Alexis Tsipras Kampf gegen den „Grexit“ und das Dilemma der Syriza als Regierungspartei

Ein Artikel von Niels Kadritzke

Die Situation Griechenlands und der gerade acht Wochen alten Regierung Tsipras ist dramatisch. Daraus macht die Athener Regierung selbst kein Geheimnis, sonst hätte sie nicht von sich aus eine Art EU-Mini-Gipfel gefordert, der eine „politische Lösung“ der griechischen Krise vorantreiben sollte. Dieses Treffen von gestern, an dem neben Merkel, Hollande, Juncker und EU-Präsident Tusk auch EZB-Chef Draghi und der holländische Finanzminister als Präside der Ecofin (also der Eurogruppen-Finanzminister) teilnahm, hat zwar positive Signale ausgesendet, aber im Grunde nur die Abmachungen bestätigt, die schon am 20. Februar auf dem Ecofin-Treffen in Brüssel getroffen wurden. Allerdings hat Tsipras eine beschleunigte Vorlage der konkreten und mit Zahlen unterlegten Reformvorschläge aus Athen zugesagt, die von den Institutionen EU-Kommission, EZB und IWF (vormals Troika genannt) abgesegnet werden müssen; erst dann sollen den Griechen die ausstehenden Gelder aus dem (noch) laufenden bailout-Programm bewilligt werden. Ein weiterer Bericht unseres Griechenlandbeobachters Niels Kadritzke

Der Mini-Griechenland-Gipfel

Das Tsipras auf diesem Treffen bestanden hat, ist gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass Athen das Geld ausgeht. Tsipras hat in Brüssel klar gemacht, dass seine Staatskasse noch im Lauf des April leer sein wird, wenn nicht vorher ein Teil der noch ausstehenden Summe aus dem alten bailout-Programm überwiesen wird. An welch kritischem Punkt seine Regierung steht, zeigt sich auch darin, wie er den „Erfolg“ von gestern gegenüber der griechischen Öffentlichkeit interpretiert: Zum einen habe niemand von ihm neue Sparmaßnahmen gefordert, zum anderen werde Griechenland sein eigenes Reformprogramm entwerfen, statt sich dieses von außen diktieren zu lassen.

Der erste Punkt ist deshalb bemerkenswert, weil schon das Ausbleiben neuer Sparauflagen als Erfolg bewertet wird, während von einer Lockerung des laufenden Sparprogramms (in Form der versprochenen Erhöhung von Mindestlöhnen und von Renten) nicht mehr die Rede ist. Im Gegenteil: Finanzminister Varoufakis hat Anfang der Woche deutlich gemacht, dass alle im Wahlprogramm vorgesehenen Ausgaben unter einem generellen Finanzierungsvorbehalt stehen. Das heißt, dass selbst Leistungen nach schon beschlossenen Gesetzen ausgesetzt bleiben – bis zur erhofften „großen Lösung“ der Schuldenfrage, mit der frühestens im Sommer zu rechnen ist.

Der zweite Punkt ist ähnlich aufschlussreich. Wenn Tsipras jetzt unter Zeitdruck zusagt, das griechische Reformprogramm beschleunigt vorzulegen, ist dies gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, dass die bisher nach Brüssel geschickten Papiere als Beleg für verbindliche Zusagen noch nicht ausreichen. Das betrifft vor allem das Dokument, das Finanzminister Varoufakis ausgearbeitet hat. Denn das enthielt keine konkreten Zahlen, dafür aber den (viel belächelten) Plan, zur Ermittlung von Steuerbetrügern einfache griechische Bürger und sogar Touristen einzusetzen.

Die Staatskasse ist fast leer

Das entscheidende Faktum im Kräfteverhältnis zwischen Griechenland und den „Institutionen“ ist in der Tat die verzweifelte Kassenlage der Regierung Tsipras. Sie muss in diesen Tagen die letzten Euros zusammenkratzen, um bis zum Monatsende die Auszahlung der Gehälter der öffentlichen Bediensteten und der Renten zu gewährleisten. Mit dem Rest der Geldbestände mussten allein im März 2,2 Milliarden Euro für Zinszahlungen und die Umschuldung ablaufender T-Bills aufgewendet werden. Griechenland steht also kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Das bezeugt auch die alarmierende Liste der Notmaßnahmen, die das Finanzministerium ergreifen musste:

  1. Der für die Kassenbestände zuständige Vieze-Finanzminister Mardas hat alle Ministerien angewiesen, jenseits der Gehälter keinerlei Zahlungen mehr vorzunehmen, und auch nicht einmal mehr die Beiträge zu den Sozialkassen abzuführen (die nicht bezahlten Rechnungen für Warenlieferungen und Dienstleistungen belasten natürlich die Realwirtschaft);
  2. Die Sozialkassen sollen ihre liquiden Mittel in den Kauf von T-Bonds zu stecken; eine entsprechende Bestimmung wurde in einen Gesetzentwurf eingefügt, dessen Hauptinhalt eigentlich die Bekämpfung der Armut ist. Gegen diese vorübergehende Konfiskation von Barbeständen der (ohnehin klammen) Sozialkassen, wehren sich allerdings die Verwaltungsräte der betroffenen Kassen entschieden.
  3. Dieselbe Aufforderung erging am Mittwoch an die (ganz oder teilweise) öffentlichen Unternehmen: So sollen der Stromversorger DIE und die EYDAP, das Wasser- und Abwässer-Unternehmen für Athen und Piräus, ihre Barmittel ebenfalls in T-Bills anlegen, und zwar in Form von Rückkaufvereinbarungen (Repos), die dem Staatshaushalt Liquidität zuführen sollen.

Diese Anweisungen zum „Zwangseinkauf“ von T-Bills ist eine Reaktion darauf, dass für die zuletzt auktionierten T-Bills auf dem „freien Markt“ keine Nachfrage zu verzeichnen war. Die einzigen Käufer waren die griechischen Banken, die aber an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geraten sind, weil die EZB nicht mehr bereit ist, ihnen weiteren Spielraum in Form von ELA- Notfallkrediten einzuräumen. Wenn die EZB diese Politik nicht ändert, müssen Sozialkassen und öffentlichen Unternehmen als „Notkäufer“ für die T-Bills einspringen, deren Erlöse unbedingt gebraucht werden, weil die Steuereinnahmen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind (um mindestens 2,5 Milliarden Euro), mit steigender Tendenz.

Wie verzweifelt die Lage an der Einnahmenfront ist, lässt sich an dem Gesetz über die Eintreibung von Steuerschulden ablesen, das Anfang der Woche verabschiedet wurde. Das Finanzministerium hat dabei Abzahlungskonditionen durchgesetzt, die darauf zielen, möglichst schnelle Einnahmen zu erzielen. Wer seine ausstehende Steuerschuld bis Ende März komplett begleicht, bekommt die auferlegten Strafzahlungen vollständig erlassen. Da diese Bußgelder im Falle langjähriger Zahlungsrückstände bis zu ein Drittel der geschuldeten Gesamtsumme ausmachen, verzichtet der Fiskus also langfristig auf gewaltige Summen, um möglichst noch diesen Monat (geschätzte oder erhoffte) ein paar hundert Millionen Euro einzunehmen. Dazu einige Zahlen: Die Gesamtsumme der nicht bezahlten Steuern liegt derzeit bei 77 Mrd. Euro, davon sind 21,6 Mrd. an Rückständen seit Anfang 2013, also innerhalb der letzten beiden Jahre hinzugekommen.

Die dramatische finanzielle Lage hat Vize-Ministerpräsident Dragasakis, der für die Koordinierung der Finanz- und Wirtschaftspolitik zuständig ist, am Donnerstag rückhaltlos geschildert. Wenn keine rasche Einigung mit den Gläubigern komme, habe das Land ein „akutes Problem mit der Zahlungsfähigkeit“. Er wies darauf hin, dass Griechenland seit August 2014 keinerlei Gelder mehr aus dem bail-out-Programm bezogen hat und dennoch alle seine finanziellen Verpflichtungen (gegenüber EU, IWF und den Finanzmärkten) erfüllt hat. Deshalb forderte er insbesondere von der EZB ein größeres Entgegenkommen, indem sie den griechischen Banken den Spielraum gibt, weiterhin als Käufer von T-Bills aufzutreten. Wobei Dragasakis einräumt, dass die Banken inzwischen so knapp bei Kasse sind, dass sie praktisch keine Kredite mehr für die Realwirtschaft zur Verfügung stellen. Die Kassenbestände der Banken sind in der Tat seit Dezember kontinuierlich abgeschmolzen. In Bankenkreisen ist von einem Abfluss von bislang 26 Milliarden die Rede und mit jeder neuen Meldung über eine „Vertrauenskrise“ zwischen Athen und Brüssel und Berlin werden noch mehr Gelder abgezogen. Hinzu kommt, dass die vier großen „systemischen“ Banken auf 35 bis 40 Prozent fauler Kredite sitzen, die sie aller Voraussicht nach abschreiben müssen.

