Die Terror-Manipulation

Ein Artikel von:
Conrad Schuhler

Die Schüsse am 7. Januar waren kaum verklungen, da wurden der Weltöffentlichkeit bereits die Täter präsentiert. Ein von den Profikillern im Tatfahrtzeug vergessener Personalausweis wies die entscheidende Spur. Von da an war klar: „Wir“, wir alle – wir sind die Opfer dieser Aggression gegen unsere Werte, unsere Kultur, unsere Zivilisation. Ob arm, ob reich, ob jung oder alt, ob Bomberpilot oder Antifaschist – unser aller national-kulturelles Kollektiv würde nun zusammenhalten und vereint der äußeren Gefahr ins Auge sehen müssen, die so rücksichtslos und barbarisch mordet, wie es „uns“ nicht einmal im Traum einfiele. Erinnern Sie sich? Der Autor Conrad Schuhler ebenso. In seinem soeben erschienenen Buch „Alles Charlie oder was“ skizziert er das Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ sowie die hierauf einsetzende Medienhysterie als „Manöver übler islamfeindlicher Propaganda“ und nahezu perfekte Manipulation. Jens Wernicke sprach mit ihm.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Gerade erschien Ihre Analyse zu den Anschlägen in Paris, die anhand dieser vielen wichtigen Fragen der Zeit nachgeht, vor allem aber den Umgang der Mächtigen und Medien mit diesem Ereignis kritisiert. Wie haben Sie die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo erlebt? Und wie die anschließende Medienredaktion? Irgendetwas hiervon brachte Sie, nehme ich an, dann ja dazu, hierüber ein Buch verfassen zu wollen…

Die Toten in Paris waren noch nicht bestattet, da hatten sich auch in Deutschland bereits Publizisten aller Art in Positur geworfen: Wir alle sind Charlie, wir Journalisten werden auch weiterhin unter Lebensgefahr für Meinungsfreiheit, Wahrheit und die Verteidigung der demokratischen Werte in Europa kämpfen. So trompete unter anderen der Herausgeber des Handelsblattes. Der Chef der Springer-Konzerns, Döpfner, ernannte den 7. Januar, den Tag der Pariser Attentate, zum neuen „9/11“, dem Beginn des „Kampfes gegen den Terrorismus“ nach dem verheerenden Anschlag auf das World Trade Center in New York. Und die Spiegel-Redaktion trat in voller Mann- und Frauschaftsstärke vor die Kamera und reckte Plakate in die Luft: Je suis Charlie.

„Wir sind Charlie“ wurde, wie die Süddeutsche Zeitung sofort schlussfolgerte, „zum Symbol für die bedrohte Öffentlichkeit und demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung insgesamt“. Der Spiegel sprach von einer „Attacke auf die Republik, auf die Werte der Aufklärung und der Französischen Revolution“. Das Handelsblatt publizierte ein „Manifest der Freiheit“, worin es heißt: „Europa muss nicht nur seine gemeinsame Währung, sondern wir müssen auch unsere gemeinsamen Werte bewahren.“ Die Krönung des Manifests: „Der Erfolg der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union ist ganz grundlegend mit dem rechtlichen Schutz des Eigentums verbunden.“
Darum, das war schon am Abend des 7. Januars klar, würde es fortan gehen: den Hass auf Muslime und Migranten zu schüren, ein Zivilisationsgefälle zu konstruieren zwischen dem moralisch überlegenen Westen und den barbarischen Muslimen. Ebenso entlarvend wie abscheulich das Bild vom Defilé der Staatschefs bei der „ersten internationalen Demonstration gegen den Terrorismus“, das am 11. Januar in Paris abgehalten wurde. In der ersten Reihe, knapp getrennt von Frankreichs Präsident Hollande, marschiert Israels Regierungschef Netanjahu. Der politische Hauptverantwortliche für den täglichen Terror gegen Hunderttausende Palästinenser konnte sich als Opfer des Terrors darstellen. Und als legitimer Rächer. Der Pegida-Mob in Dresden brachte in derselben Woche 25.000 Leute hinter seine Fahnen, die sich als einig in der Trauer mit den Opfern und einig in der Abscheu über die Muslim-Objekte der satirischen Kritik von Charlie Hebdo präsentieren konnten.

