Persönlicher Misserfolg als Grund für die Distanz zur Demokratie?

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Unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie sind nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vor allem diejenigen, die sich als Verlierer der Reformen sehen. Statt aus diesem Befund eine Kritik an den Reformen abzuleiten, wird den „aus der Bahn Geworfenen“ „persönlicher Misserfolg“ und Distanz zur Demokratie vorgehalten. Nicht diejenigen, die gegen die Mehrheit Reformen durchgesetzt haben, sind also für die Kritik an der demokratischen Praxis verantwortlich, sondern „alarmierend“ für die Demokratie, seien diejenigen, die zu 57 % reformskeptisch sind und die zu 37% deshalb auf Distanz zum System gehen. Bewertungen der Studie legen nahe, dass die Reformopfer zum Sündenbock für die zunehmende Wahlabstinenz, für politische Resignation und für den Vertrauensverlust in die Volksparteien gemacht werden sollen. Wolfgang Lieb

In einer persönlich-mündlichen Repräsentativbefragung führte die Gesellschaft für Sozial- und Marktforschung mbH polis / sinus im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung über 2500 Interviews über „Persönliche Lebensumstände, Einstellungen zu Reformen, Potenziale der Demokratieentfremdung und Wahlverhalten“. (Quelle: www.fes.de [PDF – 252 KB])

Die Ergebnisse der Untersuchung haben wie schon andere Umfragen über die Einstellung zur Demokratie oder zur Reformpolitik in den Medien mal wieder Erstaunen bzw. Besorgnis ausgelöst. Dabei ist das Ergebnis, dass 4 von 10 Deutschen der Meinung sind, die Demokratie funktioniere „schlecht“ oder „weniger gut“ eigentlich nichts Neues. Der ARD-Deutschlandtrend vom November 2006 konstatierte sogar noch viel besorgniserregendere Ergebnisse. Insgesamt 51 Prozent der Befragten gaben damals an, mit der Demokratie in der Bundesrepublik weniger zufrieden (38 Prozent) oder gar nicht zufrieden (13 Prozent) zu sein. Und nach einer Infratest dimap Umfrage von diesem Jahr sind 52 Prozent mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, unzufrieden.

Neu an der FES-Studie ist, dass die Unzufriedenheit bestimmten Bevölkerungsgruppen zugeordnet wird. Danach beurteilen die demokratische Praxis mehrheitlich kritisch:

  • Arbeitslose 73 %
  • Anhänger von Rechtsparteien 71 %
  • Befragte aus Hartz-IV-Haushalten 63 %
  • Ostdeutsche 61 %
  • Haushaltsnetto-Einkommen unter 700 Euro 60 %
  • Anhänger der Linken 59 %
  • Nichtwähler 55 %.

Nun ist es alles andere als erstaunlich, dass gerade solche Menschen mit dem Funktionieren der Demokratie unzufrieden sind, denen es schlecht geht oder denen es in den letzten Jahren schlechter gegangen ist. Die These der Studie, dass „Armut bzw. soziale Disparität zu Demokratieverdruss“ führen, ist auch historisch nichts Neues; man denke nur an das Ende der Weimarer Republik.
Es ist halt wie bei vielen sozialwissenschaftlichen Befragungen, man bekommt die Ergebnisse, die man auch schon erahnen konnte.

Das soll keine Kritik an der Studie selbst sein. Kritisch zu bewerten sind jedoch Zungenschläge bei der Bewertung dieser Untersuchung:
Da wird der Auftraggeber der Studie Frank Karl, Leiter der Abteilung Gesellschaftspolitische Information der FES im ZDF zitiert: “Aus persönlichem Misserfolg wird Staatsferne”.
Karl betrachtet also Arbeitslose, Hartz-IV-Haushalte, Haushalte mit einem Netto-Einkommen unter 700 Euro als Menschen, die einen „persönlichen Misserfolg“ erlitten hätten. Die Unzufriedenheit mit der Demokratie wird also nicht etwa mit dem politischen Handeln in Verbindung gebracht, sondern als Ausdruck eines persönlichen Versagens gewertet.
Auch in einem Interview mit dem Deutschlandfunk [MP3] kommen unterschwellig solche Vorwürfe durch. Frank Karl sieht in der Distanz großer Teile der Bevölkerung zur Demokratie nicht etwa eine „Politiker- oder Politikverdrossenheit“ oder eine „aktuelle Verärgerung“ über „einige politische Maßnahmen und Projekte“ oder „über das eine oder andere was nun gerade geschehen ist“, sondern „alarmierend“ sei „eine gewisse Systemdistanz“. Jemand dem es schlecht geht, der distanziere sich von der Demokratie, meint Karl.

