Christine Lagarde und der IWF: Arroganz und Ignoranz

Ein Artikel von Günther Grunert

Die Eurogruppe ist am Montag (16.02.2015) in Brüssel eindeutig auf Konfrontationskurs mit Griechenland gegangen, der mit einem Ultimatum endete: Entweder – so die unmissverständliche Botschaft – Griechenland stellt einen Antrag auf Verlängerung des Reformprogramms oder es gibt keine Finanzierung mehr für das Land. [1] Als Hardlinerin entpuppte sich einmal mehr die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, die keinen Verhandlungsspielraum erkennen wollte. „Zeit online“ gibt sie mit den Worten wieder, dass, wenn es keine weiteren Reformen in Griechenland gebe, es auch zu keiner Auszahlung der so dringend benötigten Hilfskredite kommen werde. Und überhaupt sei eine IWF-Überprüfung Griechenlands längst überfällig. Von Günther Grunert [*]

Die Arroganz der IWF-Chefin, die schon in der Vergangenheit durch abfällige Bemerkungen über Griechenland aufgefallen war, ist frappierend. Vielleicht sollte man sie deshalb einmal an die unrühmliche Rolle erinnern, die sie und ihre Organisation in der Einschätzung der Krise Griechenlands gespielt haben, und welche Mitverantwortung sie deshalb für die katastrophale Lage tragen.

Im Oktober 2010 vertrat Christine Lagarde (damals noch Ministerin für Wirtschaft und Finanzen in Frankreich) offensiv die Theorie der „expansiven Fiskalkontraktion“ (expansionary fiscal contraction): Wenn man die öffentlichen Ausgaben kürze, stiegen die privaten Ausgaben an:

„Wenn wir nicht das öffentliche Defizit reduzieren, wird nicht das Wachstum begünstigt. Warum? Weil die Menschen sich Sorgen machen über das öffentliche Defizit. Wenn sie sich darüber Sorgen machen, fangen sie an zu sparen. Wenn sie zu viel sparen, konsumieren sie nicht. Wenn sie nicht konsumieren, steigt die Arbeitslosigkeit und die Produktion sinkt. Deshalb müssen wir diesen Kreislauf vom Defizit her attackieren“ (Lagarde 2010, Übersetzung G. G.).

Solche Vorstellungen basieren auf dem Theorem der „ricardianischen Äquivalenz“, das schon im Jahre 1821 von David Ricardo entwickelt und vom Harvard-Ökonomen Robert Barro 1974 neu belebt wurde. Danach führt jede Steigerung schuldenfinanzierter Staatsausgaben unmittelbar zu einem Rückgang der Ausgaben für Güter im privaten Sektor, da die Konsumenten und Unternehmen in diesem Fall Steuererhöhungen in der Zukunft befürchteten (aus denen der Staat die zusätzlichen Schulden zurückzahlen müsse) und deshalb mehr sparten, um für die kommenden Steuerbelastungen gewappnet zu sein. Kündige eine Regierung dagegen Austeritätsmaßnahmen an, nähmen die Privatausgaben und damit das Wirtschaftswachstum zu, da nun geringere zukünftige Steuerbelastungen erwartet würden.

Man mag über solch abstruse Ideen den Kopf schütteln (eine ausführliche Kritik an der ricardianischen Äquivalenztheorie findet sich hier), aber sie bildeten tatsächlich die theoretische Basis der Wachstumsvorhersagen des IWF für Griechenland. So prognostizierte der IWF im Jahr 2010 zwar eine kurzfristig abgeschwächte Inlandsnachfrage für das Land, aber von 2012 an sei zu erwarten, dass „die Vertrauenseffekte, der wiedererlangte Marktzugang und die umfassenden Strukturreformen […] zu einer Erholung des Wachstums führen. Es wird geschätzt, dass die Arbeitslosigkeit 2012 mit fast 15 Prozent den Höchststand erreicht“ (IMF 2010, S. 9; Übersetzung G.G.).

