„Dringend gesucht – ein noch selbst denkendes Bürgertum.“

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Das ist der Titel einer Rede, die ich zur 50-Jahr-Feier des Lions-Club in Pforzheim gehalten habe. (In anderem Kontext war schon die Rede davon.) Die Reaktion in Pforzheim zeigte, dass auch in bürgerlichen Kreisen, bei Unternehmern und Managern kritische Fragen zur herrschenden Lehre gestellt werden. Bei weitem nicht alle sind im Einflussbereich der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, der Bertelsmann Stiftung oder anderer Kaderschmieden. Viele durchschauen die Borniertheit der herrschenden Ideologen – wie zum Beispiel des heute in einem Beitrag von Wolfgang Lieb aufgespießten Professors Raffelhüschen. Und viele sehen inzwischen, wie sehr sie als wertschöpfende Unternehmer und Manager von den Meinungsführern in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft vor den Karren der Interessen von international tätigen Spekulanten gespannt werden.
Ich stelle meine Pforzheimer Rede zu Ihrer Verfügung. Vielleicht können Sie damit Personen in Ihrem Umfeld ansprechen. Das ist wichtig für den Aufbau einer rationaleren Gegenöffentlichkeit. Albrecht Müller.

Albrecht Müller

Festrede zur Feier 50 Jahre Lions-Club Pforzheim [1]
am 12.5.2007 im Reuchlinhaus Pforzheim

Thema: Dringend gesucht – ein noch selbst denkendes Bürgertum.

  1. Dass Sie mich eingeladen haben, die Festrede zu Ihrem Jubiläum zu halten, ehrt mich, dass Sie sich darauf verständigt haben, das in der Einladung formulierte Thema dieses Festvortrages auszusuchen, ehrt Sie:

    „Dringend gesucht – ein noch selbst denkendes Bürgertum.“

    Das ist ein außergewöhnliches Thema. Das klingt nicht gerade nach betulicher Festrede. Ehrlich gesagt hätte ich dies auch nicht leisten können. Statt dessen würde ich mit Ihnen gerne ein paar Gedanken – sagen wir „zur Lage der Nation“ – austauschen: Unser liebenswertes Land und unsere bisher im Kern gute und lebenswerte Gesellschaftsordnung sind in Erosion geraten – korrekter Weise müsste ich sagen: der Erosion preisgegeben – und dies auch noch unnötigerweise. Wir haben mit unserer geltenden Gesellschaftsordnung 50 Jahre lang gute Erfahrungen gemacht. Sogar Josef Ackermann sieht das ähnlich, nur zieht er andere, von mir nicht nachvollziehbare Schlüsse. Bei einem Neujahrsempfang der Stadt Frankfurt meinte er:

    „Wäre es nicht an der Zeit, nach 50 erfolgreichen Jahren Bundesrepublik die Strukturen neu zu entwerfen?“

    Verstehen Sie das? In diesem Satz ist die Unvernunft der gesellschaftspolitischen Entwicklung gebündelt.
    Warum neu entwerfen, wenn man mit der Grundstruktur gute Erfahrungen gemacht hat? Wo ist da die Logik?
    Unser Land wird seit fast zwei Jahrzehnten schlecht geredet und zum schlechteren verändert. Bewährte Einrichtungen wie die gesetzliche Rente und Regelungen wie die erprobte Balance von öffentlicher und privater Tätigkeit werden zerstört. Und es besteht die Gefahr der Beschleunigung dieses Prozesses.

    Ich möchte Sie heute zum Gebrauch Ihrer bürgerlichen Freiheit ermuntern, ich möchte sie ermuntern, sich von den üblicherweise angebotenen Denkmustern zu befreien; ich möchte Sie ermuntern, hinter die Kulissen zu schauen und wieder zweifeln zu lernen. Ich will es volkstümlich sagen: Unser Land braucht dringend ein Salz in seiner Suppe – ein waches, kritisches Bürgertum.

  2. Beim Lions Club Pforzheim müsste ich mit diesem Grundgedanken eigentlich gut landen können. Ich habe mir die Ziele und Grundsätze, die Sie für Ihren Club verabschiedet haben, angesehen. Dort trifft man auf sehr gute Gedanken:

    Die „Ziele von LIONS“ sind, so heißt es:

    • „Die Grundsätze eines guten Staatswesens und guten Bürgersinns zu fördern.“ – Schon das ist sehr aktuell: Sie wollen nicht die landläufig geforderte Entstaatlichung, sondern einen optimal arbeitenden Staat. Das ist gut. Wir müssen optimieren, nicht zerstören. Weiter heißt es:
    • „Aktiv für die bürgerliche, kulturelle, soziale und allgemeine Entwicklung der Gesellschaft einzutreten“ – Demnach glauben Sie, dass Egoismus alleine zur Organisation einer Gesellschaft nicht reicht. Eine wichtige Positionsbestimmung.
    • „Ein Forum für die offene Diskussion aller Angelegenheiten von öffentlichem Interesse zu bilden“ – Das ist dringend in Zeiten grassierender Entpolitisierung.
    • „Einsatzfreudige Menschen zu bewegen, der Gemeinschaft zu dienen, ohne daraus persönlich materiellen Nutzen zu ziehen“ – Wenn das gilt, dann würde heute die Aufnahme von einer Reihe von hochmögenden Persönlichkeiten, von Managern und Politikern, Medienmachern und Wissenschaftlern in den Lions-Club Pforzheim scheitern müssen: Gerhard Schröder und Helmut Kohl, Werner Müller und Jürgen Schrempp, Wolfgang Clement und Friedrich Merz, auch Wissenschaftler wie die Professoren Raffelhüschen und Rürup z.B., die in der so genannten Rürup-Kommission jene Gesetzesänderungen vorbereitet haben, die sie heute als Berater der Finanzwirtschaft für diese und für sich nutzen.

