Ein Befreiungsschlag für die neoliberale Ideologie – und für Schröder persönlich

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Seit gestern Abend denke ich darüber nach, was die strategischen Überlegungen von Schröder und Müntefering sein könnten, wenn sie für den Herbst Neuwahlen vorschlagen. Auch beim bestem Willen kann ich nicht erkennen, dass dieser Coup unserem Land oder der SPD helfen könnte. Die „geniale Vorwärtsverteidigung” (Politologe Falter) hilft allenfalls Gerhard Schröder, dann aber bestimmt der Union und FDP und vor allem der neoliberalen Bewegung. Sie ist der wahre Gewinner dieses angeblichen Befreiungsschlags; sie muss den fälligen Bankrott ihrer politischen Konzepte nicht erklären, im Gegenteil, für sie besorgt der Gerhard Schröder ein neues Votum für die nächsten vier Jahre. Der Union und der FDP macht er damit das Bett. Und einer kommenden Oppositionspartei SPD nimmt Gerhard Schröder die Chance, die dann von Angela Merkel betriebene konservative Fortsetzung der neoliberalen Reformen grundsätzlich in Frage zu stellen und zu kritisieren.

Schröders Geschenk für die Neoliberalen und für sich selbst

In den letzten Wochen und Monaten wuchs die Kritik am Reformkurs. Selbst neoliberal eingefärbte Medien begannen zu fragen, wo die Erfolge der vielen Reformen denn blieben. Es war nicht mehr zu übersehen, dass weder die vielen Steuersenkungen und -Reformen noch Hartz I bis IV den versprochenen Wirtschaftsaufschwung, den Abbau der Arbeitslosigkeit und die versprochene finanzielle Konsolidierung des Fiskus und der sozialen Sicherungssysteme erreicht hatten. Im Gegenteil: Mit Hartz I-III ersetzten Minijobs reguläre Arbeitsverhältnisse; Hartz IV wird viel teurer als erwartet; selbst der SPIEGEL, dieses Kampforgan der neoliberalen Reformer, titelte in dieser Woche: „Die total verrückte Reform: Milliarden-Grab Hartz IV“; die vielen Steuersenkungen haben nichts gebracht. Die neoliberale Bewegung in Deutschland steht vor einem Scherbenhaufen.
Und Gerhard Schröder hilft ihr aus der Patsche. Mit seiner Neuwahlentscheidung erstickt er die beginnende Kritik an der Reformagenda im Keim. Er isoliert die Kritiker in seiner Partei und bei den Gewerkschaften, weil es von nun an ja angeblich um die Wurst im Wahlstreit mit den noch Schlimmeren von Union und FDP geht.
Die Aktion ist übrigens typisch für Gerhard Schröder. Er weiß, die Medien und auch viele Meinungsführer im Bildungsbürgertum sind beeindruckt von dieser Art Entscheidungsfreude eines Bundeskanzlers. Es ist das Konzept „Hauptsache Aktion”. Darüber nachgedacht, was dies bringt, wird nicht. Es wird schon irgendwie gut gehen, so denken Schröder und Müntefering. So haben sie vermutlich auch in den letzten Jahren immer gedacht: etwa bei der Entscheidung für die Agenda 2010, bei der Entscheidung für die Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerschaft, etc.

Für unser Land verheerend

Die Erfolglosigkeit der Reformpolitik kommt nicht auf den Tisch, es wird über die Gründe des Scheiterns nicht nachgedacht sondern eher nachgelegt und es werden weitere Reformen angekündigt, die notwendige Kurskorrektur und sei es nur die Hinwendung zu einer expansiven Makropolitik findet nicht statt. Das ist die sachliche Seite und dies ist schlimm für unser Land.

Der Wählerwille wird – offen erklärt – missachtet

Gerhard Schröder erklärte am Wahlabend: „Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit in Frage gestellt.“ (Siehe unten Anhang mit der Erklärung von BK Schröder) Seit Jahren signalisiert die Mehrheit der Wähler, dass sie von der Reformpolitik nichts halten – das ist bei Wahlen und bei Umfragen erkennbar. Es stimmt eben nicht, was Prof. Falter gestern bei Sabine Christiansen erklärte. Es gibt keine Mehrheit für die jetzigen Reformen. Die Gründer der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft haben übrigens diese Skepsis der Mehrheit gegenüber den Strukturreformen zum Anlass für ihr großangelegtes Brainwashing genommen. Gerhard Schröder setzt diesen Kurs der Missachtung der Präferenz der Mehrheit für solidarische Lösungen unserer Probleme mit einem Paukenschlag fort. Er macht sich erneut zum Handlanger der „Revolution von oben“ (siehe Tagebucheintrag vom 4.2.2004).

Es gibt dann noch eine andere demokratie-politische Seite des Vorgangs. Die Wählerinnen und Wähler werden in einen Wahlkampf und in eine Wahl geführt, bei der sie mit der SPD ernsthaft keine Alternative haben. Alternativen aufzuzeigen und Alternativen zur Wahl zu stellen, wäre aber wichtig, um die Mehrheit unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger und vor allem die politisch Interessierten aus der Resignation zu holen. Das trotzige „Wir brauchen eine Bestätigung für den Reformkurs, weil er alternativlos ist“, ist in der Konsequenz eine Katastrophe für die Bereitschaft der Menschen zu politischen Beteiligung.