Das einzig realistische Ziel – ein ehrenhafter Kompromiss

Angesichts dieser Lage kann das Ziel der griechischen Seite nur sein, sehr schnell jenen „ehrenhafter Kompromiss“ zu erzielen, der dem Land die Atempause verschafft, die eigentlich in der Brüsseler Vereinbarung vom 20. Februar fest vereinbart war. Jetzt hat Tsipras zugesagt, bis Mitte nächster Woche einen konkreten Reformfahrplan einzureichen, auf dessen Grundlage (und auch auf der Basis von Zahlen über die angestrebten Steuereinnahmen) ein Teil der Gelder nach Athen überwiesen werden können, die eigentlich erst für den Fall einer abschließenden Bewertung durch die „Institutionen“ fließen sollten. In der griechischen Presse wird die Summe von 1,9 Mrd. Euro genannt.

Das ist zweifellos eine positive Botschaft, die den Fall eines „Grexident“, also eines nicht geplanten „Unfalls“ mit Austrittsfolge wieder etwas unwahrscheinlicher macht. Von diesem Szenario war in den letzten zehn Tagen in EU-Kreisen und in der Presse verstärkt die Rede. Vor allem aber wurde dieser „Grexident“ von „den Märkten“ wieder stärker einkalkuliert, was sich im Ansteigen des Zinssatzes für griechische 3-Jahres-Bonds ausdrückt, der gestern auf die Rekordhöhe von 26 Prozent gestiegen war. Was diese Zahl für die Kreditwürdigkeit des griechischen Staates bedeutet, zeigt der Vergleich mit den spanischen und italienischen 3-Jahres-Papieren, für die gestern 0,23 bzw. 0,32 Prozent Zinsen berechnet wurden. Diese dramatische Marktbewertung hat unmittelbare Folgen für die griechischen Finanzen, weil die Regierung ihren akuten Geldbedarf derzeit nur über den Verkauf von T-Bills (Bonds mit kurzer Laufzeit) decken kann.

Wie konnte es zu dieser Zuspitzung der Lage kommen?

Der wichtigste Grund ist natürlich die strikte Haltung der EU-Partner und vor allem der EZB, die im Fall Griechenland auch aus politischen Gründen keine Zugeständnisse machen wollen. Aus griechischer Sicht gab es in dieser Hinsicht ein böses Erwachen aus den Träumen über ein Bündnis mit einzelnen EU-Ländern, das in keiner Phase der Verhandlungen mit der Tsipras-Regierung zustande kam. Eine gewisse Enttäuschung herrscht in dieser Hinsicht bei der Syriza über Frankreich und seinen Präsidenten, in dem man anfangs einen gewichtigen potentiellen „Paten“ der neuen Athener Regierung gesehen hatte.

Mehr Unterstützung spürte man dagegen bei der EU-Kommission und vor allem bei Finanzkommissar Moscovici. Aber die engen Kontakte, die man in Brüssel suchte, wirkten nach griechischen Presseberichten ab einem bestimmten Zeitpunkt kontraproduktiv. Vor allem in Berlin, berichtete die Kathimerini, sei man über voreilige Zusagen Junckers an die griechische Seite nicht amüsiert gewesen: Man habe darin einen Versuch des Kommissions-Präsidenten gesehen, die Rolle der Kommission in einer Frage aufzuwerten, in der letztlich die Staaten die Rechnung bezahlen.

