Von der Langlebigkeit guter gesellschaftlicher Regeln, so genannter social techniques

Albrecht Müller
Ein Artikel von:

Gestern traute ich meinen Ohren nicht: der Generalsekretär der SPD Heil und dann auch der Vorsitzende Beck forderten öffentlich, jedes Kind müsse dem Staat gleich viel wert sein. Daraus folgt die Forderung nach einem gleichen Kindergeld für alle oder nach einer gleichen steuerlichen Entlastung – unabhängig vom Einkommen. Die Formulierung „jedes Kind muss dem Staat gleich viel wert sein“ steht nahezu wörtlich im Steuerreformprogramm der SPD vom November 1971. Beginnen unsere Politiker zu lernen, dass gesellschaftliche Regelungen keine Eintagsfliegen sein dürfen und dass man damit nicht spielen darf? Albrecht Müller.

Auf die programmatische Forderung der SPD von 1971 folgte dann 1975 die Einführung des gleichen Kindergeldes für alle und die Abschaffung der Kindersteuerfreibeträge. Die Basis der Programmatik und des daraufhin folgenden Beschlusses der sozialliberalen Koalition von 1975 waren Erkenntnisse der Finanzwissenschaft über die Verteilungswirkung von Kindersteuerfreibeträgen einerseits und des gleichen Kindergelds andererseits. Dass die SPD jetzt entgegen der Grundlinie ihrer Modernisierer auf die gerechte und auch moderne Lösung der social techniques Kindergeld zurückkommt, ist ein Fortschritt. Ich werde im folgenden an ein paar aktuellen Beispielen sichtbar machen, wie wichtig es wäre, wenn es in unserer Gesellschaft wieder einen Konsens darüber gäbe, nach guten gesellschaftlichen Regeln des Zusammenlebens (= social technique/Ich nenne sie im folgenden etwas unpräzise „Sozialtechnik“.) Ausschau zu halten, diese dann zu nutzen und zu pflegen, statt einem orientierungslosen Modernisierungwahn zu folgen.
Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass es gut funktionierende social techniques gibt, die ein gutes wissenschaftliches Fundament haben. Man kann sich dann immer noch entgegen der Empfehlung der Wissenschaft entscheiden. Aber man sollte zumindest die wissenschaftlichen Erkenntnisse kennen, wenn man das tut. Einige der Sozialtechniken sind nach meiner Einschätzung wissenschaftlich und ethisch sogar so gut fundiert, dass sie nahezu zeitlos gelten könnten, wenn es keine anders gelagerten Einzelinteressen gäbe. Auf jeden Fall ist in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten unter dem Einfluss der neoliberalen Ideologie mehr zerschlagen worden, als unseren Gesellschaften gut tut.
Die Rückbesinnung einer Partei wie der SPD auf eine schon einmal vor über 30 Jahren beschlossene und eingeführte Sozialtechnik ist deshalb ein Signal. Das sollte zu denken geben. An den folgenden Beispielen lässt sich zeigen, dass diese eine Partei in Deutschland schon einmal einigermaßen auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnisse war. Und es lässt sich weiter zeigen, welchen negativen Einfluss die von Interessen und dann von neoliberalen Gedanken geprägten konservativen Parteien auf die bei uns eingesetzten Sozialtechniken hatten und haben:

1. Die Förderung von Kindern. Kindergeld vs. Kindersteuerfreibeträge

In der einschlägigen Literatur der Finanzwissenschaft waren die Analysen der Wirkung beider Instrumente klar: das Kindergeld entspricht der Forderung, die Kinder sollten dem Staat gleich viel wert sein. Die Kindersteuerfreibeträge haben zur Folge, dass die Kinder von Gut- und Spitzenverdienern dem Staat mehr wert sind als jene von Durchschnittsverdienern. Familien ohne Einkommen gehen bei Kindersteuerfreibeträgen ohnehin leer aus.
In der Steuerreformkommission der SPD, die unter dem Vorsitz von Erhard Eppler den Beschluss vom November 1971 vorbereitete, gab es deshalb keine ernsthaften Differenzen darüber, den Vorschlag für ein gleiches Kindergeld für alle aufzunehmen. 1975 wurde, wie erwähnt, dieser Vorschlag in der Politik umgesetzt, dann von der schwarz-gelben Koalition von Helmut Kohl nach nur acht Jahren revidiert. Außer der Rücksicht auf Einzelinteressen gab es keine Gründe für diesen Rückschritt. Beachtlich ist, dass das Bundesverfassungsgericht als Vertreter ungerechter Lösungen zu betrachten ist. Aber dessen Position hat auch etwas mit den politischen Entscheidungen zu tun. Eine klare inhaltliche und politische Position der Regierenden und der Parteien, ein klares Bekenntnis zu einem gleichen Kindergeld für alle hätte auch Eindruck in Karlsruhe gemacht. Hätte sich zum Beispiel die SPD nicht nur 1971 und 1975 sondern auch seitdem offensiv zu einer fairen und gerechten Förderung von Kindern bekannt, dann wäre auch die Meinungsbildung der Verfassungsrichter vermutlich anders gelaufen. Das Bundesverfassungsgericht ist eben auch Spiegelbild der sich artikulierenden Interessen. Leider.
Die SPD hatte im übrigen inzwischen auch faktisch ihre Linie verlassen. Sie war der Hauptmotor hinter der Einführung des Elterngeldes, einer Sozialtechnik, die bewirkt, dass 1800 € pro Kind und Monat erhält, wer gut verdient und nur 300 € pro Kind und Monat, wer nichts oder wenig verdient.
Wenn sie jetzt zur aus meiner Sicht richtigen Erkenntnis zurückkehrte, dem Staat müsse jedes Kind gleich viel wert sein, dann müsste sie auch eine Revision des Elterngeldes anvisieren.
Die konservativen Parteien sind auch heute noch weit weg von diesen Erkenntnissen

2. Externe Effekte und die Ökosteuer

Es ist wiederum eine alte Erkenntnis der ökonomischen Theorie, dass der Markt versagt, wenn es so genannte externe Effekte gibt.
Praktisches Beispiel: die Produktion der Transportleistung eines LKW verursacht Kosten nicht nur beim Produzenten der Leistung, beim Spediteur; so genannte external diseconomies belasten die Anwohner einer Ausfallstraße oder einer Autobahn, sie belasten uns alle durch Lärm und Dreck und die Klimaveränderung. Wenn solche externen Effekte einen großen Umfang erreichen, dann macht es Sinn, diese Kosten den Spediteuren anzulasten und sie so in ihre Kalkulationen einfließen zu lassen.
Ein anderes praktisches Beispiel ist die Verunreinigung der Abwässer. Auch da entstehen Kosten, die im konkreten Fall die Allgemeinheit belasten.
Diese ökonomischen Analysen der so genannten Welfare Economics fanden auch ihren Niederschlag in der schon erwähnten SPD-Steuerkommission. Im Kommissionsergebnis gab es einen eigenen Abschnitt zur Erhebung einer Abgabe auf umweltschädliche Produkte. Die Erkenntnisse fanden auch ihren Niederschlag in der praktischen Politik der siebziger Jahre: In der beschlossenen Abwasserabgabe zum Beispiel. Später fanden sich die Ideen dann in der Programmatik der Grünen und letztendlich in der Ökosteuer, wie sie von Rot-Grün beschlossen wurde.
Dass die konservativen Parteien so vehement gegen die Ökosteuer angerannt sind, zeigt nicht nur, dass sie von Umweltschutz nicht viel hielten. Es zeigt auch, dass ihre Kenntnisse von den Bedingungen einer optimalen Organisation von Marktwirtschaft nicht sonderlich ausgebildet sind. Der Markt bedarf der ökologisch motivierten Datensetzung, wenn er optimal funktionieren soll. Es ist schon eigenartig, dass genau die lautstarken Vertreter von Freiheit und Marktwirtschaft diese ökonomischen Erkenntnisse für eine sachgerechte Rahmensitzung nicht begriffen haben.

Die Kenntnis der Folgen externer Effekte war übrigens auch die Basis für Regelungen im Baurecht. Wenn man weiß und beherzigt, dass die Bautätigkeit Einzelner externe Effekte für die gesamte Nachbarschaft und zum Beispiel für eine Kommune und Region insgesamt haben, wird man auch begreifen, warum es baurechtliche Regelungen gibt. Baurecht ist eine wichtige Sozialtechnik. Diese Erkenntnis ist in Teilen unseren Landes dem Ziel geopfert worden, Baugenehmigungen zu beschleunigen. Damit haben Politiker verschiedener Couleur sich als besonders effizient und bürgernah profiliert. Wenn die Ergebnisse der Deregulierung in Beton gegossen sind, wachen vielleicht auch noch einige Politiker auf – ähnlich wie bei der staatlichen Förderung der Kinder.