    Dann werfe ich noch einen Blick auf

    “Die ethischen Grundsätze von Lions Club International

    • Daran zu denken, dass es zum Aufbau meiner Existenz nicht notwendig ist, diejenige eines anderen zu zerstören“ … – Das ist zwar nicht sehr marktwirtschaftlich gedacht, aber die erkennbare Differenziertheit und Humanität zeichnet die Autoren aus.
    • „Mir stets meiner Verpflichtungen als Bürger gegenüber meiner Nation, meinem Lande und meiner Gemeinde bewusst zu bleiben und ihnen in Wort, Haltung und Tat meine unerschütterliche Treue zu halten. Ihnen meine Zeit, meine Leistungsfähigkeit und meine Möglichkeiten großzügig zur Verfügung zu stellen.“
      Auch das ist hervorragend. Wenn ich so etwas sage, dann werde ich als Traditionalist gebrandmarkt, und ich denke dass unsere Führungseliten von einem Text wie dem Ihren Ähnliches halten. Die Lions würden als so genannte Gutmenschen etikettiert und damit diffamiert. Heute steht nicht die Pflichterfüllung gegenüber der Nation, dem Lande und der Gemeinde auf dem Plan. Jetzt erzielt besondere Renditen, wer von dort nimmt!. Nicht geben, nehmen ist modern. – Sie können zum Beispiel viele Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen gar nicht mehr verstehen, wenn Sie nicht fragen: Wer verdient daran?
      Die nächste massive Verletzung Ihres hier zitierten Grundsatzes geschieht demnächst: mit dem Börsengang der Deutschen Bahn. Das wird – geht man nach dem vorliegenden Gesetzentwurf – eine gigantische Umverteilung von der Nation weg und hin zu einigen großen Interessen, auch ausländischen Interessen. Umverteilung ist noch ein harmloser Begriff. Tatsächlich findet eine Art von Fledderei statt. Was über Jahrzehnte aufgebaut und vom Steuerzahler großenteils bezahlt worden ist, wird jetzt in Umkehrung Ihrer Forderung „großzügig zur Verfügung gestellt“ – nicht der Gemeinschaft, sondern von der Gemeinschaft für einzelne – für Hedgefonds, Pensionsfonds, etc..
    • Weiter zitiere ich:

    • „Meinen Mitmenschen zu helfen, indem ich den Unglücklichen mit Trost, den Schwachen mit Tatkraft, den Bedürftigen mit meiner Habe beistehe.
    • Behutsam zu sein mit meiner Kritik und freigebig mit meinem Lob, aufzubauen und nicht zu zerstören.“ – Aufbauen statt zu zerstören – so hätte die Unterzeile meines Vortragsthemas lauten können. Ein Votum gegen Zerstörung! Wo gibt es das sonst noch hierzulande? Sie müssen das laut sagen. Das täte uns gut. Denn die Zerstörung greift um sich.

    Ihre Ziele und ethischen Grundsätze vorzulesen, zu kommentieren und fortzuspinnen, hätte schon allein eine Festrede füllen können, so gelungen und wegweisend sind sie. Dass sie auch relevant sind für die Praxis, ist mein mit dem Jubiläum verbundener Glückwunsch.

  3. Auf eine mehrmals wiederkehrende inhaltliche Aussage Ihrer Grundsätze und Ziele möchte ich zurückkommen: die Einsicht, dass ein Volk einen Zusammenhalt und ein Stück Solidarität zwischen den Menschen braucht, auch zwischen oben und unten.

    Was sich da verändert, möchte ich mit einer kurzen Geschichte illustrieren: Ich war einmal Ghostwriter von Prof. Karl Schiller, dem damaligen Bundeswirtschaftsminister in der ersten Großen Koalition. In der Regel begleitete ich den Minister zu seinen Redeterminen. So auch im Frühjahr 1969 zur Eröffnung einer Messe in Düsseldorf. Ebenfalls angemeldet war der Bundeskanzler, damals Kurt Georg Kiesinger. Wir fuhren an der Messehalle vor, Karl Schiller wurde von einem Empfangskomitee empfangen. Er ging erhobenen Professoren-Hauptes, mit leichten Verneigungen links und rechts vorbei an den Portiers und Sicherheitsleuten in die Empfangshalle und mit seinen Begleitern über eine Rolltreppe in den Veranstaltungssaal. Ich blieb wie häufig zum Beobachten beiseite stehen. Dann kam Kanzler Kiesinger. Er wurde ebenfalls von einem Empfangskomitee empfangen, begrüßte den ersten Portier mit Handschlag, und dann den zweiten, und an der Rolltreppe noch einen.

    Ich erzähle das nicht, um den Sozialdemokraten Schiller bei Ihnen anzuschwärzen. Und den Christdemokraten Kiesinger zu loben. Mir kommt es auf die Selbstverständlichkeit an, mit der ein Bundeskanzler damals die Pförtner eines Veranstalters wie der Düsseldorfer Messe als Teil unserer Gesellschaft betrachtete, als Mitmenschen, die die Anerkennung einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit verdienen. Und ich bin ganz sicher, dass selbst der Konservative Kiesinger es damals nicht – wie übrigens auch Karl Schiller nicht – als ein wirtschaftspolitisches Ziel betrachtet hätte, die Löhne dieser Menschen zu drücken und sie in einen so genannten Niedriglohnsektor abzudrängen.

    Wir können davon ausgehen, dass die damaligen Pförtner bei der Messegesellschaft angestellt waren. Heute hätten es Wirtschaftsminister und Bundeskanzler vermutlich mit äußerst schlecht bezahlten Leiharbeitern zu tun, die sich häufig schon außerhalb unserer Gesellschaft gestellt sehen. Und die Beiden könnten sich heute bei der Begegnung am Halleneingang daran erinnern, dass ihre und ihre Vorgängerregierung daran mitgearbeitet haben, die Einkommenslage und die soziale Sicherheit dieser Menschen und vieler ähnlicher Gruppen nachhaltig verschlechtert zu haben. Natürlich um hehrer Ziele willen – wegen unserer Wettbewerbsfähigkeit, wegen des Bestehens in der globalisierten Welt, und was man sonst noch alles anzuführen weiß.