Aufgrund dieser Beobachtungen habe ich eine Woche nach dem Attentat jedenfalls einen Kommentar ins Netz gestellt mit der Überschrift: Je ne suis pas Charlie. Darin bestreite ich die humanistische Qualität der anti-islamischen Produkte von Charlie. Satire darf nicht alles. Auch wer sagt, Charlie mache das mit allen Religionen so, muss verstehen, dass es einen gewaltigen Unterschied ausmacht, ob ein Magazin eine Religion angreift und schmäht, die im Lande eine überragende politische Gestaltungsmacht besitzt, oder ob sich die Kritik gegen eine Minderheit richtet, deren fremdenfeindliche Gegner nur auf Munition gegen den verhassten Gegner warten. Diese Kritik an der Charlie-Satire wandelt übrigens ganz auf den Spuren Tucholskys, von dem die Charlie-Sympathisanten zu Unrecht ihre Hauptweisheiten reklamieren.

Für Sie ist der Ausspruch „Je suis Charlie!“ also gleichbedeutend mit der Beschwörung eines moralisch überlegenen Kollektivs, welche die Ausgrenzung der vermeintlich anderen gleich mit beinhaltet? Wie funktioniert so etwas denn? Und welche Folgen zeitigt derlei Ihrer Einschätzung nach?

Carlo Strenger, Philosophieprofessor an der Universität Tel Aviv und Kolumnist der Neuen Zürcher Zeitung, hat sofort nach dem Attentat ein Buch veröffentlicht mit dem schönen Titel: Zivilisierte Verachtung. Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit. Darin konstruiert er auf der einen Seite die freie Welt, wie er den Westen nennt, dem finstere internationale Mächte entgegenstehen: der Islam, Russland und China. Das sind übrigens dieselben sogenannten Bedrohungen, wie sie die Nationale Sicherheitsstrategie der USA benennt. Strenger verlangt, dass die westlichen Ideen weltweit durchgesetzt werden müssten. Die Herabwürdigung des Islam dient dabei dem Ziel, ein solches weltweites Durchsetzen per Gewalt gegen Muslime und die muslimische Welt akzeptabel zu machen.

Hirsi Ali, eine andere Kronzeugin der Islam-Feindseligkeit, verkündet die These: Der Islam ist inhärent gewalttätig. Die im Namen des Islam verübte Gewalt gründe nicht in sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Gegebenheiten, sondern sei in den religiösen Texten explizit enthalten. Der Islam insgesamt sei daher für die Taten seiner terroristischen Anhänger verantwortlich zu machen.

Wenn Sie sich die heutigen militärischen Aggressionen des Westens anschauen, dann stellen Sie fest, dass sie sich durchweg gegen muslimische Länder richten. Sei es in Syrien, im Irak, in Afghanistan oder zuvor in Libyen. Die Verteufelung des Islam dient als ideologische Rechtfertigung der durchgeführten und zukünftigen Kriege gegen islamische Regimes. Und im Innern dient sie der Entladung von Ängsten und Frustrationen der subalternen Schichten und des sich gefährdet sehenden Mittelstandes in Aggressionen gegen die wachsende Gruppe der Muslime. Die Scharfmacherei in der Flüchtlingsfrage und das Erstarken rechter Parteien und Gruppen gedeihen mithilfe der angeheizten Islamophobie. Sie begründet auch die „Notwendigkeit“ weiterer Einschränkungen der Demokratie, da ja so entsetzliche Gefahren seitens islamistischer Terroristen drohen.

Wurden die Attentate Ihrer Meinung nach also propagandistisch missbraucht? Um sozusagen das „Feindbild Islam“ noch weiter als „nicht zu uns gehörig, gefährlich, unzivilisiert, barbarisch“ in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern?