Wie schon bei der ebenfalls durch eine ebenfalls von der FES in Auftrag gegebenen Erhebung von TNS Infratest Sozialforschung vom Februar/März 2006 [PDF – 88 KB] aus der sich damals eine Debatte über die „Unterschicht“ speiste, wird hier erneut der Versuch gemacht, die Betroffenen zu stigmatisieren, statt die Gründe zu analysieren, die große Teile des „abgehängten Prekariats“ unzufrieden macht mit dem Funktionieren der Demokratie. Die Opfer der Reformpolitik werden so unter der Hand zu schlechten Demokraten abgestempelt. Nicht die Tatsache, dass sich sozial Schwächere ungerecht behandelt fühlen, ist demnach alarmierend, sondern dass sich 47 Prozent der Befragten durchaus vorstellen können, an der nächsten Bundestagswahl nicht teilzunehmen.

Nach dem Motto, was nicht sein darf, dass nicht sein kann, wird nicht etwa die Reformpolitik wird als Grund für den Niedergang der Volksparteien in Erwägung gezogen, sondern die Parteien müssten die Reformmaßnahmen einordnen in eine „größere Erzählung“ vom „Gesamtbild der Gesellschaft“.
Karl tischt also nur die seit Jahren von den „Reformern“ vertretene These wieder auf, dass die Reformen nur besser „vermittelt“ werden müssten.

Würden die Interpreten der Studie ihre eigene Untersuchung wirklich ernst nehmen, dann könnten sie dort nämlich auch nachlesen, dass die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie weniger aus einer „Systemdistanz“ sondern in viel höherem Maße damit, – wie Karl in dem DLF-Interview auch einräumt – dass der „Reformbegriff als hoffnungsmachend verbrannt“ ist. Das jeder, wenn er Reform hört, nur noch daran denkt, sein Portemonnaie gut festzuhalten.

So ist es wenig überraschend, dass die Mehrheit der Bundesbürger (57 %) reformskeptisch eingestellt ist: „35 Prozent sprechen sich für eine Reformpause aus, weitere 22 Prozent fordern gar eine Rückgängigmachung von Reformen der letzten Jahre.“ Auch dabei dürften diejenigen, die sich als Verlierer fühlen einen großen Anteil ausmachen.

Darüber kann sich eigentlich nur wundern, wer die Tatsache ignoriert, dass die überwiegende Mehrzahl der sog. „Reformen“ von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird, von den Hartz- über die Rentenreformen bis zur Bahnprivatisierung.

„Dass es sozial gerecht zugeht“, sei für die Deutschen ein konstituierender Bestandteil der Demokratie ergebe sich aus der Untersuchung. So meinen etwa 85 %, dass soziale Gerechtigkeit für sie bedeutet, dass „jeder bei einem unverschuldeten Verlust seines Arbeitsplatzes abgesichert ist“. Und gerade diesen Eindruck, dass es sozial gerecht zugeht, hat die Mehrheit von der Unterschicht bis zur Mittelschicht verloren und deshalb gehen sie auf Distanz zu einer Demokratie, der etwa 53 % der Ostdeutschen keine Problemlösungskraft mehr zutrauen.

Weil zunehmend mehr Menschen nicht nur den Eindruck haben, sondern die Erfahrung machen, dass die „Demokratie“ (genauer die Politik), die wir in Deutschland haben, ihre Probleme nicht mehr lösen kann, wenden sie sich von der Politik (und nicht von der Demokratie) ab. Es sind wiederum die Prekarisierten, die am politischen Geschehen nur noch desinteressiert sind (25 %) und noch viel mehr, nämlich 47 %, die eben nicht mehr wählen gehen wollen.

Es besteht aber nicht nur die Gefahr, dass die Verlierer der Reformpolitik als Gegner der Demokratie abgestempelt werden, sondern auch noch diejenigen, die sich politisch für die „aus der Bahn Geworfenen“ einsetzen. So sind – wen sollte das auch verwundern – unter den Gegnern der Reformen und unter denen, die die demokratische Praxis mehrheitlich kritisch einschätzen, besonders viele Anhänger der Linken.

Wenn die Studie öffentlich so transportiert werden sollte, dass die persönlich versagenden Verlierer der Gesellschaft eine Distanz zur Demokratie einnehmen, so steht zu erwarten, dass auch die Linkspartei in die undemokratische Ecke geschoben wird und nicht umgekehrt, die selbsternannten „Eliten“, die mit ihren „Reformen“ nicht nur dafür gesorgt haben, dass es sozial ungerechter zugeht sondern auch dass die Verlierer in der Gesellschaft zugenommen haben.

Politische „Reformen“ die „alternativlos“ oder „objektiv notwendig“ erklärt werden, sind eben mit dem Prinzip der Demokratie – also der Herrschaft der Mehrheit, die diese Reformen nicht will – nur schwer vereinbar.

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