    Aber diese Veränderungen sind kein hinreichender Grund dafür, dass große Teile der Eliten heute zu aller erst ihren eigenen Vorteil sehen und irgend eine soziale Verantwortung nicht akzeptieren. Letzthin gab es in der Süddeutschen Zeitung eine Reportage mit Äußerungen der besonders reichen Bewohner des Westufers des Starnberger Sees. Es konnte einem kalt den Rücken runterlaufen.
    Dass eine Gesellschaft zusammengehört, dass es Gut- und Schlechtverdiener gibt, dass es aber abwegig ist, den Schlechter-gestellten eine Verschlechterung ihrer Lage zu wünschen, ist so verbreitet nicht mehr. Da hat sich etwas geändert.

    Es tut auf Dauer nicht gut, wenn die Eliten vor allem im eigenen Interesse handeln. Dann zerbricht der Zusammenhalt. Diese Einsicht spricht auch aus den zitierten Zielen und Grundsätzen Ihres Clubs.
    Diese Feststellung ist aktuell und ein Politikum: Denn mit dieser Grundhaltung ist der Haupt-Glaubenssatz der heute herrschenden Ideologie nicht vereinbar. „Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Das steht im Widerstreit zur Einsicht, dass ohne solidarische Elemente auch moderne Gesellschaften nicht gut und human funktionieren. Der neoliberale Glaubenssatz „Jeder ist seines Glückes Schmied“ reicht als Grundphilosophie einer modernen Gesellschaft, jedenfalls unserer europäischen Gesellschaftsordnung, nicht aus.
    Gesucht wird ein Bürgertum, das diese Erkenntnis wieder hervorholt, statt die heute gängigen Glaubenssätze nachzusprechen.

  4. Sie könnten nun einwenden, es sei doch selbstverständlich, dass unsere Führungselite dazu da sei, auch den weniger mit Geld und Fähigkeiten Ausgestatteten Gutes zu tun und deshalb sei mein Gedanke so aktuell ja nicht. Da muss ich widersprechen. Es gehört inzwischen zum guten Ton unter unseren Eliten, damit zu prahlen, bereit und fähig zu sein, dem Volk „reinzuschneiden“, weh zu tun und zu verunsichern. Ich habe die wiederholten Empfehlungen an Bundeskanzler Schröder noch im Ohr, endlich eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede zu halten. Es wurde und wird geradezu zum Befähigungsnachweis von Eliten in Politik und Wirtschaft hochstilisiert, den Menschen auf den unteren Sprossen der Leiter Geld und Sicherheit zu nehmen. Einige Professoren wie Professor Sinn aus München haben sich darauf spezialisiert, täglich vorzurechnen, dass die Löhne noch weiter sinken müssten, obwohl sie schon seit 1993 real nicht gestiegen sondern gesunken sind. Und in den oberen Kreisen, auch in solchen, die wie Bundesbankdirektoren zum Beispiel mit üppigen Beamtenpensionen ausgestattet sind, wird beklagt, die anderen genössen eine zu große soziale Sicherheit. Einem selbst soll es gut gehen, den anderen aber soll es schlechter gehen, damit unsere Volkswirtschaft wettbewerbsfähiger wird und reussieren kann. Ein seltsames Gehabe.

    Gesucht wird ein Bürgertum, das aufgrund eigener Erfahrungen denkt, und weiterdenkt und das Ende der sich abzeichnenden Entwicklung bedenkt.

  5. Mit meinen Mitarbeitern in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes habe ich 1975 einen Begriff entwickelt, der 1976 von Helmut Schmidt in die öffentliche Debatte eingeführt wurde: „Modell Deutschland“. Das sollte signalisieren: hohe Leistungsfähigkeit und Liberalität im innern, gute Gewinne und gute Löhne, starkes soziales Netz und innerer Friede, Dialog mit anderen Völkern. –

    Das Begriffspaar war ein Signal dafür, das eigene Land und die eigenen Einrichtungen gut zu finden.

    Heute ziehen unsere Eliten über unser Land und seine Einrichtungen und Regeln her. Es ist in den oberen Kreisen üblich geworden, hierzulande alles schlecht zu finden, von der Sozialversicherung bis zum Ladenschluss, von der Arbeitslosenversicherung bis zum festen unbefristeten Arbeitsvertrag, vom Schulsystem bis zu den Universitäten, von der starken Verantwortung der Kommunen für die Daseinsvorsorge bis zu unserem vergleichsweise immer noch sehr guten Schienenverkehrssystem. Alles ist schlecht, vor allem der Staat. Gerade unser Führungspersonal, von Henkel bis Herzog, von Berger bis Clement, zieht über unser Land her, oft auch so, als hätten sie mit diesen vermeintlichen Zuständen nichts zu tun. „Deutschland ist ein Sanierungsfall“, meinte unsere Bundeskanzlerin vor einem knappen Jahr vor der Hauptversammlung des BDI.

    Wer ein Land mies macht, zerstört das Vertrauen der Menschen in dieses Land und seine Einrichtungen. Auf diesem Weg hat man es hierzulande schon weit gebracht: die Mehrheit der Menschen fühlt sich sehr unsicher, sie spüren ihre Ohnmacht und daraus folgt Wut, und sie flüchten in die politische Enthaltung – mit dem Ergebnis einer Wahlbeteiligung von unter 40%.