In Tabelle 1 werden die Vorhersagen des IWF aus dem Jahr 2010 mit der tatsächlichen Entwicklung verglichen. Wie leicht zu erkennen, lagen die Prognosen komplett daneben: Statt eines Wachstums des realen BIP von 1,1 Prozent und 2,1 Prozent in den Jahren 2012 und 2013 verzeichnete Griechenland einen BIP-Rückgang von 7 Prozent bzw. 4,2 Prozent.

Tabelle 1: Prognosen des IWF für Griechenland und die Realität

Tabelle 1: Prognosen des IWF für Griechenland und die Realität

Quelle: Mitchell 2015, IMF 2010, Eurostat

Die Arbeitslosenquote stieg von 2010 bis 2013 nicht von 11,8 Prozent auf „nur“ 14,3 Prozent, wie vom IWF prognostiziert, sondern von 12,6 Prozent auf 27,3 Prozent. Im Oktober 2014 betrug die Arbeitslosenquote in Griechenland immer noch 25,8 Prozent.

Diese Ergebnisse können kaum überraschen: Es war klar, dass eine derart drastische und rasche Kürzungspolitik, wie sie Griechenland aufgezwungen wurde, zu einem dramatischen Einbruch der öffentlichen und privaten Ausgaben und damit zu einer Depression mit hoher Arbeitslosigkeit führen musste (vgl. auch Mitchell 2015).

Es dauerte noch bis zum Oktober 2012, bis der IWF seine Fehleinschätzungen öffentlich eingestand. Während er zuvor die den Euro-Krisenländern von der Troika auferlegten Austeritätsmaßnahmen damit gerechtfertigt hatte, dass seine Modelle zeigten, dass ein rascher Abbau der staatlichen Haushaltsdefizite aufgrund verstärkter Ausgaben des Privatsektors eine baldige Rückkehr des Wachstums zur Folge habe, musste er in seinem „World Economic Outlook“ von Oktober 2012 einräumen, dass die Fiskalmultiplikatoren allgemein unterschätzt worden seien: Die „tatsächlichen Fiskalmultiplikatoren waren größer als die Prognostiker annahmen“ (IMF 2012, S. 43; Übersetzung G.G.).

Der Fiskalmultiplikator misst die Auswirkung des staatlichen Sparens auf das Wachstum des BIP. Wenn – wie in Griechenland – der Staat seine Ausgaben verringert (und zusätzlich noch Steuern erhöht), führt dies zu negativen Effekten bei den Unternehmen und privaten Haushalten. Diese geben dann in der Folge ebenfalls weniger aus, als sie ursprünglich geplant hatten, so dass es zu einer negativen Gesamtwirkung auf die Volkswirtschaft kommt, die größer ist als diejenige, die allein durch die staatlichen Ausgabensenkungen ausgelöst worden wäre. Diese größere Gesamtwirkung verglichen mit der geringeren Ausgangswirkung wird durch den Multiplikator gemessen. Die Theorie des IWF, dass staatliche Ausgabenkürzungen nur eine geringe Auswirkung auf die übrige Wirtschaft hätten, hat sich als fundamental falsch erwiesen. In Wahrheit führten die staatlichen Haushaltskürzungen zu einem sich beschleunigenden Zusammenbruch beim privaten Konsum und bei den Investitionen.

Der IWF hatte die Fiskalmultiplikatoren ursprünglich als sehr gering eingestuft (unter 1), so dass Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben sogar zu höheren Gesamtausgaben führen sollten. Im Oktober 2012 gestand der IWF ein, dass die Multiplikatoren vermutlich deutlich über 1 lägen, was nichts anderes heißt, als dass staatliche Ausgabensenkungen um 1 Euro zu einer erheblich darüber liegenden Abnahme von Ausgaben und Produktion insgesamt führen.