Ohne Frage. In Frankreich sind 10 Prozent der Bevölkerung Muslime. Sie leben zum großen Teil in den Banlieues, den verslumten Vorstädten der großen urbanen Zentren. Muslim heißt dann immer auch: Arbeiter oder Arbeiterin, arbeitslos, perspektivlos, abhängig von Sozialleistungen. In Zeiten, da Arbeitsplätze und Wohnungen knapper werden, soziale Mittel gekürzt werden, ist es sehr nützlich für die Profiteure dieses Systems, eine ganze Bevölkerungsgruppe als barbarisch quasi zum sozialen Abschuss freigeben zu können. Die Muslime werden zum Sündenbock für soziale Mängel gemacht, deren Ursachen ganz woanders liegen, nämlich beim neoliberalen Mechanismus, den Reichtum bei denen oben auf Kosten derer da unten auszudehnen. Die gezielte Diskriminierung der Muslime findet in Frankreich seit längerem statt, zum Beispiel durch Charlie Hebdo, und dies läuft auch bei uns in Deutschland, wo derzeit 5 Prozent Muslime sind.

Angesichts dieser antiislamischen Propagandawalze ist es geradezu erstaunlich, wie resistent hiergegen sich die Arbeiterschichten bisher erweisen. Emmanuel Todd, der Demograph und Soziologe, seit seinem „Nachruf“ auf die Weltmacht USA eine internationale Kapazität, hat die soziale Substanz der vier Millionen Demonstranten der „Republikanischen Märsche“ am 11. Januar untersucht und kam zu folgendem Ergebnis: Während die Arbeiter weit unterrepräsentiert waren, prägten die gehobenen Mittelschichten und die von Todd so genannten Zombie-Katholiken das Bild. Zombie-Katholiken sind solche, deren christlicher Glaube sich im Endstadium des Zerfalls befindet und die ein neues Goldenes Kalb anbeten, nämlich das Geld oder die Europäische Union. Den Demonstranten ging es nicht um Toleranz und Meinungsfreiheit, sondern um die Diskriminierung und weitere Ausgrenzung der französischen Unterschicht in Gestalt der Muslime.

Das erinnert fatal an die Zeiten der Machtergreifung der Nazis in Deutschland. Die NSDAP nannte sich zwar „Arbeiterpartei“, wurde aber vom orientierungslosen „Lumpenproletariat“ und vor allem vom Mittelstand, dessen Angst vor dem sozialen Abstieg sie zu den Nazis trieb, getragen. Ähnliche Konstellationen finden wir heute bei Pegida- und AfD-Aktionen.

Handelt es sich bei der ganzen Terrorhysterie also … nun, ja: um eine Ideologie des „Klassenkampfes“? Im Inneren liefert sie die Rechtfertigung für Ausgrenzung, Verelendung, Unterdrückung – und im Äußeren, also international gesprochen, für all dieses plus Krieg?

Ja, so kann man das zusammenfassen. Auch international geht es ja darum, die Macht der wenigen gegen die Macht der vielen durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Notfalls eben auch mit Gewalt.

Insofern traf der Friedensforscher Werner Ruf einen sehr richtigen Punkt, als er in diesem Kontext feststellte: „Es geht um Armut, nicht um Religion“. Und dass die Zunahme von Gewalt und Konflikten weltweit auch die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Klassen, zwischen Arm und Reich also, abzubilden scheint.


Rosa-Luxemburg-Stiftung: „Globale Machtverhältnisse, Freihandelsregime und die Wiederkehr von Kriegen“ mit Jean Ziegler (ehem. UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung), Conrad Schuhler (Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V.), Sinan Birdal (Professor an der Universität Istanbul/Türkei) und Liliana Uribe (Menschenrechtsanwältin, Kolumbien)


Können Sie ggf. sagen oder mutmaßen, wie es kommt, dass die Medien auf den „Terror von Paris“ umgehend dieselben oder doch sehr ähnliche Botschaften verbreiteten? Und warum wird das „Feindbild Islam“ vom Westen derart hochgezogen? Was ist die Spezifik, ist das Besondere hieran?

Seit Jahrzehnten wird von den Medien systematisch ein Feindbild des Islam konstruiert, wie Medien- und Islamforscherinnen und -forscher wie Sabine Schiffer und andere detailliert dokumentiert haben. Dass die großen Medien in Deutschland tatsächlich unisono in dieses Lied einfallen, liegt unter anderem daran, dass die „Alphatiere“ der großen Sender und der meinungsbildenden Presseorgane Süddeutsche Zeitung, Welt, Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Zeit sich regelmäßig mit den Chefs der global operierenden Konzerne und der globalen Kapitalinstitutionen auf Konferenzen treffen, über die sie nicht berichten, sondern wo sie sich auf eine gemeinsame Sicht und entsprechende mediale Einflussnahme einigen.