    Gesucht ist ein Bürgertum, dass diese Stimmungsmache gegen unsre gesellschaftlichen Einrichtungen nicht mehr weiter mitmacht. Gesucht ist ein Bürgertum, das seine eigenen Erfahrungen zurate zieht und daran seine Analyse und eine möglichen Therapie ausrichtet.
    Haben Sie mit Mitarbeitern, die feste Arbeitsverträge haben, vor allem schlechte Erfahrungen gemacht? Ist der Eindruck falsch, dass soziale Sicherung auch der Nicht-Vermögenden eine wichtige Grundlage ihrer Leistungsfähigkeit und Kreativität ist? Helmut Schmidt hat gelegentlich gesagt: die soziale Sicherheit sei das Vermögen der kleinen Leute. Macht es wirklich Sinn, ihnen dieses kleine Vermögen zu nehmen, wie wir das mit Hartz IV in Bezug auf die Arbeitslosenversicherung und mit einer Fülle von Entscheidungen, die die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente beschneiden, getan haben? Ist Ihre Erfahrung mit dem Staat so schlecht, wie das üblicherweise erzählt wird? Auch ich sehe die Schattenseiten der Bürokratie, aber sind diese so viel dunkler als beispielsweise bei Siemens oder bei Daimler? Ich habe es offenbar mit einem anderen Staat zu tun, mit einem sehr unbürokratischen Einwohnermeldeamt, mit einem Landkreis, der sich um die Unternehmen kümmert, und ich genieße in der Südpfalz wie auch Sie in Pforzheim ein von einem staatlichen Verkehrsunternehmen betriebenes, leistungsfähiges Nahverkehrssystem.

  6. Eurobarometer
    Die Stimmungsmache läuft diesen Erfahrungen zuwider. Und die Stimmungsmache ist wirksam. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland ist verunsichert und sauer auf diesen Staat. Das wird jetzt auch durch das Ergebnis einer europäischen Umfrage belegt, des so genannten Eurobarometer vom November und Dezember letzten Jahres:
    In keinem Land Europas ist danach das Vertrauen der Menschen in die Zukunft der nächsten Generation, in die Renten und Sozialsysteme so ruiniert wie in Deutschland. Nirgendwo in Europa hat sich die Angst vor Langzeitarbeitslosigkeit so verfestigt. Überdurchschnittlich viele erwarten vom weiteren Leben eine Verschlechterung ihrer Verhältnisse. Jahrelanges Wehklagen über das angebliche Absteigerland ohne Chancen im internationalen Wettbewerb haben Ängste und Pessimismus verstärkt. Übrigens total contra zu den gerade wieder bestätigten Erfolgen auf dem Weltmarkt.
    Während in Dänemark zwei Drittel das gut ausgebaute Sozialsystem für nicht zu teuer halten, glauben in Deutschland immer mehr Menschen, dass man sich das Sozialsystem nicht mehr leisten könne.
  7. Mit der Realität hat das wenig zu tun. Es ist das Ergebnis einer Stimmungsmache gegen das Modell Deutschland, gegen das System. Warum redet man von Blockade, von Reformstau und von Sanierungsfall? Weil man die Strukturen verändern will.

    Aus meiner Sicht ist das eine dramatische Situation. Wir stehen vor der Gefahr, das Zerstörungswerk fortzusetzen.
    Und dies nicht, weil äußere Umstände wie die oft genannte Globalisierung oder der demographische Wandel uns dazu zwängen.
    Und auch nicht weil die Strukturen dieses Modell grundsätzlich falsch seien.
    Wir zerstören, weil eine Ideologie und große Interessen meinen, die Zerstörung sei notwendig, das sei gut, und weil sich unsere Eliten diese Linie haben einreden lassen, statt sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen. Nebenbei: Wie unsere Führungseliten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft über unser eigenes Land im Ausland geredet haben, ist einmalig.

  8. Ich setze dagegen: nicht die Umstände sind schlecht. Diese sind schwierig aber zu bewältigen. Viel schlechter ist unser Führungspersonal. „Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet“, lautet deshalb der Untertitel meines Buches „Machtwahn“. Ich erläuterte dort, dass dieses Mittelmaß vor allem davon geprägt ist, dass auch viele unser Spitzenkräfte nicht mehr ausreichend und differenziert zu denken vermögen, sich an Glaubenssätze anlehnen, Analysen und Rezepte übernehmen, wo eigene Analyse und eigene Therapievorstellungen gebraucht würden, sich treiben lassen vom gängigen Denken, von den Vorurteilen, den Mythen und Legenden, und auch den Lügen

    Wie entscheidend die Stimmungsmache ist, können Sie beispielhaft daran erkennen, dass wir bei einem internationalen Ranking, von dem SpiegelOnline vorgestern berichtet hat, innerhalb eines Jahres von Platz 25 auf Platz 16 gesprungen sind – ohne dass sich in der Zwischenzeit an den Strukturen Grundlegendes geändert haben könnte. Das Ranking ist vor allem ein Ergebnis von Stimmungsmache und nicht ein Spiegelbild der Realität. Und das wird gedruckt, gesendet und geglaubt.

  9. Wie kommen wir wieder zu besseren gesellschaftlichen und politischen Entscheidungen?

    Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Qualität der politischen Entscheidungen und der Qualität der öffentlichen Meinungsbildung. Eine unaufgeklärte, von Vorurteilen geprägte öffentliche Meinungsbildung führt zu vorurteilsbeladenen und irrationalen Entscheidungen.

    Zum Beleg nenne ich vier aktuelle Beispiele:

    Erstes Beispiel: Wenn immer und immer wieder behauptet wird, „Keynes sei out“ und Konjunkturprogramme seien Strohfeuer, dann glauben am Ende nahezu alle diese Legende und dies macht uns unfähig zu einer pragmatischen, alle möglichen Instrumente nutzenden Konjunkturpolitik, anders ausgedrückt: Makropolitik. Diese Dauerberieselung hat uns davon abgehalten, parallel zur Wettbewerbsfähigkeit im Export die Binnennachfrage zu stärken. Mit Recht vermerkt der amerikanische Nobelpreisträger Robert Solow, dass man die durchaus nicht einfache Makropolitik jedenfalls besser machen könne als in Deutschland.

    Zweites Beispiel: Wenn immer wieder und immer wieder wahrheitswidrig erzählt wird, Akademikerinnen seien zu 40 oder gar 43% kinderlos, dann wird damit eine politische Entscheidung vorbereitet und dann auch praktisch fällig, dann wird, wie geschehen, den gut verdienenden Eltern das Kind mit 1800 € pro Monat vergütet, den Niedrigverdienern mit 300 €.

