Analyse sehr treffend und erhellend.

Es dürfte kein Zufall sein, dass ein Interview mit Herrn Steinbrück beinahe zeitgleich in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. (Leider offen nicht abrufbar, AM)

Quelle 1: sueddeutsche.de (Finanzen)
Quelle 2: sueddeutsche.de (Deutschland)

Die Parallele der Grundaussagen beider Minister und zukünftigen Vorstände der SPD sind offensichtlich.

Zwei Aussagen waren für mich besonders bemerkenswert. Zum einen “Die SPD steht in den Umfragen so schlecht da, weil ihre politische Körpersprache nicht intakt ist.” Was ist eine “politische Körpersprache”? Körpersprache hat meines Wissens sehr viel mit dem Unbewussten zu tun. War das Unterbewusstsein der SPD in den letzten Jahren gestört? Dann wäre sie ein Fall für die Couch.

Zum anderen die Aussagen zu Oskar Lafontaine bzw. der Linkspartei: “Aber deshalb darf ich Ihnen [der Linkspartei, Anm.] doch nicht Recht geben, denn die falsche Botschaft wäre: Wenn Du die Zukunft gewinnen willst, musst Du in die Vergangenheit reisen.”

Hier genau das, was Sie dankenswerterweise bereits zu dem Steinmeier Interview herausgearbeitet haben. Die SPD verleugnet ihre eigenen Leistungen in der Vergangenheit und redet sie schlecht. Für mich stellt sich die Frage: wie kommen solche Leute in der SPD in ein Ministeramt und womöglich in ein hohes Parteiamt?

4. R. H. zum Unterschied von „sozialer Gerechtigkeit“ und „sozialem Zusammenhalt“:

Mir ist folgende Stelle aufgefallen:

“Die SPD ist drei großen Zielen verpflichtet. Sie ist die Partei des Friedens, der Arbeit und des sozialen Zusammenhalts.”

Steinmeier spricht nicht davon, dass die SPD die Partei der sozialen Gerechtigkeit sondern die Partei des sozialen Zusammenhalts sei. Dass dies ein bedeutsamer und qualitativer Unterschied ist (und dass ihm dies sicherlich nicht zufällig herausgerutscht ist), brauche ich Ihnen sicherlich nicht zu erläutern.
Die Linke kann sich freuen.

Kommentar AM: Ich fand das nicht so schlimm. Denn ohne mehr soziale Gerechtigkeit wird es auch keinen sozialen Zusammenhalt geben. Deshalb unterscheiden sich für mich diese beiden Ziele nicht so sehr. Aber dies ist kein Streitpunkt.

5. Harald Siepmann
www.dervolkswirt.de

Hallo, liebe Nachdenkseiten-Redaktion,

die SPD-Spitze sucht verzweifelt die Öffentlichkeit. Erst Steinmeier im Spiegel, jetzt Steinbrück in der SZ. Das ganze Interview ist leider nicht online erhältlich. Einige Statements sind offensichtlicher Nonsens. So bezeichnet Steinbrück Hartz IV aus rein fiskalischem Gesichtspunkt als großartige Soziale Aufbauleistung. Was will er damit sagen? Oder ist das nur kalkuliertes Wortgeklingel?
Weiterhin müßte die SPD die Erfolge durch die Agenda 2010 (?)offensiv verkaufen, statt sich dafür zu entschuldigen. Leider ist die Agenda 2010 aber kein Verkaufsschlager und wird auch keiner werden. Auf diesem Wege wird die SPD die Richtung ihrer holländischen Schwesterpartei einschlagen.

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