Der verstorbene Mit-Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, sprach angesichts dieser Perversion des öffentlichen Diskurses von einem Kurssturz des Republikanischen. Und der britische Soziologe Colin Crouch spricht von einer „Postdemokratie“, wo die privilegierten Eliten den öffentlichen Ton angeben und das egalitäre Projekt zunehmend mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert wird.

Dabei gerät zwangsweise auch der Islam ins Visier des globalen Kapitals, weil wichtige Bodenschätze, vor allem Öl- und Gasressourcen, dummerweise unter dem Boden islamischer Länder liegen und wichtige internationale Transportrouten an diesen Ländern vorbeiführen. Das muss alles im Zweifel militärisch überrannt und gesichert werden. Und da ist es für die Weststrategen sehr hilfreich, die jeweiligen Bevölkerungen schon mal als Barbaren, als Untermenschen stigmatisiert zu haben.

Verstehe ich recht, dass Sie auch Zweifel daran hegen, ob die präsentierten Täter wirklich die – zumindest alleinigen – Täter des Attentats waren? Das klingt ja doch ziemlich nach „Verschwörungstheorie“…

Der Anschlag von Paris wurde in großem Stil als angeblicher Beweis für die Barbarei des islamischen Terrorismus benutzt. Dabei gab es von Anfang an erhebliche Zweifel an dieser Version der Vorgänge. Erstens wussten die Täter ganz genau, wen sie töten wollten, sie riefen die Namen aus. Über Redaktionsabläufe und das Personal waren sie perfekt im Bild. Zweitens hat einer der Täter angeblich seinen Personalausweis im Auto vergessen, wo er sofort gefunden wurde. Ein höchst seltsamer Fall von Hilfe für die Polizei von Terroristen, die sich ansonsten wie perfekte Terror-Maschinen aufführten und alles bis ins Detail durchgeplant hatten. Drittens war Cherif Kouachi, einer der Attentats-Brüder, bereits im Jahr 2005 in Frankreich verhaftet worden, als er in den Irak fliegen wollte, um dort zu kämpfen, und saß dann 18 Monate in französischen Gefängnissen. Er war also ein alter Bekannter der französischen Sicherheitsbehörden und konnte keinen Schritt tun ohne deren ständige Kontrolle. All dies führte zu dem Verdacht, dass die Brüder Kouachi ihre Terroraktion mit Unterstützung der Sicherheitsdienste durchgeführt haben, um dann als Sündenböcke geopfert zu werden, nachdem sie den „Beweis“ für die Bedrohung durch den barbarischen Islamismus erbracht hatten.

Was genau nährt Ihre Zweifel an der offiziellen Version denn? Das sind ja alles eigentlich nur Indizien…

Ich habe eben schon einige konkrete Punkte genannt. Hinzu kommt: Die Attentäter sind zwar maskiert im Redaktionsgebäude aufgetreten, doch haben sie ständig „Allah ist groß!“ und „Wir haben den Propheten gerächt!“ gerufen. Sie haben also die Visitenkarte des Islam abgegeben. Doch persönlich, mit Angesicht waren sie nie sichtbar. Es gibt keinerlei gesicherten Beweis, dass die Brüder Kouachi wirklich in der Redaktion gewesen sind. Denn man stellte sie nicht, sondern erschoss sie bei nächster polizeilicher Gelegenheit.

So auch einen angeblichen Komplizen, der einen koscheren jüdischen Markt überfallen und vier Kunden getötet hatte. Die Polizei verdächtigte auch noch einen weiteren Mittäter, der sich allerdings sofort stellte, weil er befürchtete, sonst auch erschossen zu werden. Und dieser dritte Mann nun brachte ein perfektes Alibi bei. Das alles riecht doch nach der Konstruktion eines Terror-Aktes, mit dem die islamische Minderheit belastet werden sollte.