    Drittes Beispiel: Wenn auf allen Kanälen erzählt wird, ein vom Staat gezahltes bedingungsloses Grundeinkommen oder ein Bürgergeld, wie andere sagen, von 800, 1200 oder gar 1400 € sei die Lösung unseres Problems und finanzierbar, dann wächst der Glaube daran – auch wenn weder die Finanzierbarkeit geklärt ist noch die Frage, wie geregelt wird, wer dann noch arbeiten soll.

    Viertes Beispiel: Wenn immer wieder gesagt und gesagt und gesagt wird, unsere staatlichen Hochschulen seien überholt und nicht leistungsfähig, dann subventionieren wir private Universitäten wie in Bruchsal, Bremen oder in Stuttgart – auch weil wir bei dem ganzen Gerede vergessen, welche großen Leistungen zum Beispiel die staatliche Hochschule Pforzheim oder die Fachhochschule in Karlsruhe erbringen.
    Unter dem Trommelfeuer von gleichgerichteten Äußerungen sind wir nicht mehr zu einem differenzierten Vergleich zum Beispiel der Bildungssysteme der USA und unseres Landes fähig. Wenn uns immer wieder mit glänzenden Augen verkündet wird, wie überragend die Eliteuniversitäten in den USA sind, dann vergessen wir zu fragen, wie die Gesamtstruktur und das Gesamtergebnis der Hochschulen dort und hier aussehen. Und dann folgt auf der Basis dieser geliehenen Gedanken die politische Entscheidung: dann wird in Eliteuniversitäten investiert, dann wird der Bachelor und der Master eingeführt, obwohl viele Fachleute davor warnen. Die breit gemachte öffentliche Meinung ist erdrückend. Und führt dann zur höchst fragwürdigen politischen Entscheidung. Manchmal wissen die Entscheider am Ende nicht mehr, warum das geschieht. Sie sind Vollzugsorgane einer gemachten öffentlichen Meinung. Hamster im Laufrad.

    Sie sollten mich nicht falsch verstehen. Ich wende mich nicht gegen Neues, auch nicht gegen neue Strukturen, ich wende mich dagegen, dass die Analysen gedankenlos nachgesagt werden, und auch dagegen, dass man Therapien, konkret Reformen, propagiert und propagiert und propagiert, ohne wirklich zu analysieren und nachzudenken. Nachsagen ersetzt das nachdenken; das genügt nicht.

  10. Ich hatte dem Sinne nach gesagt, in einer einigermaßen demokratisch organisierten Gesellschaft würden die politischen Entscheidungen wesentlich von der öffentlichen Meinung bestimmt, und damit sei die Qualität der politischen Entscheidungsfindung und die Qualität der öffentlichen Meinungsbildung eng verklammert.
    Das wissen nun auch jene, die auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen wollen – aus welchen Gründen auch immer, aus ideologischen oder aus pekuniären. Die öffentliche Meinungsbildung ist das Einfallstor für ihren politischen Einfluss.

    Seit gut 40 Jahren beobachte ich die Meinungsbildungsprozesse in Deutschland. In dieser Zeit hat sich eine deutliche Verschiebung gezeigt, die ich in einer Studie mit dem Titel „Von der Parteien- zur Mediendemokratie“ beschrieben habe. Die Substanz meiner Analyse: das Volk und auch die Mitglieder von Parteien haben bei der Meinungsbildung nicht mehr viel zu sagen. Im Kern wird sie bestimmt von einer Koalition aus Führungseliten in Politik und Wirtschaft und Medien. Und sie wird dabei deutlich geprägt von großen Interessen. Sie konnten das bei der Erhöhung der Mehrwertsteuer studieren: der auf den inneren Markt orientierte und auf die Stärkung der Binnennachfrage angewiesene Mittelstand hatte in der öffentlichen Meinungsbildung wenig zu sagen. Wer hingegen über große finanzielle Mittel und über publizistische Macht verfügt, der kann die öffentliche Meinung und damit auch die politischen Entscheidungen spürbar bestimmen. Anders als der auf den Binnenmarkt orientierte Mittelstand profitiert die Exportwirtschaft von einer Mehrwertsteuererhöhung. Sie bekommt sie erstattet und wird somit tendenziell entlastet, wenn die Konsumenten und der auf den heimischen Markt orientierte Mittelstand mehr bezahlen müssen.

    Eine weitere Beobachtung ist im Kontext „öffentliche Meinungsbildung“ wichtig: wenn man über große finanzielle und publizistische Möglichkeiten verfügt, dann kann man heute aus einem X ein U machen, und – volkstümlich ausgedrückt – aus Mist Marmelade. Die Meinungsbildung zu einer Sache kann sich über weite Strecken von der Realität und von den Fakten lösen.

  11. Ich kann das auch weniger vornehm ausdrücken: Man kann, wenn man über die nötigen Mittel verfügt, die Menschen über weite Strecken manipulieren. Wenn man immer wieder die gleiche Botschaft platziert und diese von verschiedenen Absendern ausgesandt wird, dann bleibt dem normalen Zeitgenossen gar nichts anderes übrig, als zu glauben, was permanent gesagt wird. Was George Orwell in seinem Buch „1984“ schon Ende der vierziger Jahre veröffentlichte, ist zumindest in Ansätzen bittere Realität. Ich zitiere aus 1984:

    „Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit.“

    Wenn alle Aufzeichnungen gleich lauten, und wenn sie aus verschiedenen Ecken kommen, und wenn sie immer wiederholt werden, dann werden selbst Lügen zur Wahrheit, und gehen in die Geschichte ein: die Globalisierung ist ein völlig neues Phänomen, wir leiden unter einer Blockade, wir brauchen die permanente Reform, wir leben in einer Wissensgesellschaft, wir leben über unsere Verhältnisse, die Produktivität ist zu hoch, wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig, wir sterben aus. Und so weiter. Das sind einige der gängigen Parolen.

    Sie werden geglaubt, obwohl ganz vieles daran nicht stimmt. Und weil es nicht stimmt, werden dann so viele falschen Entscheidungen getroffen.