Die Äußerungen über Griechenland, die noch am meisten Mut machen, hört man aber auch jetzt wieder eher aus Brüssel als aus Paris und schon gar nicht aus Berlin. EU-Diplomaten erklärten gegenüber der griechischen Presse, bei dem Mini-Gipfel von gestern habe Konsens geherrscht, dass man einen „Grexit“ wie einen „Grexident“ auf jeden Fall verhindern müsse. Schon vor dem Treffen hatte EU-Finanzkommissar Moscovici erklärt, es sei „der überwältigenden Wille der Euro-gruppe, Griechenland in der Euro-Zone zu halten“ und hinzugefügt: „Finanzielle Unfälle können passieren. Unsere Aufgabe ist es aber nicht, diese zu organisieren, sondern sie zu verhindern.“

Noch deutlicher äußerte sich EU-Präsident Donald Tusk gegenüber dem Guardian-Korrespondenten in Brüssel: „Können Sie sich Europa ohne Griechenland vorstellen… Die Folgen für Europa wären nicht nur finanzieller Art; das Resultat wäre das dramatischste Kapitel in der Geschichte der Europäischen Union. Denn es geht ja nicht nur um Geld und geopolitische Gefahren. Es geht auch um Würde, um Gefühle. Wir müssen alles vermeiden, was die andere Seite erniedrigen könnte. Gefühle wie Würde und Erniedrigung sind in der Politik sehr wichtig, nicht nur die Zahlen.“

Man wünschte sich, dass solche Überlegungen auch bei deutschen Politikern Gehör fänden. Aber die lassen sich doch eher von „den Märkten“ leiten, die allerdings auch die griechische Seite nicht missachten darf. Insofern sind die ersten Wochen der Regierung Tsipras eine bittere Lehre für den Syriza-Wahlkämpfer, der noch vor drei Monaten seinen Anhängern zugerufen hat, die neue Athener Regierung werde „die Märkte“ zwingen, nach der griechischen Melodie zu tanzen. Tsipras und seine Mannschaft – die nicht nur aus Varoufakis besteht – müssen diese Erfahrung jetzt in einem Crashkurs machen, von dem man nur hoffen kann, dass er nicht mit dem Absturz jenseits der Eurozone endet.

Die Syriza und ihre inneren Schwierigkeiten

Das setzt allerdings voraus, dass auch die Syriza als Partei einen gewissen Lernprozess durchläuft. Damit bin ich wieder bei dem Abgeordneten Lapavitsas und der Strategie der BILD-Zeitung.

In einer für die Tsipras-Regierung äußerst schwierigen Situation hat der akademische und politische Rivale von Varoufakis in einem Interview mit dem deutschen Zentralorgan der „Grexit“-Befürworter, einen zügigen und „geordneten“ Ausstieg Griechenlands aus dem Euro empfohlen. Auf die Details dieses Interviews will ich hier nicht eingehen. Es mag der Hinweis genügen, dass Lapavitsas von der BILD-Redaktion bereits mit einer bewussten Unwahrheit („einer der wichtigsten Berater“ von Tsipras) und einer Fehlinformation („Wirtschafts-Kolumnist“ beim britischen Guardian) vorgestellt wird. Was seine „Grexit“-Theorie betrifft, so reicht es völlig, zwei der Lapavitsas- Argumente vorzuführen: Er behauptet erstens, die Eurozone habe den Deutschen keine Vorteile gebracht, was ihm vielleicht die AfD-Führung, aber nur wenige Wirtschaftswissenschaftler abnehmen werden. Er postuliert zweitens, Voraussetzung für das griechische Wirtschaftswunder, das er im Gefolge eines Euro-Ausstiegs prophezeit, sei die komplette Streichung aller griechischen Schulden; dagegen käme „ein Ausstieg ohne Schuldenschnitt“ einem „Desaster“ gleich.

Wer so argumentiert, muss sich natürlich fragen lassen, ob dann nicht die Griechen – und ihre EU-Partner – besser bedient wären, wenn man dem Land (wie früher von der Syriza gefordert) nur die Hälfte der Schulden streichen würde, ohne die schwer kontrollierbaren Folgen eines „Grexit“ für die gesamte Eurozone zu riskieren.