Doch ob nun vom Geheimdienst konstruiert oder bloß propagandistisch ausgeschlachtet – so oder so ist das Ganze ein Manöver übler islamfeindlicher Propaganda, ein Paradebeispiel gelungener Massen-Manipulation.

Noch einmal zurück zum Thema Satire… Verstehe ich recht: Sie sind mit Tucholsky der Meinung, dass weder alles Satire sei noch Satire alles dürfe, wie uns das seit den Attentaten ja medial aus allen Kanälen entgegenkommt?

Tucholsky überschrieb seinen entsprechenden Artikel: Was darf Satire? Und gab die Antwort: Alles. Nur machte er das, was Satire sein kann, am humanistischen Inhalt fest. Eine Satire, schrieb er in besagtem Artikel, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Anhand des Simplicissimus zählt er, wie er sagt, deutsche Heiligtümer auf, an denen Satire rühren muss: den prügelnden Unteroffizier, den stockfleckigen Bürokraten, den Rohrstockpauker, den fettherzigen Unternehmer und den näselnden Offizier. Gegenstand von Satire müssen also die Institutionen der Macht und die Mächtigen sein.

Mit seiner Konzentration auf den Islam und die Muslime hat sich Charlie Hebdo aber nicht mit den Institutionen der Macht in Frankreich kritisch auseinandergesetzt. Im Gegenteil, die Zeitschrift hat die Muslime als bedrängte Minderheit noch weiter unter Druck gesetzt und so die bestehenden Machtverhältnisse gestützt.

Charb, der am 7. Januar ermordete Chefredakteur von Charlie Hebdo, hat in einer posthum erschienen Schrift gesagt, der Koran oder die Bibel seien einschläfernde, inkohärente und schlecht geschriebene Romane, das eigentliche Problem aber seien die Gläubigen, die diese Romane wie die Bauanleitung für ein Ikea-Regal läsen. Wie aber liest dann das Publikum die systematisch vorgetragenen, satirisch zugespitzten Herabwürdigungen einer ohnehin als Last empfundenen Minderheit? Es liest sie so, dass man als Mitglied der „westlichen Wertegemeinschaft“ leichter alle Hemmungen gegen die inferioren und zivilisationsfeindlichen Muslime fallen lassen kann.

Das meint: Auch Satire soll nicht alles können dürfen? Könnten Sie die Grenze, die Sie da für angemessen halten, ggf. einmal konkret umreißen?

Wenn wir über Grenzen reden, dann über solche von Inhalten, nicht von Formen der Satire. Satire ist natürlich einseitig, polemisch und aggressiv. Doch es muss um das Aufspießen politischer und menschlicher Strukturen und Verhaltensweisen gehen, die Hemmnis einer humanen Fortentwicklung, von Freiheit und Selbstbestimmung sind.

Tucholskys Beispiel von der Kriegsanleihe, die man nicht satirisch bewerben kann, drückt das aus. Die Abscheu gegenüber judenfeindlichen Diffamierungen, wo die Juden stets als hakennasige, lüsterne, geldgierige Monster vorkommen, ebenso.

Konkrete Grenzen findet Satire daher immer dann, wenn Schläge gegen Minderheiten, gegen Subalterne mit dem Zeichenstift gerechtfertigt oder wenn den Mächtigen, wie verschmitzt und parodistisch auch immer, gehuldigt werden soll. Dabei wird es natürlich immer auch Grenzfälle geben, wo man sich fragt: Geht das eigentlich noch oder verletzt es die Würde des Menschen, wirkt sich gegen eine humane Lösung eines anstehenden Problems aus!

Sehen Sie denn einen Weg, sich aus der offenbar immer weiter eskalierenden Gewaltspirale, die Hetze gegen Minderheiten als schützenswerte Satire und Unterdrückungsmechanismen und -zusammenhänge als bedrohte und daher zu verteidigende „Wertegemeinschaft“ ausgibt, zu befreien? Wie kämen wir Ihrer Einschätzung nach am besten von zunehmendem Hass, der sich religiöser Zuschreibungen bedient, hin zu einer Art … „Kultur des Respektes jeder vor jedem“?