    Gesucht ist ein kritisches Bürgertum, das diese Parolen nicht mehr glaubt, jedenfalls zweifelt und die eigenen Erfahrungen zur Prüfung einbringt.

  12. Auch widersprüchliche Behauptungen werden offenbar nicht zurückgewiesen und bei entsprechender Penetration eher geglaubt. Vor 10 Monaten waren wir ein Sanierungsfall. Und heute haben wir einen Boom, und den auch wegen der Reformen. Wegen welcher und so schnell?
    Haben diese zwischen der Erklärung zum Sanierungsfall im Juli 2006 und der Wahrnehmung eines leichten Wirtschaftsaufschwungs im Mai 2007 stattgefunden? Obwohl wir das eigentlich nicht glauben können, glauben es viele.
    Die Medien nehmen solche Widersprüche schon gar nicht mehr wahr. Viele von ihnen befinden sich im Tross des gängigen Denkens.
    Immer wieder erleben wir, wie fast schon spaßhaft die Führungseliten mit der Meinung der Menschen umspringen.
    Aber die Frage sei erlaubt: Wo bleibt das mitdenkende kritische Bürgertum? Wo ist das Salz in der Suppe?
  13. Opfer der Manipulation sind nicht nur die einfachen Leute. Opfer sind zusehends auch gut Ausgebildete, Menschen mit viel Lebenserfahrung, gestandene Leute, Selbstständige, Freiberufler, Studierte, Intellektuelle, Journalisten sowieso.

    Opfer von Manipulationen sind nicht nur die Leser der Bild-Zeitung. Heute gilt das in gleicher Weise für die Leser der FAZ und der Zeit und vor allem des Spiegel. Der Spiegel heizt zum Beispiel die Kampagne zum sterbenden Volk an. „Der letzte Deutsche“ knallte von einem Spiegel-Titel. Da ging es im Heft um die Vorhersage für 2050 mit 75 Millionen. 75 Millionen „letzte“ Deutsche. Eine andere Geschichte war überschrieben mit: „Raum ohne Volk“. Das für 2050 prognostizierte Volk war dabei größer als 1939. Damals hieß die Parole „Volk ohne Raum“.
    Manipulation kennt keine zeitlichen Grenzen.

    Als Kontrollinstanz fallen nicht nur wichtige Medien weg, es fällt auch das kritische Bürgertum weitgehend aus. Die besser gebildeten Mitbürgerinnen und Mitbürger lassen sich vermutlich in ihrem eigenen Beruf und in ihren Familien nicht viel vormachen. Im öffentlichen Bereich jedoch bedienen sie sich – wahrscheinlich auch aus Gründen der Arbeitsökonomie – geliehener Gedanken. Sie greifen auf, was alle sagen, oder was ihnen eine einflussreiche Lobby zu denken und zu glauben empfiehlt.

  14. Ich möchte Sie zum Abschluss auf drei Entwicklungen aufmerksam machen, an denen sichtbar wird, dass es im Interesse des Ganzen und aber auch im Interesse des Bürgertums selbst ist, wenn es sich mehr als bisher von den Vorgaben der öffentlichen Meinung befreit und kritisch hinterfragt.
    • Generationenkonflikt
      Unser Volk wird seit Jahren wegen des demographischen Wandels verrückt gemacht. In typischer Nutzung der Orwellschen Erkenntnisse wird uns aus den verschiedensten Ecken erzählt, das sei eine der ganz großen Herausforderungen. Es wird uns Angst gemacht, wir würden zu Wenige, wir hätten die niedrigste Geburtenrate auf der Welt und die niedrigste seit 1945, wir vergreisten, wir würden immer älter und deshalb trage der Generationenvertrag nicht mehr – jetzt helfe nur noch Privatvorsorge.
      Das meiste daran stimmt nicht: In 10 anderen Ländern der Europäischen Union ist die Geburtenrate noch niedriger oder gleich. Am niedrigsten war sie 1985, nicht heute. Wir sind ein dicht besiedeltes Land, mit 231 Menschen pro qkm weit mehr als doppelt so dicht wie Frankreich mit seinen 111 p. qkm. Unser eigentliches Problem auch im Blick auf die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme ist nicht der demographische Wandel sondern die hohe Arbeitslosigkeit und der Niedergang der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse. Heute gibt es in Deutschland fast 53 Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter bis 65 Jahre und es gibt 15 Millionen über 65 Jahren. Das ist eine glänzende Relation von Arbeitsfähigen zu Rentnern. Aber wir haben eben nur rund 26,5 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse und diese Zahl hat seit 1990 von damals 30 Millionen auf die heutigen 26,5 Millionen abgenommen.

      Die Gefahren der demographischen Veränderung werden systematisch überzeichnet. Bei einer einigermaßen vernünftigen Entwicklung der Arbeitsproduktivität kann auch auf Jahrzehnte hinaus jede Gruppe, die Alten, die Kinder und Jugendlichen und die arbeitsfähige Generation genauso gut und besser leben als heute.

      Bei unserem Volk ist aber aufgrund der Stimmungsmache eine ganz andere Botschaft angekommen. Diese lautet: Die Alten leben auf Kosten der Jungen.
      Hier wird ein Generationenkonflikt angezettelt, der gefährlich ist und den ich auch für ungerecht halte – wer hat denn die Trümmer unserer Städte aufgeräumt und für die gute Ausbildung der heute Arbeitenden gesorgt? Die Stimmungsmache gegen die Alten spaltet die Generationen, er weckt Missmut und Neid, und er kann am Ende dazu führen, dass das Vertrauen in unsere solidarische Rentenversorgung, die gesetzliche Rente, völlig schwindet. Wenn das eintritt, wenn die Jungen so aufgehetzt sind, dass sie nicht mehr bereit sind, die Anwartschaften der Alten zu bedienen, weder mit Beiträgen noch mit Steuern, dann wird die Altersarmut weiter wachsen, und die Jungen werden übrigens auch nicht besser dran sein.

