Memo – Karlsruhe berät über ein Phantom

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Nächste Woche berät der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes über die Klagen gegen die Entscheidung des Bundespräsidenten zur Auflösung des Deutschen Bundestages. Das wird ein spannender Vorgang, denn bei einer der Hauptbegründungen für Neuwahlen haben wir es mit einem Phantom zu tun. Mehr und mehr Beobachter glauben, Blockaden seien schuld an unserem wirtschaftlichen Desaster. Der Bundespräsident hat diese Einschätzung in besonderer Weise befördert, als er in seiner Begründung für die Auflösung des Bundestags davon sprach, die föderale Ordnung sei überholt.

Er hat damit die schon vom SPD-Vorsitzenden Müntefering am Abend der NRW-Wahl ins Spiel gebrachte Begründung für das Neuwahlbegehren festgezurrt: es gebe ein strukturelles Patt zwischen Bundestag und Bundesrat, das von den Wählerinnen und Wählern geklärt werden müsse. Auch der Bundeskanzler beklagte die schwierige Blockadesituation durch die Unionsländer im Bundesrat. Das ist der Grundtenor eines Strangs der Argumentation, die wir seitdem in Variationen immer wieder hören – von Journalisten, von Wissenschaftlern und von Politikern.

Diese Debatte ist hochinteressant und ein Beleg dafür, dass wir uns schon mitten in einer Orwellschen Welt befinden. Die öffentliche Meinung, die von Meinungsführern geprägt ist, vermag sich nahezu vollständig von den Fakten abzulösen. Es stimmt nämlich nahezu nichts an der so gängigen Begründung für Neuwahlen. Schon die uns mitgeteilte Vorstellung von Gerhard Schröder und Franz Müntefering, mit einem neuen Bundestag würde die Blockade des Bundesrats, so sie es gibt, aufgelöst, ist eine beachtliche konstruktive Meisterleistung. Denn ein Wahlsieg ihrer Partei, würde an der Blockademöglichkeit des Bundesrats gar nichts ändern. Es würde sich nur etwas ändern, wenn Schwarz-Gelb gewönne. So kann es aber weder vom SPD-Vorsitzenden und vom Bundeskanzler gemeint sein, noch entspräche dies dem Geist unserer Verfassung: Den Bundestag aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben, um auf diese Weise neue Mehrheiten zu organisieren, das sieht das Grundgesetz nicht vor.

Viel wichtiger, von einer Blockade kann man nicht sprechen: Von wenigen Ausnahmen wie z.B. Zuwanderungsgesetz und Eigenheimzulage abgesehen sind die als wichtig erachteten Reformen reihenweise und nicht sonderlich beschädigt durchgekommen. Das gilt gerade für die viel diskutierten Steuer- und Arbeitsmarktreformen. Aber die erwarteten Wirkungen sind nicht eingetreten. Unsere Meinungsführer schreiben die Wirkungslosigkeit der Reformen fälschlicherweise ihrem Fixpunkt „Blockade“ zu, einem Phantom.

Das Bundesverfassungsgericht wird sich nächste Woche also mit einem Gebäude aus Lug und Trug befassen müssen. Man kann nur hoffen, dass sich die Verfassungsrichter nicht mit den ausgegebenen Parolen sondern mit den Fakten beschäftigen und konkrete Fragen stellen, zum Beispiel: Bei welchen Vorhaben ist konkret blockiert worden? Welche Folgen hatten diese Blockaden für unsere wirtschaftliche Entwicklung? Wie hätte zum Beispiel Hartz IV ausgesehen, wenn kein Kompromiss notwendig gewesen wäre? Hätte Hartz IV dann etwas gebracht?

Zum vollen Verständnis des Brainwashing, dem wir zur Durchsetzung von Neuwahlen ausgesetzt sind, wäre den Verfassungsrichtern zu empfehlen, eine Art zeitlichen Mediensprung in die Zeit vor der Neuwahlentscheidung des Bundeskanzlers zu unternehmen. Vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen am 22.5. waren nämlich eine Reihe von vernichtenden Bilanzen zur Reformpolitik erschienen – auch in solchen Medien, die sich bis dahin der Förderung der neoliberalen Reformagenda verschrieben hatten. Noch am Tag nach der Neuwahlankündigung, am 23.5., erschien ein großes Nachrichtenmagazin, DER SPIEGEL, mit dem Titel „Total verrückte Reform – Milliarden Grab Hartz IV“. In dem Beitrag wurde dokumentiert, dass die Mehrzahl der Hartz-Reformen erfolglos waren und darüber hinaus mindestens 20 Milliarden mehr kosten als veranschlagt. In anderen Medienbeiträgen war in den Wochen vor der NRW-Wahl zunehmend dokumentiert worden, dass die gesamte Palette der Steuerreformen und Steuersenkungen, dass die Streichung der Gewerbekapitalsteuer und der Vermögensteuer, die Senkung der Körperschaftsteuer und des Spitzensteuersatzes zwar dazu führten, dass Deutschland eine der niedrigsten Steuerlastquoten hat, dass aber die erwarteten und versprochenen Investitionen und Arbeitsplätze ausgeblieben sind.

Bis zum 22.5. war in der deutschen Öffentlichkeit nicht mehr zu verheimlichen, dass die Reformpolitik kläglich gescheitert ist. Es fehlte nur noch die Bankrotterklärung der neoliberalen Bewegung. Gerhard Schröders Forderung nach Neuwahlen, verknüpft mit dem Aufruf an die Wähler, die Agenda 2010 und ihre Fortsetzung mit ihrer Stimme neu zu legitimieren, wirkte wie ein Befreiungsschlag für die gescheiterte Ideologie. Die zuvor anschwellende Debatte um ihr Scheitern war wie weg gefegt. Seitdem wird wieder vornehmlich über die Notwendigkeit der Reformen diskutiert. Und darüber, dass unser Land darunter zu leiden habe, dass die Strukturreformen blockiert würden.