Lapavitsas und „Grexit“

Zu den Implikationen eines „Grexit“ wurde auf diesen Seiten erst kürzlich die Analyse von Rudolf Hickel dokumentiert (NDS 21. Januar 2015); das Grundproblem hat Jens Berger bereits in seiner Analyse vom 22. Mai 2012 klar herausgearbeitet. Zudem sollte man unbedingt nachlesen, was Varoufakis zu diesem Thema in seiner inzwischen legendären „Stinkefinger“-Rede in Zagreb gesagt hat (auf die gestern in den NDS verwiesen wurde). Hier betont Varoufakis mit Nachdruck eine Differenz, die fast alle „Grexit“-Befürworter übersehen, die aber für Griechenland entscheidend ist:

„Wenn wir den Euro aufgeben, werden wir nicht dorthin zurückgehen, wo wir gestanden hätten, wenn wir ihn nie gehabt hätten. Es ist also die eine Sache zu sagen, dass wir ihn nicht bekommen sollten – und eine ganz andere Sache zu sagen, dass wir ihn verlassen sollten.“

Es ist exakt dieser Unterschied zwischen „besser nicht beitreten“ und „auf keinen Fall austreten“, der das zentrale Problem eines „Grexit“ ausmacht. Dieses Problem unterschätzt Lapavitsas so sträflich, dass man an den analytischen Fähigkeiten des „bekennenden Marxisten“ (so die BILD-Zeitung) zweifeln muss. Deshalb ignoriert er auch (in all seinen Schriften) eine fatale Folge des „Grexit“, die bei der Rückkehr zu einer stark abgewerteten Drachme unvermeidlich wäre: der Ausverkauf des Landes an Kapitaleigner, die mit dem starken Euro die wertvollsten „assets“ der griechischen Wirtschaft zu Schnäppchenpreisen erwerben könnten. Die Profiteure eines „Grexit“ wären also die Griechen, die ihre Euro-Vermögen im Ausland geparkt haben, und nicht-griechische Investoren aus dem Euro- und dem Dollarraum. Diese Individuen, Unternehmen und Finanzgruppen, die vor allem auf Immobilien im Tourismus-Sektor scharf sind, machen das aus, was man in Griechenland die „Drachmen-Fraktion“ nennt. Und die hat an „nützlichen Idioten“ gerade auf der politischen Linken ihre helle Freude.

Noch gravierender an dem Interview von Lapavitsas ist allerdings seine Aussage, das die Politik von Tsipras gescheitert sei: „Er hat versucht, den Politikwechsel zu vollziehen, den das griechische Volk verlangt, und gleichzeitig die Probleme innerhalb der Eurozone zu bewältigen.“ Das aber hält er für ausgeschlossen.

Tsipras, Lapavitsas und der Wählerwille

An diesem Punkt muss man dem Tsipras-Kritiker zugestehen, dass die Vereinbarkeit der genannten beiden Ziele in der Tat sehr schwierig und auf keinen Fall im strengen Sinne zu erreichen ist. Allerdings vernachlässigt seine Argumentation zwei wichtige Punkte: Erstens sind sich die meisten Griechen dieser Schwierigkeit voll bewusst und gehen deshalb davon aus, dass der erhoffte Politikwechsel nicht vollständig und schon gar nicht sofort, sondern allenfalls partiell und phasenweise gelingen kann. Das bestätigen alle Umfragen, einschließlich der neusten (die zwischen dem 5. Und 10. März erhoben wurde) nach der 59 Prozent der Befragten – und 62 Prozent der Syriza-Wähler – der Meinung sind, dass die neue Regierung in den Brüsseler Verhandlungen nicht mehr erreichen konnte als die Vereinbarungen vom 20. Februar (Public Issue im Auftrag der Syriza-Zeitung Avgi, wo die Resultate der Umfrage am 14. März publiziert wurden; siehe auch Ta Nea vom 15. März).).

Noch wichtiger ist ein zweites Resultat: Nach dieser Umfrage befürworten nach wie vor 71 Prozent der Befragten den Verbleib Griechenlands in der Eurozone. Zum Zeitpunkt der Wahlen Ende Januar lag die Zustimmung zum Euro sogar über 80 Prozent. Die griechischen Wähler wollten also mit ihren Stimmen für die Syriza nicht nur (wie Lapavitsas es sieht) einen „Politikwechsel“ einleiten. Sie verlangten zugleich die Garantie des Euro als innergriechische Währung, die ein Eckstein im Wahlprogramm der Syriza war. Und die Parteiführung ist sich natürlich auch bewusst, dass der Anteil der Euro-Anhänger in der griechischen Gesellschaft sehr viel höher liegt als der Prozentsatz der Syriza-Wähler vom 25. Januar (nämlich 35,5 Prozent).