      Gesucht ist dringend ein Bürgertum, das noch verstanden hat, wie unsinnig und unmenschlich das Schüren eines Konfliktes zwischen den Generationen ist.

      Ich komme zu einem zweiten Beispiel einer sehr kritischen Entwicklung:

    • Die Dominanz der Finanzwirtschaft. Oder: Kapitaltransferunternehmer versus Wertschöpfungsunternehmer.

      Die Deutsche Bank meldete in den letzten Tagen einen gewaltigen Gewinnsprung und eine Kapitalrendite von über 40%. Von einem Fondsverwalter in den USA hörten wir, er habe sich ein Jahresgehalt von über einer Milliarde ausgeschüttet. Die Investmentbanker Londons kassieren hunderte von Millionen. Das sind Dimensionen nicht nur jenseits jener, die ein Arbeitnehmer begreifen kann; die Dimensionen überschreiten häufig auch das Vorstellungsvermögen von hart arbeitenden Unternehmern und Freiberuflern. Ich nenne diese die „Wertschöpfungs-Unternehmer“ – wozu ich auch die normale Bank oder Sparkasse zähle, die die notwendige Kredittransformation zwischen Sparern und den Krediten für Unternehmen und Private betreibt.

      Bei diesen Unternehmen werden manchmal auch ganz gute Renditen erzielt. Die hohen Gewinne jedoch werden heute beim Transfer von Vermögenswerten erreicht, beim Verkauf und Kauf von Unternehmen, bei Fusionen und Übernahmen, beim in weitem Maße spekulativen Geschäft auf den Kapitalmärkten. Sie setzen inzwischen die Maßstäbe, sie bestimmen im übrigen auch weitgehend schon die Wirtschaftsteile unserer Zeitungen. Letzthin habe ich in einer einzigen Ausgabe 12 größere Artikel und Meldungen über Unternehmensverkäufe, Übernahmen, Börsengänge und dergleichen gelesen, das waren mehr Meldungen als über das Geschehen in den Betrieben, über besondere Innovationen oder organisatorische Veränderungen im Wertschöpfungsbereich.
      Aus meiner Sicht haben Kapitalmärkte eine dienende Funktion in einer Volkswirtschaft wie zum Beispiel auch das Transportgewerbe. In meinungsprägenden Wirtschaftskreisen jedoch und bei Politikern wird dieses Segment unserer Ökonomie inzwischen zu einem göttlichem Wundertäter hochgespielt. Weil in Londons Investmentbankerstuben besonders viel verdient wird, meinen deutsche Politiker offenbar, dieser Sektor sei volkswirtschaftlich betrachtet besonders wichtig. Hier wird eine Stimmung für einen Wirtschaftszweig gemacht, der seiner Bedeutung im Vergleich zu den normalen wertschöpfenden Unternehmen unserer Volkswirtschaft nicht entspricht.

      Und viele Bürgerinnen und Bürger schauen auch schon mit Bewunderung auf die Kapitalmärkte und die dortigen Akteure. Sie sind dabei in guter Gesellschaft. Wir hatten ja einmal einen Bundeskanzler, Gerhard Schröder, der wirklich meinte, wenn die Aktienkurse an der Börse steigen, dann würden Werte geschaffen, und wenn sie sinken, dann würden Werte vernichtet.

      Die seltsam verquere Sicht unserer Politiker hatte und hat politische Konsequenzen: die scheinbar Gewinn bringenden Vermögenstransfers werden in vielfältiger Weise begünstigt. So sind die Veräußerungsgewinne bei Unternehmenstransfers seit 1.1.2002 steuerfrei. Kanzler Schröder hat das damit begründet, es sei vorteilhaft, die so genannte Deutschland AG aufzulösen. Damit konnte – wie Capital am 17.11.2006 berichtete – zum Beispiel die Allianz AG im Jahr 2003 ihren 40-prozentigen Beiersdorf-Anteil für 4,4 Milliarden Euro an Tchibo und die Stadt Hamburg verkaufen, ohne Steuern auf den realisierten Gewinn zahlen zu müssen. Und Sie, meine Damen und Herren, zahlen brav und bieder weiter Steuern auf Gewinne, Einkommen und Gehälter.

      Was an der Auflösung der Deutschland AG förderungswürdig sein soll, habe ich – anders als die Mehrheit der veröffentlichten Meinung – nie begriffen. Zumindest ein anderer auch nicht. Der Vorstandsvorsitzende von Porsche, Wendelin Wiedeking hat sich bei der Einführung der Steuerbefreiung auch darüber gewundert, was unsere Volkswirtschaft gewinnen soll, wenn ein Investor ein Unternehmen an einen anderen Investor verkauft. Sind die Anteile an Beiersdorf oder die Anteile an Grohe in den neuen Händen produktiver, volkswirtschaftlich produktiver? Das kann so sein. Das muss nicht so sein. Es kann das Gegenteil eintreten.

      Die frühere rot-grüne Bundesregierung hat mit Unterstützung der damaligen Opposition und heutigen Kanzlerpartei diesen Ausverkauf politisch gefördert und steuerlich begünstigt, weil sie und die heutige Kanzlerpartei ganz wesentlich in ihrer Meinungsbildung beeinflusst sind von jenem Teil der Finanzwirtschaft, die an diesen Geschäften verdient.

      Ich fürchte, dass hier Strukturen zerstört werden, ohne überhaupt nur erahnt zu haben, ob die neuen Strukturen besser sind. Das ist eine ähnliche Konstellation wie bei der Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente.
      Auflösung der Deutschland AG klingt ja auch ganz gut, weil da Seilschaften von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern gekappt werden könnten. Man muss sich aber mal anschauen, wo entscheidende Personen inzwischen gelandet sind oder schon immer gelandet waren. Es ist ja nicht so, dass diese Art der Auflösung fester Strukturen zwangsläufig zu freieren Strukturen und mehr Wettbewerb führen würden. Das durchaus kritisierenswerte Geflecht von Vorständen und Aufsichtsräten der früheren Deutschland AG ist inzwischen aber abgelöst durch eine nicht mehr kontrollierbare Seilschaft – übrigens bestehend teilweise aus den gleichen Personen. Die Seilschaften sind etwas aufgemischt, das ist häufig alles.