Tatsächlich zeigen seriöse Schätzungen, dass von Fiskalmultiplikatoren unter 1 nicht die Rede sein kann. So kommen Papadimitriou et al. (2013) für Griechenland auf einen Multiplikator-Wert von mehr als 2,5 (d.h. für jeden Euro an Ausgabenkürzungen verliert Griechenland über 2,5 Euro an Wirtschaftsleistung); andere Berechnungen ergaben sogar noch höhere Werte für den fiskalischen Multiplikator in Griechenland (Handelsblatt, 10.12.2012).

Aber unabhängig davon, wie hoch der Multiplikator nun genau war und ist – eines ist sicher: Es war das Zusammenwirken von staatlichen Kürzungsprogrammen und Lohnsenkungen – beides Maßnahmen, die der IWF empfohlen und als Mitglied der Troika mit zu verantworten hat – , das in Griechenland die fatale wirtschaftliche Abwärtsspirale in Gang gesetzt hat, die in Abbildung 1 deutlich zu erkennen ist. [2]

Abbildung 1:

Wirtschaftsentwicklung Griechenland Deutschland seit 1999

Quelle: Flassbeck/Spiecker 2015

Ist da, Frau Lagarde, nach den Fehleinschätzungen und -prognosen der Vergangenheit, mit denen sich der IWF bis auf die Knochen blamiert hat, und nach den darauf basierenden grundfalschen Therapiemaßnahmen, die Griechenland in die ökonomische Katastrophe getrieben haben, nicht ein wenig mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung im Umgang mit dem Land geboten? Und wäre nicht etwas mehr Offenheit gegenüber anderen Sichtweisen und Lösungsvorschlägen zur Krise Griechenlands und des gesamten Euroraums dringend angeraten?


[«*] Grunert, Günther, Dr., geb. 1955, ist an den Berufsbildenden Schulen der Stadt Osnabrück am Pottgraben vor allem im Bereich Berufs- und Fachoberschule Wirtschaft tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Makroökonomie, internationale Wirtschaftsbeziehungen, Arbeitsmarkt.


Literatur

Flassbeck, H./Spiecker, F. (2015): Griechenland war auf gutem Weg? – Der Bundesfinanzminister verweigert sich der Realität und Griechenland steht am Scheideweg, flassbeck-economics, 18. Februar

IMF (2010): Greece: Staff Report on Request for Stand-By Arrangement, IMF Country Report No. 10/110, May

IMF (2012): World Economic Outlook – Coping with High Debt and Sluggish Growth, Washington

Mitchell, B. (2015): Germany has a convenient but flawed collective memory

Papadimitriou, D. B./Nikiforos, M./Zezza, G. (2013): The Greek Economic Crisis and the Experience of Austerity: A Strategic Analysis [PDF], Levy Economics Institute of Bard College, July


Fussnoten

[«1] Ein herzlicher Dank für wertvolle Anregungen zu diesem Beitrag geht erneut an Friederike Spiecker.

[«2] Im IWF wird vermutlich bis heute allenfalls über die „korrekte“ Höhe des Multiplikators nachgedacht, nicht aber darüber, ob dieses Multiplikator-Konzept an sich sinnvoll ist. Es beruht auf einer geradezu mechanistischen Vorstellung der Funktionsweise einer Marktwirtschaft. Dass diese Vorstellung und alle aus ihr abgeleiteten „Stellgrößen“ generell untauglich sein könnten, die Realität der westlichen Volkswirtschaften zu beschreiben, ist wohl nach wie vor kein Thema, das unter Volkswirten im IWF ernsthaft diskutiert wird. Dynamik in Verbindung mit Unsicherheit über die Zukunft durch ein Zahlenkorsett abbilden zu wollen, das notgedrungen aus der Vergangenheit stammt, wird wohl nie zu einigermaßen zutreffenden Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen führen, jedenfalls nicht in so bewegten und unsicheren Zeiten wie den unseren. Und entsprechend schlecht sind die aus diesem Modell entwickelten wirtschaftspolitischen Ratschläge.

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