Die Ruin der SPD

Seit Gerhard Schröder regiert, sind bei verlorenen Landtagswahlen sechs SPD-Ministerpräsidenten abgewählt worden: Höppner, Klimmt, Eichel, Gabriel, Mirow, Steinbrück; es sind in der gleichen Zeit reihenweise Kommunalwahlen verloren gegangen. Tausende von SPD-Mandatsträgern haben für Schröders Politik gebüßt. Hunderttausende sind aus der SPD ausgetreten, selbst in NRW hat die SPD inzwischen weniger Mitglieder als die CDU. Deutschland wird in einer Weise schwarz regiert, wie wir das nie zuvor erlebt haben. Der Befreiungsschlag, den Gerhard Schröder jetzt versucht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch schief gehen.

Hier in Stichworten einige Hinweise auf die Fehleinschätzungen von Schröder und offenbar auch von Müntefering:
Die Bedeutung von Personen bei Wahlentscheidungen wird immer wieder weit überschätzt. Das müsste man langsam wissen: Eichel war im Januar 1999 populärer als Koch, Gabriel war populärer als Wulff, Simonis war um vieles populärer als Carstensen. Aber die CDU hat trotz geringerer Popularität ihres Spitzenpersonals die Wahlen gewonnen. Diese Erfahrung ist eine immer wiederkehrende Erfahrung. Sie galt auch schon 1976, als der unpopuläre Helmut Kohl gegen den populären Helmut Schmidt die CDU/CSU zur stärksten Fraktion machte und die Beendigung der Kanzlerschaft Helmut Schmidts nur knapp verfehlte. Nur mit Ignoranz gegenüber dieser Erfahrung kann man glauben, Gerhard Schröders Popularitätsvorsprung gegenüber Angela Merkel würde im Herbst dieses Jahres ausschlaggebend sein.
Mit seiner Popularität allein hatte Gerhard Schröder auch die beiden letzten Wahlen nicht gewonnen. Damals kamen wichtige andere Faktoren hinzu: 1998 die breite Aufstellung der SPD mit dem Kanzler für die Mitte, Gerhard Schröder, und Oskar Lafontaine für die an sozialer Gerechtigkeit interessierten SPD-Anhänger, 2002 dann noch einmal ein breites Bündnis mit Gewerkschaftern und Gegnern des Irak-Krieges, die sich als Multiplikatoren für die SPD geschlagen haben. Wie wichtig die Breite einer Volkspartei ist, wenn man einen hohen Anteil von Wählern erreichen will, hat Rüttgers bewiesen, der sich bewusst nicht festgelegt hat. Wie wichtig das Engagement von Multiplikatoren für SPD-Erfolge ist, zeigte jeder bisherige Wahlkampf – in meiner Erinnerung von 1969 über 1972 – dem markantesten Wahlkampf mit dem Engagement von Hunderttausenden – bis 2002.

Von wegen Richtungswahl

Am Wahlabend war gestern die Rede davon, der Wahlkampf im Herbst würde zu einer Richtungswahl. Das verstehe ich nicht. Die meisten Menschen vermögen mit Recht keine wirkliche Alternative zu erkennen: Ob nun die SPD nach Hartz IV noch Hartz V bis VII will oder die CDU zusätzlich noch Hartz VIII, das macht keinen großen Unterschied. Ob die SPD die Privatvorsorge mit der Riesterrente obligatorisch machen will oder die CDU/CSU die Privatvorsorge auf andere Weise propagiert, das ist kein großer Unterschied; beide ruinieren das Vertrauen in die gesetzliche Rente. Ob die SPD oder ob CDU und CSU zögern, eine wirklich expansive Wirtschaftspolitik zur Überwindung der Rezession zumachen – der Grad des Zögerns ist keine Alternative und nicht wahlentscheidend; es könnte sogar so kommen, dass paradoxerweise die Union anfängt, etwas für die Konjunktur zu tun. (Wenn ich sie zu beraten hätte, würde ich ihr das empfehlen, und die SPD wäre für Jahrzehnte weg vom Fenster.)
Die beiden Lager könnten sich im Umgang mit den Gewerkschaften unterscheiden. Das ist richtig. Aber Gewerkschafter, die ein Gedächtnis haben, erinnern sich daran, dass Gerhard Schröder auch vor den Wahlen 2002 völlig anders über Gewerkschaften geredet hat als unmittelbar danach.
Das wird im Ernst keine Richtungswahl, weil die Schröder-SPD sich in ihrer wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzeption leider nicht genügend von CDU/CSU und FDP unterscheidet; beide plappern ja sogar die fadenscheinigen Vorwände für Strukturreformen nach; selbst am Wahlabend konnte die SPD-Seite nicht von der Reformlüge „demographisches Problem“ lassen. Noch viel schlimmer: Indem Gerhard Schröder die SPD zwingt, den bisherigen Reformkurs fortzusetzen, bereitet er der kommenden Regierung von CDU/CSU und FDP das Bett für eine noch radikaler neoliberal geprägte Reformpolitik. Und er macht es einer künftigen SPD-Opposition unmöglich, dies glaubwürdig zu kritisieren, weil ihr entgegengehalten wird: ‚wir setzen nur konsequenter um, was ihr durch eure handwerklichen Fehler vermasselt habt’.