Für eine Syriza-Regierung, die sich an den Wählerauftrag hält, kann es demnach die Alternative „Politikwechsel“ oder „Problemlösung innerhalb der Eurozone“ gar nicht geben. Sie muss vielmehr einen Kompromiss zwischen beiden Zielen finden, und der wird – angesichts des Machtgefälles zwischen Athen und Berlin/Brüssel – eher zu Lasten eines radikalen „Politikwechsels“ der Syriza gehen. Aber auch darüber ist sich die griechische Bevölkerung weitgehend im Klaren, was auch für die große Mehrheit der Syriza-Wähler gilt.

Ein klares Indiz für den „Realismus“ der Bevölkerung ist der Befund, der sich aus einer weiteren Umfrage (von Marc Poll für die linke Tageszeitung Efimerida ton Syntakton) ergibt: Über 75 Prozent der Befragten gehen davon aus, dass die Brüsseler Vereinbarung vom 20. Februar keinesfalls das Ende der Sparpolitik, also bereits den von der Syriza verkündeten Politikwechsel darstellt. Dass nach derselben Umfrage dennoch 64 Prozent mit der Arbeit der Regierung zufrieden waren, verweist darauf, wie realistisch-bescheiden die Erwartungen der Bevölkerung sind: Wenn die Regierung alles getan hat, um ein besseres Ergebnis zu erzielen, kann man es ihr nicht ankreiden, dass die Machtverhältnisse derzeit keine großen Erfolge zulassen.

Das Dilemma der Syriza als Regierungspartei

Die Regierung Tsipras steht also vor dem klassischen Dilemma einer Partei, deren Mitglieder politisch radikaler denken und handeln wollen als die Mehrheit ihrer Wähler, die die realen Möglichkeiten der Regierung nüchterner einschätzen. Das heißt aber: Die neue Regierung muss mit jenem „ehrenvollen Kompromiss“, den sie den EU-Partnern abringen will (die ja zugleich ihre Gläubiger sind), entweder einen Teil ihrer Mitgliederbasis vor den Kopf stoßen – und zwar vor allem die innerparteiliche Linke, die einen raschen und radikalen „Politikwechsel“ will -, oder die Mehrheit ihrer Wähler und der griechischen Bevölkerung, die einen „Grexit“ unbedingt vermeiden will.

Abstrakt und rhetorisch hat sich Tsipras klar geäußert, wie er dieses Dilemma im Ernstfall aufzulösen gedenkt: Seit seinem Wahlsieg betont er die Notwendigkeit, mit der Politik der neuen Regierung die ganze Gesellschaft zu repräsentieren und zu überzeugen. Das ist im Grunde eine Selbstverständlichkeit, aber zugleich – angesichts der Verfassung der Partei – eine höllisch schwere Aufgabe. Denn die Syriza ist nach wie vor ein Parteienbündnis mit sehr unterschiedlichen Fraktionen, die sich zum Teil noch als autonome Einheiten verstehen. Die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Gruppen und Flügeln spiegeln sich auch in der Parlamentsfraktion wieder, in der zum Beispiel die Parteilinke (die sich linke Plattform nennt) genau so stark repräsentiert ist wie in der Gesamtpartei, also mit etwa 30 Prozent der Abgeordneten (zu denen auch Lapavitsas gehört).

Das ausgeprägte Eigenbewusstsein der einzelnen Fraktionen und eine rigoros praktizierte innerparteiliche Demokratie machen es zum Beispiel undenkbar, dass Tsipras oder die Regierung gegenüber den eigenen Syriza-Abgeordneten eine Art von Fraktionsdisziplin durchsetzen könnte, wie sie bei den früheren Regierungsparteien Pasok und ND selbstverständlich war (weshalb es im Parlament am Ende der vergangenen Legislaturperiode nahezu 30 „unabhängige“ Abgeordnete gab, die man aus ihrer Fraktion als „Dissidenten“ ausgeschlossen hatte).