3. Mackenroth-Theorem und das Umlageverfahren

Auf der Basis nationalökonomischer Erkenntnisse kommt man zu dem Schluss, dass immer die arbeitsfähige Generation für die Rentnergeneration und für die Kinder und Jugendlichen sorgen muss, unabhängig davon welches Finanzierungssystem man für die Altersvorsorge wählt. Aufgrund dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse kommt man zwangsläufig darauf, dass das Umlageverfahren das effizienteste System der Altersvorsorge darstellt. – Diese Erkenntnisse wurden verlassen. Mit massiver Meinungsmache wurde die optimale Sozialtechnik, das Umlageverfahren, der Erosion preisgegeben.
Ich weiß, dass die Gültigkeit des Mackenroth-Theorems gelegentlich infrage gestellt wird. Diese Kritik basiert jedoch auf betriebswirtschaftlichen Analysen und auf Denkfehlern oder auf extremen Annahmen, zum Beispiel über die besonders hohe Rentabilität der Anlage eines Kapitalstocks im Ausland und vorweg auch noch auf der Annahme, dass es in unserem Fall an der Sparneigung mangele. Das ist auf dem Hintergrund der Fakten – nämlich einer existierenden hohen Sparneigung – eine eher abenteuerliche Annahme.

4. Unteilbarkeiten und die Aufteilung zwischen öffentlich und privat

In der ökonomischen Theorie finden sich einschlägige Erkenntnisse darüber, dass Wettbewerb nicht funktionieren kann, wenn die Produktion eines Gutes oder einer Dienstleistung mit so genannten Unteilbarkeiten verbunden ist und die Durchschnittskosten mit steigender Produktion sinken. Das ist in der Regel bei Netzen zur Versorgung mit Wasser, Strom, Transportleistung und teilweise bei der Telekommunikation der Fall. Es macht keinen Sinn zwei oder drei Wasserleitungen in einer Gemeinde zu verlegen, damit Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern möglich ist. Die optimale Sozialtechnik ist in diesem Fall der öffentliche Betrieb, die Produktion einer Dienstleistung und eines Gutes in öffentlicher Verantwortung. Im Zuge der neoliberal betriebenen Deregulierung und Privatisierung wurde auch diese Erkenntnis über Bord geworfen. Es wurden statt dessen Hilfskonstruktionen installiert: Netzagenturen, Regulierungsbehörden und Ähnliches mehr. Da entscheiden dann beamtenähnliche Personen über so genannte Netzendgelte. Sie regulieren den Wettbewerb. Das Ergebnis soll dann besser sein als in öffentlicher Regie. Häufig entstehen statt der öffentlichen Monopole private Monopole. Die Monopolrenditen fließen dann auf private Konten. Es ist keinesfalls ausgemacht, dass diese Privatisierung und Deregulierungsergebnisse besser sind als die alte Sozialtechnik „öffentliche Regie“. In jedem Fall ist die öffentliche Regie dann, wenn sie demokratisch gut kontrolliert ist und entbürokratisiert ist, nicht schlechter. – Aber das ist wie sooft in diesen Fällen eine Frage der Optimierung und Gestaltung und so oder so nicht ideologisch zu entscheiden.

5. Wettbewerb bedarf des Schutzes

Lange Zeit war über die politischen Lager und über die ideologischen Lager hinweg klar, dass der Wettbewerb des Schutzes bedarf, weil die Marktteilnehmer immer die Tendenz haben, Oligopol- und Monopolstellungen anzustreben. Deshalb gab es auch selbstverständlich Einigkeit darüber, den Wettbewerb durch eine Kartellgesetzgebung zu schützen. Heute ist auch diese Erkenntnis ziemlich zurückgetreten. Monopole und Teilmonopole wie in der Pharmaindustrie und die Quasimonopole von Microsoft und Google werden hingenommen. Auch das ist ein Verlust der Einsicht in die wichtige Sozialtechnik Schutz des Wettbewerbs.