Die einzige verantwortliche Strategie …

…im Interesse des Landes und übrigens auch der SPD wäre gewesen, den Reformkurs mit Hinweis auf seine Erfolglosigkeit zu korrigieren und dann den Wählerinnen und Wählern 2006 eine wirkliche Alternative zu präsentieren. Die Korrektur hätte ja maßvoll sein können, es hätte ein vernünftiger Mix von angebots- und nachfrageorientierter Wirtschaftspolitik sein können. Niemand verlangt von Schröder und Müntefering, dass sie den gesamten Unsinn aufessen, den sie uns bisher zugemutet haben. Korrekturen hätten sich auf sachliche Notwendigkeiten beschränken können – zum Beispiel auf die ohnehin notwendige Vertrauensbildung für das Umlageverfahrens und die gesetzliche Rente; zum Beispiel auf die deutliche Korrektur von Hartz IV u.a. mit dem Ziel, die von Arbeitslosigkeit Betroffenen vor dem Absturz zu bewahren; zum Beispiel mit einem Programm zur Stabilisierung der „Normalarbeitsverhältnisse“ statt der jetzt geläufigen Mode, die aus der Not der Menschen geborene Tatsache, nur befristete oder Teilzeitbeschäftigungen zu finden, zum Trend zu erklären; zum Beispiel auf eine Steuerpolitik, die den Gemeinden wieder mehr Geld lässt; zum Beispiel auf die Beendigung der Privatisierungen, die die „Heuschrecken“ erst ermuntert haben, bei uns Unternehmen zu kaufen, auseinander zu nehmen und zu fleddern; zum Beispiel auf die Hinwendung zu einer undogmatischen Makropolitik, wie sie in anderen Ländern ganz selbstverständlich gemacht wird; zum Beispiel auf eine Korrektur der Erbschaftssteuerreformenabsicht mit ihrer sowohl sachlich als auch sozial unerträglichen Schlagseite.
Wenn Schröder und Müntefering eine solche Strategie fahren würden, dann hätten sie 2006 eine Chance, weil dann die Alternative zu Union und FDP klar würde und sich dafür wieder mehr Anhänger der SPD engagieren würden. Nur mit einer solchen Kurskorrektur könnte man auch klar machen, dass sich die konservativen Parteien CDU/CSU und FDP auf einem Irrweg befinden, auf einem Weg, der jetzt schon für unser Land gefährlich ist und noch gefährlicher wird, wenn man diesen Parteien unser Land vollständig überlässt. Die Kurskorrektur wäre die Voraussetzung dafür, die Union und die FDP sachlich angreifen zu können.
So hat die SPD keinerlei Chance für ein eigenes Profil. Ihre Führung beschädigt ihre Wahlkampfchance und sie zerstört heute schon die Möglichkeit zu einer glaubwürdigen Opposition gegen die schwarz-gelbe Dominanz in Bund und Ländern. Deshalb ist der von Schröder mit seiner Entscheidung beschleunigte Ruin der SPD wohl leider nicht von kurzer sondern von nachhaltiger Dauer.

Warum macht Schröder das?

Ich bin ratlos. Rational kann ich mir diesen Vorgang nur erklären, wenn ich unterstelle, dass Gerhard Schröder in die neoliberale Bewegung eingebunden ist und seit längerem deren Interesse und nicht mehr die Interessen der SPD und der Mehrheit der Bevölkerung vertritt. Hinweise, die diese Vermutung entkräften, nehme ich von Herzen gern entgegen.

(Mit Ergänzungen vom 24.5.2005)

Anhang:

Die Erklärung von Bundeskanzler Schröder, mit denen er sich am 22.5.2005 gegen 20 Uhr für Neuwahlen im Bund ausgesprochen hat:

Deutschland befindet sich in einem tief greifenden Veränderungsprozess. Es geht darum, unser Land unter den besonderen Bedingungen der Überwindung der deutschen Teilung auf die Erfordernisse des 21. Jahrhunderts auszurichten. Mit der Agenda 2010 haben wir dazu entscheidende Weichen gestellt.

Wir haben notwendige Schritte unternommen, die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu stärken. Dies sind unabdingbare Voraussetzungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in Deutschland. Erste Erfolge auf diesem Weg sind unübersehbar.

Bis sich aber die Reformen auf die konkreten Lebensverhältnisse aller Menschen in unserem Land positiv auswirken, braucht es Zeit. Vor allem aber braucht es die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für eine solche Politik. Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit in Frage gestellt.

Für die aus meiner Sicht notwendige Fortführung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen gerade jetzt für erforderlich. Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen.”