Keine Abstimmung im griechischen Parlament

Was dies für die Handlungsfähigkeit der Regierung bedeuten kann, zeigte sich in der Abstimmung über die Brüsseler Vereinbarung vom 20. Februar, die Tsipras vor der Fraktion als soliden und mühsam erstrittenen Verhandlungserfolg darzustellen versuchte. Bei der vom Regierungschef geforderten Probeabstimmung zeigte sich allerdings (nach 11-stündiger kontroverser Diskussion) dass etwa 30 Syriza-Abgeordnete dem Verhandlungsresultat nicht zustimmen wollten (die genaue Zahl der Gegenstimmen, Enthaltungen und abwesenden Mitgliedern hat die Partei nicht veröffentlicht). Zu den kritischen Stimmen gehörte auch der allseits verehrte Parteiveteran Manolis Glezos, und der anerkannte Kopf der linken Plattform, Panayotis Lafazanis, der in der Regierung Tsipras das Amt des Ministers für Strukturreform, Umwelt und Energie bekleidet. Bei so viel Widerspruch entschied sich die Regierung, das Parlament gar nicht mit der Brüsseler Vereinbarung zu befassen. Das führte zu einem merkwürdigen Resultat: Über eine Vereinbarung mit EU, EZB und IWF, die Griechenlands Regierung als unentbehrliches „Brückenprogramm“ gefordert hatte, wurde in allen Parlamenten der Euro-Länder abgestimmt – nur nicht in der Athener Vouli.

Die Begründung des Regierungssprechers, eine Befassung des Parlaments sei nicht nötig, weil es sich nur um „die Verlängerung eines schon bestehenden Kreditabkommens“ handle, war eine durchsichtige Ausrede. Tatsächlich wollte die Regierung einen doppelten Prestigeverlust vermeiden: Man wollte nicht vorführen, dass die Fraktion in der Bewertung des „Erfolges“ von Brüssel gespalten ist. Und man wollte verhindern, dass Abgeordnete anderer Parteien für das Abkommen mit der Ex-Troika stimmen und damit demonstrieren, dass die Syriza-Anel-Koalition in dieser Frage ihre Mehrheit nicht zusammenhalten kann (ein positives Votum hatten insbesondere die Zentrumspartei „Potami“ und auch die Pasok angekündigt, aber auch Teile der Nea Dimokratia).

Diese Episode zeigt – gerade weil die Gefahr einer Abstimmungsniederlage nicht bestand – wie heikel das beschriebene Dilemma für die Regierung Tsipras ist, und dass sie alles tut, um die Differenz zwischen der öffentlichen Meinung und der Haltung eines beträchtlichen Teils ihrer Parteibasis nicht allzu klar hervortreten zu lassen.

Allerdings ist nicht anzunehmen, dass die innerparteiliche Opposition so weit gehen würde, der Regierung bei künftigen entscheidenden Abstimmungen das Vertrauen zu verweigern. Auch die Parteilinke will die Regierungsfähigkeit nicht aufs Spiel setzen und Lapavitsas ist eher ein intellektueller Außenseiter, der allerdings immer wieder Verbündete findet. Zum Beispiel Yiannis Milios, der zu Oppositionszeiten hochoffiziell als Wirtschaftsexperte der Partei fungierte, sich aber seit dem Wahlsieg durch den Medienstar Varoufakis an den Rand gedrängt sieht. Milios und Lapavitsas haben als erste das Verhandlungsergebnis von Brüssel als Resultat einer falschen Verhandlungsstrategie des Finanzministers kritisiert und damit eine – derzeit noch untergründige – Stimmung an der Parteibasis ausgedrückt (Varoufakis legt durchaus Wert auf die Feststellung, dass er kein Syriza-Mitglied ist).

Diese ersten Risse in Partei und Fraktion könnten noch deutlicher hervortreten, wenn die Bemühungen der Athener Regierung um einen „ehrenhaften Kompromiss“ an der Haltung der EU-Partner und vor allem der erklärten EU-Großmacht Deutschland scheitern sollten. Wie sich das spezielle deutsch-griechische Verhältnis weiter entwickelt, wird man vielleicht schon nächsten Montag genauer beurteilen können. Ich werde den Antrittsbesuch von Alexis Tsipras im Kanzleramt von Athen aus verfolgen, also auch durch das Prisma der griechischen Öffentlichkeit und der Medien. Darüber wird nächste Woche zu berichten sein.

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