      Inzwischen arbeiten die neuen Netzwerke, die das Kapitaleigentum in großen Unternehmen kontrollieren, mit erstaunlicher Affinität und Verankerung mit ausländischen Investmentfonds, Hedgefonds und Privateequity. Sie arbeiten für ausländische Investoren und Pseudoinvestoren. Typisch dafür: Ron Sommer für Blackstone, Klaus Luft, früher Nixdorf, für Goldman Sachs, desgleichen der frühere Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank Otmar Issing, Jürgen Schrempp und Kanzleramtsminister a.D. Hans Martin Bury für Lehmann Brothers, der ehemalige Daimler Vorstand Eckhard Cordes beim schwedischen Finanzinvestor EQT, Wolfgang Clement für die Citigroup, Friedrich Merz als Anwalt für den Hedge-Fonds TCI, Karl Otto Pöhl und so weiter.

      Übrigens muss man offenbar keinen Leistungsnachweis erbringen, um zu dieser neuen Seilschaft zu gehören. Ich denke da an Jürgen Schrempp oder an Ron Sommer.

      Sie alle machen mit beim Versuch, die Übernahme deutscher Unternehmen einzufädeln. Das ist das aktuelle und zukunftsweisende Geschäft dieser ToppEliten.
      Und wo bleibt die kritische Begleitung durch den davon betroffenen Mittelstand? Auch die Medien und die Intellektuellen versagen hier nahezu vollständig.

      Wo sind die Zwischenrufe des wertschöpfenden Mittelstands, wenn wieder einmal traumhafte Kapital- und Umsatzrenditen verkündet werden und quasi zum Maßstab für die gesamte Ökonomie erhoben werden. Ich vermisse den Zwischenruf von erfahrenen Unternehmern: „Mit Wertschöpfung können diese traumhaften Renditen nicht erwirtschaftet werden!“

      Es ist an der Zeit, sich über diese Entwicklung eigene Gedanken zu machen. Andernfalls verschieben sich die Maßstäbe in unerträglicher Weise, die Missachtung der unternehmerischen Wertschöpfung im Vergleich zur Arbeit auf dem Kapitalmärkten tut unserem Land nicht gut, zumal eine solche Entwicklung noch dazu führt, dass die besten Köpfe in diesem, wie ich finde, ziemlich unproduktiven Wirtschaftssektoren verschwinden; außerdem kommt ein Unternehmen nach dem andern unter den Hammer.

      Gesucht wird auch hier dringlich ein kritisch und selbstständig denkendes unternehmerisches Bürgertum.

    • Die Folgen der Kommerzialisierung rechtzeitig bedenken und abwenden.
      Vor kurzem traf ich den Verleger Hubert Burda, den ich aus Studienzeiten kenne, zu einem Gespräch für die FAZ. Ich warb wie heute bei Ihnen für das Modell Deutschland, also die bisherige solidarische Komponente in unserer Gesellschaftsordnung und ihre großen Vorteile für uns alle. Wir waren uns nicht überall einig, in einem aber schon: dass der früher gepflegte soziale Friede und Ausgleich in unserer Gesellschaft es immerhin erleichtert hat, dass man sich auch heute in den Straßen und Plätzen der meisten unserer Städte frei bewegen kann, ohne Opfer von Gewalt zu werden, und dass wir uns hier von anderen Ländern, vor allem von den USA wohltuend unterscheiden. Das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor von hoher Lebensqualität. Wenn man ökonomisch denken will: es ist auch ein Standortvorteil, mit dem man werben könnte, wenn man wollte.

      Gesucht ist ein kritisches Bürgertum, das diese Qualität unseres Landes und unserer Ordnung und die Gefahren für diesen Vorteil erkennt, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist.

      Zur Zeit sind leider eine Reihe von Weichen gestellt, die diese beachtliche Qualität an innerer Sicherheit und Lebensqualität gefährden könnten. Dazu gehört zum einen die hohe Gleichgültigkeit der Politik gegenüber dem Mangel an Ausbildungs- und Berufschancen unserer Jugend und zum anderen die durch Kommerzialisierung der Medien betriebene Verwahrlosung, Gewaltbereitschaft und Verdummung junger Menschen, aber nicht nur der jungen.

      Was die Kommerzialisierung unserer elektronischen Medien und die Kommerzialisierung vieler anderer Lebensbereiche anrichtet, konnte man auch schon 1982 wissen, als die Kommerzialisierung des Fernsehens entschieden und forciert wurde. Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte bis zum Ende seiner Regierungszeit im September 1982 auf diese Gefahren hingewiesen.

      Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, dass man sich auf besseres besinnt. Eine Bewegung gegen die weitere Kommerzialisierung und Verwahrlosung wird wegen der großen involvierten Interessen allerdings nur in Gang kommen, wenn sich das Bürgertum bis weit hinein ins konservative Lager dafür engagiert.

      Gesucht ist ein Bürgertum, das sich aus engem kommerziellen Denken befreit und die Breite der Folgen solcher Entwicklungen bedenkt. Es wäre ein wirklich bemerkenswerter Akt der Generationengerechtigkeit, wenn wir auch unseren Nachkommen und Nach-Nachkommen die Lebensqualität erhielten, sich frei in unserem schönen Land bewegen zu können.

      Voraussetzung dafür ist allerdings, dass wir uns selbst von der Gängelung und Fremdbestimmung durch Geliehene Gedanken befreien. Das tut dem Land gut und uns gut.
      Und überhaupt: was soll der viele Gebrauch des Wortes Freiheit, wenn wir nicht einmal in unseren Gedanken frei sind und frei sein wollen.

      Dazu jedoch wollte ich Sie an Ihrem Festtag ermuntern.


  15. [«1] Dieser Text ist eine Langfassung. Im Vortrag dann etwas gekürzt.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!