Die Beschreibung wichtiger Sozialtechniken, die in den letzten Jahrzehnten außer Dienst gestellt oder auch nur beschädigt worden sind, ließe sich fortsetzen. Ich erwähne noch:

  • die Einsicht in die Notwendigkeit, Macht zu kontrollieren, weil Macht dazu neigt, sich zu vermehren und sich zu verfestigen;
  • die Einsicht, dass man nicht alle Bereiche unseres menschlichen Zusammenlebens der totalen kommerziellen Regelung aussetzen kann: die Bildung und Erziehung nicht; die Bildung der öffentlichen Meinung nicht, weshalb man bei uns die Sozialtechnik wählte, die elektronischen Medien öffentlich-rechtlich zu organisieren; auch hier ist ein beachtlicher Erosionsprozess in Gang gekommen;
  • die Einsicht, dass Spekulation das Ergebnis eines Marktprozesses nachhaltig beschädigen kann; das merken wir jetzt bei den Vorgängen auf den Kapitalmärkten; neue Regeln zur besseren Kontrolle und Steuerung des Casinobetriebs wären notwendig.

Die anfangs zitierte Einsicht, dass die Idee des Kindergeldes oder eine ähnliche steuerliche Regelung vernünftig sind, ist leider noch eine Eintagsfliege. Immer noch ist die Abkehr von einigermaßen optimalen Sozialtechniken die Regel. Die Agenda 2010, Hartz I bis IV und immer neue Steuerreformen sind vom Geist der Modernisierung, der Deregulierung und Privatisierung geprägt.
Es wäre gut, die Erkenntnis, dass Modernisierung in vielen Fällen kein Fortschritt gewesen ist, sondern ein Rückschritt, würde an Boden gewinnen.
Es wäre gut, die Verantwortlichen würden erkennen, dass unter dem Banner der Modernisierung wichtige Regelungen und soziale Einrichtungen wie zum Beispiel die gesetzliche Rente einem Prozess der Zerstörung ausgesetzt worden sind.
Bei manchen wie etwa bei der Förderung von Kindern ließe sich die Fehlentscheidung leicht korrigieren. Bei anderen wie etwa bei der gesetzlichen Rente und dem Umlageverfahren ist das schwieriger. Noch schwieriger ist die Revision von Privatisierungsentscheidungen.

Sozialtechniken sind, wenn sie einigermaßen durchdacht sind, auf Dauer angelegt. Nicht auf die Ewigkeit aber auch nicht auf kurze Fristen. Das wird heute häufig übersehen. Die Politik neigt dazu, Sozialtechniken im Trial-and-error-Verfahren zu installieren und zu revidieren. Typisch dafür waren die Regelungen, die unter dem Namen Hartz I bis III eingeführt wurden: Ich-AG, PSA, Jobfloater und so weiter. Ein munteres Hin und Her. So darf man Sozialtechniken nicht verstehen.
In der SPD gab es übrigens mit Berufung auf Willy Brandt eine Debatte dieses Themas mit absurden Akzenten. Die Modernisierer in der SPD beriefen sich bei ihrem Versuch, die Agenda-Politik Gerhard Schröders zu begründen, auf Willy Brandt und zitierten immer wieder und fast schon gebetsmühlenartig eine in einer verlesenen Rede Willy Brandts vom 15.9.1992 enthaltene Passage. Ihr Wortlaut:
„Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, daß jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

Jede Zeit will eigene Antworten, das ist sicher richtig. Aber ich kannte Willy Brandt gut genug, um einschätzen zu können, dass er bei dieser Formulierung sicherlich nicht empfehlen wollte, Sozialtechniken wie das Kindergeld oder den Betrieb unserer Wasserwerke und unserer Eisenbahn oder die Verteilung von Strom immer wieder neu zu regeln, zu deregulieren und zu privatisieren auf Teufel komm raus. Mit Sicherheit wollte er auch kein Alibi dafür liefern, die sozialstaatlichen Regelungen der Bundesrepublik Deutschland, die Arbeitslosenversicherung und die Rentenversicherung zum Beispiel der Zerstörung preiszugeben.

Wenn die Modernisierer die späte Einsicht, dass das Kindergeld eine ziemlich optimale Sozialtechnik ist, zum Anlass nähmen, ihren Modernisierungswahn zu überdenken und auf jeden Fall damit aufzuhören, den armen Willy Brandt dafür in Anspruch zu nehmen, dann wäre das wirklich ein Fortschritt.

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