Herbert Marcuse hat in seinem Aufsatz „Repressive Toleranz“ die Toleranz in zwei Arten unterschieden: in die repressive Toleranz, die kein befreiender Begriff ist, sondern, da sie alle, ob mächtig oder ohnmächtig, gleichermaßen behandelt, die aktuelle Maschinerie der Machtverteilung bewahrt; und in die befreiende Toleranz, die auf das Verschwinden von Oben und Unten aus ist, das heißt in erster Linie am System der Herrschaft rütteln muss.

Das gilt auch für die Einschätzung von Satire. Wo die „westliche Wertegemeinschaft“ als Dominanzpeitsche auftritt, muss sie daher ironisch, sarkastisch, zynisch attackiert werden. Der sich religiös gebärdende Hass muss gebändigt werden. Dazu gehört auch, dass rückschrittliche Elemente von Religionen und anderen Gruppenideologien nicht zu akzeptieren, sondern satirisch zu bekämpfen sind. Die jeweiligen Unterschiede im politischen Gewicht der Gruppen und ihrer sozialen sowie oft auch physischen Gefährdung müssen dabei aber beachtet werden.

Bis zu einer Kultur des „Respekts jeder vor jedem“ haben wir jedoch noch einen weiten Weg vor uns. Und das ist keineswegs nur eine Frage des religiösen Zwists. Denn wir haben es mit der neoliberalen Ideologie zu tun, deren Hauptformel lautet: Konkurrenz jeder gegen jeden. Dieses Konkurrenzverhältnis drückt sich zum Teil auch religiös aus. Wenn man dieser Hetz-Kultur das Fundament entziehen will, muss man die neoliberalen Imperative in der Gesellschaft überwinden. Das ist letzten Endes eine Machtfrage, zu deren Klärung kulturpolitische Diskussionen und Klarstellungen sicher hilfreich sind.

Eben hörten wir die Nachrichten über die neuen Terror-Anschläge in Paris. Über 120 Tote, 200 zum Teil schwer Verletzte. Verändern diese Taten Ihre Einschätzung des Islamismus und des Kampfes dagegen?

Diese Terror-Morde liefern eine Bestätigung der von mir dargelegten Interpretation. Islamistische Terrorgruppen wie der IS sehen den von ihnen ausgeübten Terror als Antwort auf die skrupellose Politik des Westens. Richtig ist, dass der Westen von Ostafrika bis Pakistan eine Politik der Ausbeutung und Unterdrückung betreibt und, wie vielfach demonstriert, nicht davor zurückschreckt, die Ländern militärisch zu überfallen und zu zerstückeln. Nehmen wir Syrien, derzeit das Hauptschlachtfeld. Der Westen hat die religiösen und ethnischen Differenzen ausgenutzt, um kriegerische Kampagnen gegen das missliebige Assad-Regime zu inszenieren. Ohne die Unterstützung des Nato-Mitglieds Türkei hätte der IS nicht diese verheerende Kraft entwickeln können. Auch nicht ohne die Finanz- und Waffenunterstützung von Saudi-Arabien, das wiederum von Deutschland und anderen mit Waffen und politischer Unterstützung versehen wird. Der Westen ist nicht nur verantwortlich für die Zerrüttung, das sogenannte Fehlschlagen dieser Staaten, er ist oft direkt involviert in die Kräftigung von Terror-Organisationen.

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Conrad Schuhler, Jahrgang 1940, ist Diplom-Volkswirt und hat an den Universitäten München und Manchester sowie an der Yale University und in Berkeley studiert. Er ist Vorsitzender des Instituts für sozial­ökologische Wirtschaftsforschung (isw) in München. Aktuelle Texte von ihm: Conrad Schuhler: „Widerstand – Kapitalismus oder Demokratie“, ISW-Report 96; Conrad Schuhler u.a.: „Wirtschafts-Nato TTIP – STOP!“, ISW-Report 97; Conrad Schuhler u.a.: „Der Aufstieg des Südens – Umbruch in der globalen Machtverteilung?“, ISW-Report 102.


Weiterlesen:


Weitere Veröffentlichungen von Jens Wernicke finden Sie auf seiner Homepage jenswernicke.de. Dort können Sie auch eine automatische E-Mail-Benachrichtigung über neue Texte bestellen.

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!