Wenn man sich diesen Vorgang vergegenwärtigt, wenn man sich an die Diskussion des Scheiterns der Reformen erinnert, dann begreift man auch, wie fadenscheinig der andere Strang der Begründung des Bundeskanzlers für die Neuwahlen ist. Wenn er sagt, die „drängenden Probleme unseres Landes“ verlangten „die Fortsetzung der begonnenen Reformen“, dies dulde „keinen Zustand der Lähmung oder des Stillstandes“, die Bundesregierung sei auf die Geschlossenheit der Koalitions-Fraktionen angewiesen, die aber vermehrt durch abweichende, jedenfalls die Mehrheit gefährdende Stimmen gefährdet sei, dann hat das doch nur Gewicht, wenn die Reformen erfolgreich sind. Das entspricht aber, wie die Erfahrung und die Bilanzierung der Reformen zeigen, nicht der Wahrheit.

Der Bundespräsident hat diesen Lügengeschichten das oberste staatliche Gütesiegel verpasst. Sollten die Verfassungsrichter diese Einschätzung für übertrieben halten, dann wäre zu empfehlen, sich die Fernsehansprache des Bundespräsidenten anzusehen. Die Körpersprache verrät alles. Da liest der erste Mann im Staat unsicheren Blickes ab, was Regierung und Opposition gleichermaßen von ihm erwarten. Man merkt dem Bundespräsidenten an: Er weiß, dass er dem Verfassungsauftrag, das Neuwahlbegehren auch verfassungsrechtlich zu prüfen, nicht ausreichend gerecht wird und eine politische Entscheidung fällt.

Sich dabei auf den mittels Umfragen ermittelten Wählerwillen zu berufen ist das Tüpfelchen auf dem i. Jeder Meinungsforscher weiß: wenn alle Parteiführungen gleich votieren, dann kommt eine Mehrheit von Befragten fast bei jedem Thema zusammen, weil sich die Anhänger der einzelnen Parteien bei einer so komplizierten Frage jeweils an der Linie der von Ihnen gerade bevorzugten Partei orientieren.

Es wird interessant sein zu sehen, ob die Verfassungsrichter dem Täuschungsversuch nachgeben oder ob sie nüchtern prüfen, was denn da eigentlich blockiert worden ist. Vielleicht sehen sie sich auch an, was da alles den Bundestag und Bundesrat passiert hat, obwohl es besser blockiert worden wäre. Dazu ein paar Hinweise: Die Streichung der Gewerbekapitalsteuer wurde schon zu Kohls Zeiten parlamentarisch abgesegnet; sie wäre uns besser erhalten geblieben; dann hätten die Gemeinden noch ein Entgelt dafür, was sie großen, kapitalintensiven Betrieben an Leistungen zur Verfügung stellen und die Staatsverschuldung wäre nicht so gestiegen. Genau das gleiche gilt für die Senkung der Körperschaftsteuer. Ein weiteres, sehr aktuelles Beispiel: Die Besteuerung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen. Sie ist von der rot-grünen Regierung gestrichen worden – ohne Widerstand durch die Union, deren wirtschafts- und finanzpolitischer Experte Friedrich Merz direkt von dieser Steuerbefreiung profitiert. Denn er berät ausländische Investoren, die hierzulande gesunde Unternehmen aufkaufen und die Befreiung ihrer Gewinne von der Steuer genießen. Wir haben es wirklich nicht mit einer großen Koalition der Blockierer zu tun sondern eher, wenn es um große Interessen geht, mit einer solchen der Durchwinker.

Die Verfassungsrichter könnten sachlich fragen, wo und wie und was denn bei der Reform der Rentenversicherung blockiert worden ist und was uns dann noch ins Haus steht, wenn die restlichen Blockaden durch die neuen Wahlen gelöst werden: Die Riester-Rente hat doch alle parlamentarischen Hürden überwunden, der Staat fördert seitdem mit öffentlichem Geld das Geschäft der Lebensversicherungskonzerne und tut dem Wunsch des Mainstream entsprechend alles, um das Vertrauen in die gesetzliche Rente weiter zu zerstören. Wenn die letzte Scham fällt, dann wird vermutlich hierzulande die Eigenverantwortung zur Privatvorsorge auch noch staatlich verordnet zur Pflicht gemacht. Zu solchen perversen Ergebnissen wird die Lockerung der letzten Blockade führen: Der Staat als Vertriebsagent, als Büttel der Versicherungswirtschaft. Wollen unsere Verfassungsrichter auch den Weg dahin ebnen? Und was das schlimmste ist: Das Bundesverfassungsgericht würde die Fortsetzung eines Weges öffnen, der bisher erfolglos war, gescheitert ist und sich in vielen anderen Ländern wie in Chile, in Großbritannien oder auch in den USA als teuer und unsicher erweist.

Das Scheitern der Reformen ist inzwischen nahezu völlig aus der Diskussion, mit wenigen Ausnahmen. Das zeigt, dass wir es mit einer vergesslichen Öffentlichkeit zu tun haben.

So entscheidet nun das Bundesverfassungsgericht auf der Basis eines Phantoms, und dann – falls das Bundesverfassungsgericht der Auflösung des Bundestages zustimmt – am 18.9.2005 auch unser Volk.

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